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„Mein Ausweis war noch wichtiger als das ganze Blut“

Opferberatungsstellen beklagen vielfach die mangelnde Sensibilität gegenüber Menschen, die Opfer rechter Gewalt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung liegt der Fokus meist auf den Tätern, die Betroffenen werden kaum beachtet. Betroffene schildern den Beratungsstellen häufig, dass sie sich von der Polizei nicht ernst genommen fühlen oder ihnen sogar eine Mitschuld an dem Angriff unterstellt werde. In der aktuellen Studie „Opfer rechtsextremer Gewalt“ schildern Betroffene wie sie sowohl Täter als auch Polizei während und nach einem Angriff wahrnahmen und wie ihr Leben oftmals mit der Unterstützung von Opferberatungsstellen weiterging.

Von Carmen Altmeyer

Bislang konzentrierte sich die Rechtsextremismusforschung in Deutschland überwiegend auf die Lebensläufe und persönlichen Motive der Täter. Die Perspektive ihrer Opfer stand weder in der Wissenschaft noch in der Öffentlichkeit im Vordergrund, obwohl diese aufgrund der erlittenen Gewalterfahrungen besonderer Unterstützung und Aufmerksamkeit bedürfen. Die aufschlussreiche qualitative Studie „Opfer rechtsextremer Gewalt“, die Anfang dieses Jahres von Andreas Böttger, Olaf Lobermeister und Katarzyna Plachta veröffentlicht wurde, trägt nun zur Schließung dieser eklatanten Forschungslücke bei.

Intensive Interviews mit Betroffenen rechter Gewalt

Wie kommt es zu rechtsextremen Angriffen und in welcher Art und Weise reagiert die Umwelt des Betroffenen darauf? Inwiefern werden die Opfer durch die Taten beeinträchtigt und wie können sie eventuell unterstützt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung.

Die Studie legt dabei ihren Schwerpunkt erstens auf die Problematik der Opferwerdung, und zweitens auf die längerfristige Bewältigung des Erleidens rechtsextremer Gewalt. Das Forschungsteam führte zunächst 31 Interviews mit Betroffenen durch, um dann in einem zweiten Erhebungszeitraum 19 der zuvor bereits befragten Personen erneut zu interviewen. Die dadurch gewonnen Ergebnisse sind spannend, ergreifend und teilweise überraschend. Die veröffentlichte Studie ist mit zahlreichen direkten Zitaten der Betroffenen gespickt, welche das Verständnis erleichtern und neben dem wissenschaftlichen, auch einen emotionalen Zugang zum Thema ermöglichen.

Die Täter zu ignorieren oder mit ihnen zu sprechen, war nie erfolgreich

Wie die Forscherinnen und Forscher herausfanden, waren die Anlässe für die Gewalttaten der rechtsextremen Angreifer meist banale und von den Tätern selbst inszenierte Streits, die dann eskalierten. Die Täter waren den Opfern überwiegend unbekannt, sie identifizierten diese jedoch aufgrund ihrer Kleidung und ihrer verbalen Äußerungen schnell als rechtsextrem. Wenn die Opfer Glück hatten, konnten sie früh genug die Flucht ergreifen, oft war das jedoch nicht der Fall und sie wurden schwer verletzt. „Wenn du eine Chance hast wegzulaufen, dann mach‘ das ganz einfach, ja, schnell. Denke nicht an andere Sachen“, empfiehlt eines der Opfer (S.112). Die Reaktionen der Betroffenen auf die ihnen angetane Gewalt reichten von puren Schutzreaktionen über verbale und körperliche Gegenwehr bis zur Verfolgung der Täter nach der gelungenen Abwehr des Angriffs. Der Erfolg der unterschiedlichen Maßnahmen ist als sehr situationsabhängig zu sehen, allerdings hat sich das schlichte Ignorieren der Angreifer in keinem der untersuchten Fälle als erfolgreich herausgestellt. Genauso verhält es sich mit dem Versuch, mit dem bzw. den Tätern zu sprechen, um so die Gewalt zu verhindern. „Ich hab‘ sie darum gebeten, uns in Frieden zu lassen. ‚Bitte‘ habe ich gesagt“, erzählt einer der Betroffenen. Sein Flehen wurde nicht erhört.

Fehlende Hilfsbereitschaft unbeteiligter Dritter und der Polizei

Wie schon zahlreiche weitere Studien feststellten, helfen am Tatort anwesende unbeteiligte Dritte den Opfern nur äußerst selten. Dies war auch das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung. Außerdem fanden die Wissenschaftler heraus, dass mehr als die Hälfte der Betroffenen nach der Tat von negativen Erfahrungen mit der Polizei berichtete, die ihrer Ansicht nach oft gleichgültig reagierte und wenig Hilfe anbot. Der unsensible Umgang der Polizei mit Betroffenen rechter Gewalt schildert auch ein Interviewpartner, der vor jeder Hilfeleistung für ihn als Opfer zunächst nach seinen Personalien gefragt wurde: „Die komischen Leute kamen, und das erste, was sie fragten, mein Ausweis. Sind – ich habe geblutet und alles, anstatt zu versuchen mir irgendwie erste Hilfe zu leisten, dann fragen sie gleich nach Ausweis. Ja, das war noch wichtiger als das ganze Blut, was ich hatte“, berichtet ein Opfer (S.121). Interessanterweise beschrieben Betroffene mit Migrationshintergrund die Polizei insgesamt positiver als Betroffene ohne Migrationshintergrund, obwohl oder möglicherweise gerade weil sie meist schon vorher viele negative Erfahrungen mit der Polizei in unterschiedlichen Ländern gesammelt hatten.

Die Religion hilft wenig, Opferberatungsstellen dafür umso mehr

Nach dem Angriff wählten die Betroffenen sehr unterschiedliche Strategien, um mit den dadurch ausgelösten negativen Spannungen umzugehen. Manche konsumierten Alkohol oder andere Drogen und Medikamente. „Ich muss immer Tabletten nehmen. Angststörungstabletten, Schlafstörungstabletten“, so einer der Betroffenen (S.150). Viele der Opfer versuchten außerdem zu ihrem Schutz, bestimmte Orte und Personen zu meiden, und einige wenige erworben Waffen zur zukünftigen Selbstverteidigung. Insbesondere weibliche Opfer begannen nach der Tat, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren. Alle Betroffenen suchten Hilfe bei anderen Personen oder Institutionen, was laut den Wissenschaftlern besonders gut bei der Bewältigung des Erlebten hilft. Sämtliche Interviewte, die die Unterstützung spezieller Opferberatungsstellen in Anspruch genommen haben, berichteten sehr positiv über die Arbeit dieser Organisationen. Die Verarbeitung des rechtsextremistischen Übergriffs hing in den untersuchten Fällen nur wenig mit der Religion der Betroffenen zusammen, wie die Wissenschaftler herausfanden. In den Interviews spielte der Glaube trotz expliziter Nachfrage fast keine Rolle.

Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders betroffen

Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland „bevorzugtes Ziel der meisten rechtsextremistischen Gewalttäter“, so die Wissenschaftler. Für viele der in der Studie befragten Personen mit Migrationshintergrund war der rechtsextremistische Angriff nur eine von zahlreichen Gewalttaten, welche sie schon zuvor erlebt hatten. Durch die Tat wurde das Vertrauen dieser Menschen in die deutsche Gesellschaft stark eingeschränkt. Einige der Befragten sehen deswegen ihre Zukunft nicht mehr in der Bundesrepublik oder haben ein sehr negatives Bild ihres weiteren Lebens entwickelt. „Meine Zukunft ist verdorben, denn wer werde ich hier werden?“, fragt sich einer der Betroffenen (S.154). Ein anderer Interviewpartner erklärt: „Ich bleibe immer noch hier, aber es ist – wenn es ist um zu sterben, vielleicht hier. Nein, ich muss bleiben. Wenn es die Nazis sind, die mich töten (lacht), wir sind hier“ (ebd.).

Die Polizei braucht Nachhilfe

Eine ausführliche Beschäftigung mit den Opfern von rechtsextremer Gewalt hat in dieser Form noch nie zuvor stattgefunden. Die vorliegende Studie zeichnet sich durch sehr interessante Forschungsfragen und eine klare, übersichtliche Präsentation der Ergebnisse aus. Sie ist deswegen nicht nur für das wissenschaftliche Publikum, sondern auch für Mitarbeiter von Opferberatungsstellen und das soziale Umfeld von Betroffenen äußerst lesenswert! Auch Polizistinnen und Polizisten sollten sich die Ergebnisse der Studie zu Herzen nehmen, um ihren Umgang mit von rechtextremer Gewalt Betroffenen zu verbessern.

Aufgrund der geringen Fallzahlen sind die Ergebnisse der Studie nicht verallgemeinerbar. Sie geben jedoch erste interessante Anhaltspunkte und können als Inspirationsquelle für zahlreiche weitere qualitative und quantitative Forschungsprojekte in diesem Bereich dienen. Wünschenswert wäre zum Beispiel eine gesonderte Untersuchung der einzelnen Opfergruppen, um ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnisse besser verstehen zu können.

Informationen zu der Veröffentlichung:

Andreas Böttger, Olaf Lobermeister und Katarzyna Plachta: Opfer rechtsextremer Gewalt. Springer Fachmedien, Wiesbaden, 2014.

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