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„Trauermärsche“ ohne Ende


Der rechtsextreme Opferkult geht nach den „Trauermärschen“ in Magdeburg, Dresden und Cottbus in eine neue Runde. Heute vor 65 Jahren wurde Chemnitz bombardiert, und erneut nehmen Neonazis einen Jahrestag zum Anlass, um Geschichtsrevisionismus zu verbreiten und den Holocaust zu relativieren. Und es geht noch weiter: in Sassnitz, Dessau, Lübeck…


Wenn sich am Jahrestag der Bombardierung Chemnitz’, dem 5. März, ab 17 Uhr die Neonazis am örtlichen Busbahnhof für die angemeldete NPD-Demonstration versammeln, dann könnte man meinen ein Déjà-vu zu erleben. Wie schon am 16.1. in Magdeburg, am 13.2. in Dresden und am 15.2. in Cottbus versuchen Nazis ihren Mythos vom „Bombenholocaust“ stark zu machen, indem sie durch eine einst bombardierte Stadt marschieren. Doch damit nicht genug. Schon am 6. März soll der neonazistische Trauermarathon im beschaulichen Sassnitz auf der Insel Rügen weitergehen. Auch dort tritt die NPD als Veranstalter auf, diesmal für einen Fackelzug, zu dem etwa 150 bis 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ab 18 Uhr am Bahnhof erwartet werden. Und als ob dies nicht schon genug wäre, findet eine Woche später, am 13.3., in Dessau eine Veranstaltung gleichen Charakters statt, zu der etwa 300 Demonstrantinnen und Demonstranten um 12 Uhr am örtlichen Hauptbahnhof erwartet werden. Vorerst komplettiert werden soll die Tränen-Tour der Neonazis schließlich am 27.3. in Lübeck, wo sie aus gleichem Anlass und vor allem mit gleicher Motivation demonstrieren wollen – der Relativierung der Leiden der Nazi-Opfer einerseits und der deutschen Schuld andererseits.

Warum „Trauermärsche“ so traurig sind…


Natürlich könnte man einwenden, dass es auch auf deutscher Seite zu unschuldigen Opfern gekommen ist. Wie kann man beispielsweise ein zu Tode gekommenes Kleinkind anders bezeichnen, als unschuldig? Jedoch: es war Krieg. Und das nicht ohne Grund. Es waren nicht die Alliierten, die den Krieg gesucht haben. Im Gegenteil, trotz der mehrfachen Verletzung des Völkerrechts durch Nazideutschland, etwa durch die Aufrüstung, den Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland, den Anschluss Österreichs und die Annexion des Sudetenlandes und wenig später der Überreste Tschechiens, waren die späteren Alliierten bestrebt den Frieden zu wahren. Der Preis für die Appeasement-Politik war hoch. Die schmerzlichen Folgen der zunehmenden Radikalisierung der NS-Politik sind jedem und jeder bekannt. Wie kann man bei einem so ersichtlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung noch allen Ernstes den Alliierten die Schuld für deutsche Opfer in die Schuhe schieben? War es nicht Goebbels selbst, der am 18. Februar 1943 – lange vor den verheerendsten Bombardements deutscher Städte – im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg“ verkündete und damit, unter dem Jubel der Anwesenden, die gesamte Zivilbevölkerung in die Kriegsanstrengungen einbezog? Ganz zu schweigen vom zynischen Irrsinn, durch den Begriff „Bombenholocaust“ die systematische und industrielle Vernichtung vor allem von Jüdinnen und Juden mit deutschen Kriegsopfern gleichzusetzen.
Es ist nicht zu leugnen, dass das Wirken der Alliierten letztlich zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führten, und darum ist es so unerträglich, wenn diese in die gleiche Riege gestellt werden wie jene, die die den millionenfachen Mord unschuldiger Menschen zu verantworten haben. Die Relativierung der deutschen Schuld und der Leiden der Nazi-Opfer dürfen nicht gesellschaftsfähig werden!

Déjà-vu in Chemnitz?


Dass die Neonazis erneut marschieren mag ein Déjà-vu-Erlebnis sein – dass sich ein Erfolg wie in Dresden wiederholt, wo der „Trauermarsch“ der Neonazis von engagierten Gegnerinnen und Gegnern sogar erfolgreich blockiert werden konnte, mag vielleicht ein anderes Déjà-vu-Erlebnis werden. Jedenfalls hat sich schon im Vorfeld vielfältiger Widerstand abgezeichnet. So hat beispielsweise das parteiübergreifende „Bündnis für Frieden und Toleranz“ zu einer Kundgebung aufgerufen, zu der bis zu zweitausend Personen erwartet werden. Und auch eine Antifa-Demo ab 16 Uhr soll den Unbelehrbaren unmissverständlich klarmachen, dass sie auch in Chemnitz unerwünscht sind. Aufgrund mehrerer genehmigter Veranstaltungen wird die Innenstadt auf jeden Fall für Neonazis unzugänglich sein, und da sie in den vergangenen Jahren nie mehr als dreihundert Demonstrantinnen und Demonstranten mobilisieren konnten, könnte auch der heutige Tag zu einem frustrierenden Erlebnis werden. Es gebe jedenfalls „keinerlei Anzeichen, dass der Aufmarsch in Chemnitz eine Art Ersatz für den 13. Februar in Dresden werden könnte“ , so zumindest der Verfassungsschutz zur Lausitzer Rundschau.

Leider keine Entwarnung…

Die Aussicht auf einen erfolgreichen Tag gegen Rechts ist also nicht ganz schlecht. Dennoch bleibt abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt. Die jüngsten Erfahrungen in Dresden und Cottbus zeigen, dass genervte Neonazis sich ein Ventil für ihren Frust suchen und auf andere Orte ausweichen und/oder gewaltsam werden. Es muss also damit gerechnet werden, dass ähnliches wieder geschieht. Vorsicht und Wachsamkeit sind also geboten!
Außerdem stehen ja noch weitere Nazi-Demonstrationen an, auf denen ebenfalls deutlich werden muss, dass für Nazis kein Platz ist – an keinem Ort und zu keiner Zeit. Darum hat der Sassnitzer Bürgermeister Holtz die Bürgerinnen und Bürger der Stadt aufgefordert am morgigen Tag zwischen 18 und 20 Uhr eine Kerze in jedes Fenster zu stellen, um so ihren Protest gegen den Nazi-Aufmarsch zu bekunden. Zudem soll zeitgleich auf dem Rügenplatz eine große Friedensandacht beginnen, zu der sich die Fraktionen der Sassnitzer Stadtvertretung, Vereine, die Kirchen und Vertreter der Wirtschaft bereits angekündigt haben. Selbst in diesem beschaulichen Ort mit gerade einmal 10.500 Einwohnerinnen und Einwohnern sind also zivilgesellschaftliche Gegenveranstaltungen geplant. Nun liegt es also an den Bürgerinnen und Bürgern Farbe zu bekennen und den Nazis die kalte Schulter zu zeigen!

Von Thomas Olschewsky
Foto: Marek Peters, c

Dresden im Februar 2010