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Vom Pflichtbesuch in KZ-Gedenkstätten

Ausnahmeereignis: US-Präsident Obama in einer Gruppe freiwilliger Helfer in der Gedenkstätte  Buchenwald (Foto: Kulick)

Ausführlich besuchte US-Präsident Obama am 5. Juni die KZ-Gedenkstätte Buchenwald und sprach dort mit Überlebenden und Studenten. Wie aber ist es, wenn Schüler - auch ohne dass gleich ein Präsident kommt -  zum Besuch solcher Gedenkstätten verpflichtet werden? Eine neue Broschüre stellt Wege vor, solche Besuche von Ritualisierung zu befreien und eine nachhaltigere Erinnerungskultur umzusetzen.  Ein Bericht von Andrés Nader, der das Projekt leitet.   


Von Andrés Nader

Wenn es der Rechtsextremismus in die Schlagzeilen schafft, kommen Politiker in letzter Zeit zunehmend auf die Idee, Schulkinder zum Besuch von KZ-Gedenkstätten zu verpflichten. Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten empfahl Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) im Juni 2008, als die Friedrich Ebert Stiftung die Studie „Ein Blick in die Mitte“ präsentierte. Das gleiche empfahl Ende 2008 Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU) nach dem Angriff auf den Polizeichef Alois Mannichl in Passau. Es hat sich die Meinung verbreitet, der Besuch einer Gedenkstätte könne gegen Rechtsextremismus immunisieren. Die Idee, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah etwas mit dem sozialen und politischen Zustand der heutigen Gesellschaft zu tun hat, ist durchaus richtig. Dennoch ist ein Pflichtbesuch an sich kein erfolgversprechendes pädagogisches Mittel und ritualisierte Besuche und Gedenkfeiern haben nur bedingt und sehr begrenzt eine demokratisierende Wirkung. Die DDR hatte Pflichtbesuche der nationalen Mahn- und Gedenkstätten eingeführt und praktiziert; das heißt aber nicht, dass die Menschen in der DDR zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ermutigt wurden.

Bei der Entwicklung oder Stärkung von demokratischen Einstellungen aber kann eine persönliche und reflektierte Beschäftigung mit der NS-Geschichte sehr wohl eine Rolle spielen. Die oben erwähnte Studie der Friedrich Ebert Stiftung stellte fest: „[es] zeigte sich in Bezug auf die Entwicklung demokratischer Einstellungen, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erst dann als Schutzfaktor vor Rechtsextremismus wirkt, wenn die Reflexion auch eigener und familiärer Verstrickung gelingt und Scham und Trauer zugelassen werden“ (S. 459). In anderen Worten: Es ist viel mehr notwendig als ein Pflichtbesuch von KZ-Gedenkstätten, um „aus der Geschichte“ zu lernen.

Das Projekt: Lokale Geschichte sichtbar machen


Das Projekt, das in dieser Broschüre vorgestellt wird, hat sich vorgenommen, die lokale Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah sichtbar zu machen. Dazu gehört auch der Umgang mit der Geschichte der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Nachbarinnen und Nachbarn, die jüdisch, Sinti oder Roma waren. Ein solches Projekt ist keine antiquarische Beschäftigung mit Geschichte, sondern der Versuch einer ernsten Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus und der Shoah. Diese Auseinandersetzung ist nicht möglich, wenn wir nicht berücksichtigen, wie die Bonner Republik und die DDR mit der Geschichte umgegangen sind und was das für die Gegenwart bedeutet. Aus diesem Grunde findet das Projekt in einem alten und einem neuen Bundesland statt: Es sollen ein gegenseitiges Kennenlernen und auch Vergleiche ermöglicht werden; Vergleiche, die keine Gleichsetzung betreiben wollen, sondern dazu führen sollen, den Blick auf die Erinnerungskultur vor Ort zu schärfen und Diskussionen über den aktuellen Umgang mit der Geschichte anzuregen.

Im Rahmen dieses Vorhabens gibt es mehrere Lokalprojekte in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt; vier davon präsentieren sich auf den nächsten Seiten. In allen Projekten spielt lokale Geschichte eine Rolle, wird die Erinnerungskultur vor Ort thematisiert und es wird versucht, die lokale Öffentlichkeit zu erreichen. Lokale Geschichte ist hier wichtig, weil es darum geht, Geschichte als Handlungen von Menschen vor Ort zu begreifen, und nicht als Entscheidungen der „großen Politik“ weit weg vom eigenen Standort. Nur so lässt sich eine Rolle für die Zivilgesellschaft in politischen Prozessen konzipieren. In der lokalen Verankerung kann es klar werden, dass die Handlungen von vielen Menschen oder der Mangel an Reaktionen zu solchen Prozessen wie dem Nationalsozialismus maßgeblich beitragen. Eine Reflexion der Erinnerungskultur ist wichtig, weil der Zugang zu den Geschehnissen von damals durch die aktuelle politische und gesellschaftliche Kultur der Erinnerung geprägt ist und weil die gesellschaftlichen Entwicklungen um die Erinnerung in den zwei deutschen Staaten immer noch zu spüren sind. Letztlich ist es auch von Bedeutung, dass die Projekte mit ihrer Arbeit an die Öffentlichkeit treten: um das Bild der Geschichte zu ergänzen, zu korrigieren, oder neu zu hinterfragen. Und es gehört zum Projekt, dass die Teilnehmenden sich in gesellschaftliche Diskurse demokratisch einbringen.

Antisemitismus und Antiziganismus in Ost und West

Der Antisemitismus, der unter den Nazis die Vernichtung aller als „jüdisch“ gekennzeichneten Menschen anstrebte, hörte nicht einfach im Jahr 1945 auf zu existieren, bloß weil die Alliierten Deutschland besiegten. In Westdeutschland, wo der Staat sich als Nachfolgestaat von Nazi-Deutschland verstand, entwickelte sich nach und nach eine Zivilgesellschaft, in der es auch sehr heftige und öffentliche Diskussionen um den Umgang mit der NS-Vergangenheit und mit dem Antisemitismus gab. Die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma unter den Nazis wurde im Westen viel später anerkannt als die Verfolgung der Juden; in der DDR wurde das Thema noch stärker als im Westen bis zum Ende verdrängt.

Broschüre lokale Geschichte
Broschüre lokale Geschichte

In der DDR wurde der Umgang mit der Geschichte zentral kontrolliert und instrumentalisiert: Verantwortung für den Nationalsozialismus wurde im Westen verortet und der Staat präsentierte sich als die Lösung gegen Faschismus und Antisemitismus. Eine ernste, persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema blieb den meisten Menschen ›erspart‹.
beschäftigen sich jetzt die Lokalprojekte in Niedersachsen in der Regel damit, neue Zugänge zur Geschichte zu finden und setzen sich mit der ländlichen Situation, der heterogenen Bevölkerung oder der Alterung von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie Geschichtswerkstätten auseinander. In Sachsen-Anhalt sind die Projekte eher damit beschäftigt, die Geschichte der Verfolgung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma zu erforschen, aufzuzeichnen und öffentlich zu machen. Sie arbeiten daran, die lokale Öffentlichkeit für die Bedeutung der Geschichte der NS-Zeit und deren Verdrängung nach 1945 zu sensibilisieren. Bis jetzt hat das gegenseitige Kennenlernen von Lokalprojekte aus Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gezeigt, wie wenig die Initiativen über die Situation und die Erinnerungskultur in dem jeweils anderen Bundesland wissen. Ein öffentlicher Dialog, der auch dazu führt, die eigene Geschichte zu reflektieren, hat gerade angefangen.

Im Projekt geht es nicht darum, eine vereinheitlichte Erinnerungskultur zu schaffen. Es geht viel eher darum, ein Bewusstsein von der Erinnerungskultur vor Ort zu entwickeln und zu einer Analyse der Erinnerungspolitik in den zwei deutschen Staaten und im vereinten Deutschland zu gelangen. Die Menschen, die sich daran beteiligen, sind dann in der Lage, sich informiert und engagiert in die aktuellen Diskussionen um die NS-Vergangenheit, die Erinnerung an die Shoah und den aktuellen Antisemitismus einzubringen.

Kooperation

Am Projekt sind mehrere Einrichtungen in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen beteiligt, darunter das Alternative Jugendzentrum Dessau, der Arbeitskreis Stadtgeschichte in Salzgitter, das Projekt „für demokratie courage zeigen“ der Naturfreundejugend Niedersachsen, die Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg, die Geschichtswerkstatt Merseburg, die KZ-Gedenkstätte Moringen, die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, die Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt, das Netzwerk Erinnerung und Zukunft in der Region Hannover, das Niedersächsische Amt für Verfassungsschutz, der Verein Miteinander - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt, und die Werkstatt zur Entwicklung der Gedenkkultur in Dessau-Roßlau (vom K.I.E.Z. e.V.). Aus dieser Werkstatt ein Projektbericht aus Roßlau in Sachsen-Anhalt.

Unterstützung

Dieses Projekt wird finanziert im Rahmen des Programms „VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend sowie mit Unterstützung der Freudenberg Stiftung und der Ford Foundation.


OBIGER TEXT IST DER NEUEN BROSCHÜRE ENTNOMMEN:

Lokale Geschichte sichtbar machen - Einblicke in ein Projekt zu Antisemitismus, Antiziganismus und Erinnerungskulturen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, Herausgeber Amadeu Antonio Stiftung , Redaktion: Andres Nader, Berlin 2009.
Die 34-seitige Broschüre kann gegen 2 Euro für Porto und Verpackung bestellt werden bei der AAS, Stichwort Broschüre, Linienstraße 139, 10115 Berlin. Das Heft gibt es auch als:


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Hier mehr zum Obama-Besuch in Buchenwald

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / hk

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Obama unter jugendlichen Helfern