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Verpflichtung für die Gegenwart

In seiner Ansprache in Auschwitz wirft der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, den Behörden in Deutschland vor, bei der Mordserie der „NSU“-Rechtsterroristen habe es „viel zulange ein bewusstes Wegschauen gegeben“.

Im Folgenden die Rede im Wortlaut:
 
Exzellenzen, meine sehr geehrten Damen und Herren,

an erster Stelle begrüße ich alle Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, die heute bei uns sind. Mein Dank geht an die polnische Regierung, die seit vielen Jahren mit hohen politischen Repräsentanten gemeinsam mit uns diesen Gedenkakt begeht. Ebenso danke ich den Exzellenzen und den Delegationen vieler Länder, die uns heute wie in den vergangenen Jahren die Ehre erweisen. Herzlich begrüße ich Herrn Zoni Weiss, der heute für die Überlebenden der Verfolgungen spricht. Nicht zuletzt danke ich dem Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz, Herrn Cywinski, und den Vorsitzenden der Vereinigung der Roma in Polen, Roman Kwiatkowski, die diesen Gedenktag seit vielen Jahren organisieren.

Der 2. August ist für Sinti und Roma weltweit zum Gedenktag für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas geworden. Seit dem vergangenen Jahr ist dieser Tag zum nationalen Gedenktag in Polen geworden. In Deutschland wird am 25. Oktober dieses Jahres das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma eingeweiht werden – 68 Jahre nach der Auflösung des sogenannten Zigeunerlagers in Auschwitz-Birkenau. Nur wenige Überlebende werden an der Einweihung des Denkmals in Berlin teilnehmen können und dabei sein, wenn ihr Verfolgungsschicksals endlich öffentliche Würdigung erfährt.

Vor allen Dingen aber ist das Denkmal in Berlin – und mehr noch die Gedenkstätte Auschwitz – die Mahnung an uns alle, daß Rassismus und Ausgrenzung von Menschen keinen Platz in unseren Gesellschaften haben dürfen. Es ist erschreckend, wenn wir uns die Entwicklungen der letzten Jahre vor Augen führen. Wir erleben nicht nur ein Erstarken rechtsextremer Parteien und Gruppierungen, sondern auch eine dramatische Zunahme von rassistischen Übergriffen.

Allein in Deutschland sind seit 1990 137 Menschen rechtsradikaler und rassistisch motivierter Gewalt zum Opfer gefallen. Zuletzt wurden zehn Menschen von den rechtsradikalen Verbrechern, die mitsamt ihrem nicht zu unterschätzenden Umfeld in der Tradition der SS stehen, ermordet. Bei dieser Mordserie und bei den vielen vorangegangenen Mordtaten hat es in unserer Demokratie viel zulange ein bewußtes Wegschauen gegeben.

Wir wissen heute, daß der Antisemitismus nicht so verstanden werden kann wie es die Antisemiten gerne hätten, nämlich als Reaktion auf die Emanzipation der Juden. Der Antisemitismus war immer eine Protestbewegung gegen liberale Gesellschaftsordnung und Demokratie. In gleicher Weise richtet sich der massive und gewaltbereite Rassismus gegenüber Sinti und Roma direkt gegen unsere bestehende Demokratie. Dies wurde in Deutschland und in Europa jahrelang ausgeblendet und wird heute noch unterschätzt. Die aktuelle Finanzkrise in vielen europäischen Ländern hat diesem Antiziganismus eine enorme Schubkraft verliehen, mit den oft mörderischen Folgen für die Angehörigen von Roma und Sinti.

Deshalb ist es so wichtig, die jungen Menschen für unsere demokratischen Werte und für die Menschenrechte zu gewinnen. Hier ist die Gedenkstätte Auschwitz von größter Bedeutung. Hierher kommen nicht nur die Überlebenden und ihre Angehörigen wie heute, am 2. August. Hierher sollen ebenso die Angehörigen der zweiten und der dritten Generation kommen, und hierfür müssen wir jetzt sorgen. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich Herrn Salm von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft ebenso wie Herrn Rosenthal vom Bündnis für Demokratie und Toleranz dafür, daß sie die Teilnahme von Überlebenden ebenso wie von Angehörigen der jüngeren Generation heute und in den letzten Jahren unterstützt haben.

Der 2. August 1944, an dem die letzten 2.900 in Auschwitz-Birkenau inhaftierten Sinti und Roma in die Gaskammern getrieben wurden, hat sich unauslöschlich in die Herzen und in das kollektive Gedächtnis unserer Minderheit eingebrannt. Es waren die wehrlosesten aller Opfer: vor allem Kinder, Kranke und alte Menschen, die an diesem letzten Tag der Existenz des sogenannten „Zigeunerlagers“ ermordet wurden.

Die besondere Verpflichtung, die aus der Erfahrung des Holocaust an 500.000 Sinti und Roma und sechs Millionen Juden erwächst, ist inzwischen zu einem Fundament unserer politischen Kultur und unseres europäischen Selbstverständnisses geworden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfahrung von Auschwitz verpflichtet uns für die Gegenwart. In vielen europäischen Staaten sind Sinti und Roma Opfer rassistisch movierter Gewaltakte und von Mordanschlägen geworden. Wir sind außerordentlich besorgt über die weltweite Vernetzung der rechtsradikalen Gewalttäter, die nicht nur innerhalb Europas agieren, sondern weltweit Unterstützung erhalten. Dieser Rassismus bedroht unsere Demokratie und die Werte, die nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland für ganz Europa verbindlich geworden sind.

Es ist überfällig, daß die europäischen und die internationalen Regierungen offensiv gegen diese Bedrohung vorgehen. Hier ist die deutsche Regierung gefordert, nach der Mordserie des vergangenen Jahres endlich den nationalen Gipfel gegen rechtsextreme Gewalt und Rassismus stattfinden zu lassen. Ich habe mich deshalb auch mit einem Schreiben an die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton gewandt und sie gebeten, im U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington eine internationale Konferenz zum Völkermord an den Sinti und Roma Europas und zur Verantwortung in der Gegenwart zu veranstalten. Unsere Wachsamkeit gegenüber Rassismus und rechtsextremen Ideologien darf nicht nachlassen.

Ich danke Ihnen allen, die heute hierher gekommen sind.

www.zentralrat.sinitundroma.de

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Romani Rose, Foto: Zentralrat der Sinti und ROma, c