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Revision im Maisfeld

Mecklenburg-Vorpommern 1992. Im Morgengrauen werden zwei rumänische Flüchtlinge in einem Getreidefeld erschossen. Sie hätten die Menschen für Wildschweine gehalten, sagen die Jäger vor Gericht aus. Das Urteil: Freispruch. Der Film REVISION begibt sich 20 Jahre danach auf Spurensuche.

Von Ulla Scharfenberg

Am 29. Juni 1992, knapp zwei Monate bevor der rassistische Mob in Rostock-Lichtenhagen Schlagzeilen machte, entdeckt ein Bauer zwei Körper in einem Getreidefeld in Mecklenburg-Vorpommern. Ermittlungen ergeben, dass es sich bei den Toten um rumänische Staatsbürger handelt. Sie werden bei dem Versuch, die EU-Außengrenze zu überschreiten, von Jägern erschossen. Diese geben an, die Menschen mit Wildschweinen verwechselt zu haben. Vier Jahre später beginnt der Prozess. Welcher der Jäger die tödlichen Schüsse abgegeben hat, lässt sich nie beweisen. Das Urteil: Freispruch. dpa meldet: „Aus Rumänien ist niemand zur Urteilsverkündung angereist.“
  
20 Jahre später reist Regisseur Philip Scheffner nach Rumänien. Er besucht die Familien der Opfer. In den Akten fand er die Namen und Adressen von Grigore Velcu und Eudache Calderar. Ihre Familien wussten nicht, dass jemals ein Prozess stattgefunden hat. Sie hätten für das Verfahren „keine Rolle gespielt“, erklärt der zuständige Staatsanwalt.
 
Eindringlich erzählt REVISION die Geschichte, die 1992 kaum öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Scheffner unterzieht den juristisch abgeschlossenen Kriminalfall einer filmischen Revision, die Orte, Personen und Erinnerungen miteinander verknüpft und ein fragiles Geflecht aus Versionen und Perspektiven einer „europäischen Geschichte“ ergibt.

Die Angehörigen der Opfer, deren heute erwachsenen Kinder, wussten nie genau, was passiert ist und sind „schockiert, dass jemand nach 20 Jahren kommt und einen Film drehen möchte“. Geduldig und respektvoll spricht Scheffner mit den Familien, erzählt ihnen das, was sie längst hätten wissen können, wissen müssen. „Natürlich war es schockierend für sie“, erzählt der Regisseur im Interview, „weil wir ihnen Informationen gegeben haben, die auch natürlich sehr schmerzhaft waren, und auch für uns war es eine eigentlich absolut unerträgliche Situation, da hinzukommen nach 20 Jahren, da wir das ja auch nicht wussten – wir wussten ja nicht, dass sie nichts wissen sozusagen – und damit auf einmal konfrontiert zu sein, dass wir letztendlich die Arbeit der deutschen Behörden machen mussten“.


Der Tatort heute, Foto: Bernd Meiners, c
 
Eudache Calderar und Grigore Velcu sind zwei der 14.687 Menschen, die zwischen 1988 und 2009 Pressemeldungen zufolge an der Grenze der EU starben. Mit REVISION möchte Philipp Scheffner ihre Geschichte erzählen, ihre Namen nennen und das Schicksal ihrer Familien und Freunde wiedergeben. Der Film zwingt den Zuschauer zuzuhören und gibt viel Zeit, über das Gehörte nachzudenken. Das ständig wiederholte Bild des Tatortes, das Feld auf dem damals Gerste wuchs und heute Mais, füllt die Minuten des Films, in denen nicht gesprochen wird. Nur die Geräusche der Windräder brechen die Stille. Es muss nichts gesagt oder erklärt werden in diesen Momenten. In keiner Phase der 106 Minuten Laufzeit lässt REVISION ein Aufatmen zu, die Bedrückung, die das Gezeigte von Beginn an auslöst, hat den Zuschauer bis zum Ende fest im Griff und wirkt noch lange nach dem Abspann nach.
 
Gänzlich frei von Voyeurismus und Effekthascherei kommt der Film auch ohne jede Form der Skandalisierung oder gespielten Empörung aus. Die Geschichte spricht für sich. Beim Sehen schleicht sich der Gedanke ein, dass es  mehr Filme dieser Art geben müsste. Viel mehr. Für jedes der 14.687 Todesopfer einen. In dem Moment, wo aus einer Zahl ein Name wird, eine Geschichte, bröckelt die Mauer der Gleichgültigkeit, die wir so sorgsam um unsere Herzen gemauert haben.
 
REVISION

Dokumentarfilm
Deutschland 2012
Länge: 106 min.
Regie: Philip Scheffner
Buch: Merle Kröger | Philip Scheffner
Kamera: Bernd Meiners
 
Der Film startet am Donnerstag, 13. September 2012, bundesweit in den Kinos.
Mehr Informationen: www.revision-film.eu

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Foto: Bernd Meiners, c