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Folgenreiche Polizeipannen im Halberstadt-Prozess

Am 4.12. ging der Prozess gegen vier mutmaßliche Angreifer auf ein Theaterensemble in Halberstadt weiter. Das Verfahren ist ausgesprochen lehrreich über Verteidigungsstrategien der rechten Szene - und über grobe Versäumnisse der Polizei. Nach bisher neun Prozesstagen wurden am 5.12. von den Verteidigern Anträge auf Aufhebung der Haftbefehle gestellt. Die vier mutmaßlichen Angreifer werden vorerst aus der Untersuchungshaft entlassen.

Ein kontinuierlich ergänzter Beitrag der Mobilen Opferberatung Magdeburg

Seit dem 9. Oktober 2007 wird vor dem Amtsgericht Halberstadt, in den Räumen des Landgerichts Magdeburg, gegen vier rechte Schläger verhandelt. Ihnen wird vorgeworfen maßgeblich am brutalen Angriff auf ein Theaterensemble in Halberstadt am 9. Juni dieses Jahres beteiligt gewesen zu sein. Das 14-köpfige Theaterensemble wurde nachts nach der Premiere ihres in Thale aufgeführten Stückes "Rocky Horror Show" in Halberstadt angegriffen. Dabei wurden fünf männliche Mitglieder des Ensembles durch Faustschläge und Fußtritte so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Der bisherige Gerichtsprozess offenbarte gravierende Fehler der am Tatort eingesetzten Polizeibeamten. Sie sind durch ihr Fehlverhalten in entscheidendem Maße mitverantwortlich für die schlechte Sachlage zu Beginn des Prozesses. Alle Betroffenen schilderten in ihren Aussagen vor Gericht übereinstimmend, dass die per Telefon verständigte Polizei mit viel zu wenig Beamten vor Ort war und zu spät ins Geschehen einschritt. Trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Betroffenen wurden die Täter von der Polizei viel zu spät verfolgt und konnten dadurch fliehen. Auf die Bitte der ZeugInnen mit im Polizeiauto fahren zu können um nach den Tätern Ausschau zu halten, reagierten die Beamten nicht. "Wir haben uns alleine gelassen gefühlt", sagte eine Betroffene dazu in ihrer Aussage vor Gericht.

Richtungsweisend für den Verlauf der Verhandlung war der Eröffnungsbeschluss von Amtsrichter Holger Selig. Er sah entgegen der Anklage der Staatsanwaltschaft keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen gemeinsamen Tatplan bzw. ein arbeitsteiliges Vorgehen der Täter. Aufgrund seiner Einschätzung kommt eine Verurteilung wegen Mittäterschaft nicht in Frage. "Wenn Richter Selig bei dieser Auffassung bleibt, wird das fatale Auswirkungen für den Ausgang des Prozesses haben. Allen vier Angeklagten müssen einzelne Tatbeiträge zugeordnet werden, was die Betroffenen aber nicht können, weil der Angriff so schnell verlaufen ist.", so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt.

Doch nicht nur beim Einsatz der Polizeibeamten am Tatort, sondern auch bei den weiteren polizeilichen Ermittlungen zeigen sich im bisherigen Gerichtsprozess gravierende Fehler. Bei der polizeilichen Vernehmung einer Betroffenen weigerte sich die Vernehmungsbeamtin mit den Worten: "Das hat eh keinen Zweck, das muss jetzt nicht aufgeschrieben werden.", dass von ihr ausführlich geschilderte polizeiliche Fehlverhalten zu protokollieren. Die Lichtbildvorlage durch die Vernehmungsbeamtin wurde außerdem mit den Worten: "Eigentlich hat es keinen Sinn, eigentlich kriegen wir die eh nicht." kommentiert. Die Betroffene, die von einem der Angreifer angespuckt worden war, wurde auch nicht darüber informiert sich für eine DNA-Probe nicht zu duschen. Hierdurch wurde die Probe unmöglich gemacht. Eine weitere Betroffene gab in ihrer Aussage an: "Mir wurde nicht der Eindruck vermittelt das dieses Polizeiprotokoll so wichtig ist." Diese Einschätzung wurde von zwei weiteren Betroffenen vor Gericht in Bezug auf ihre eigenen polizeilichen Vernehmungen bestätigt.

''Blinder Aktionismus''

"Die polizeilichen Pannen versucht die Staatsanwaltschaft durch blinden Aktionismus auszugleichen", so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt. Zum Zeitpunkt der Anklageerhebung waren einige Betroffene noch nicht polizeilich vernommen. Ermittlungen, die weitere Zeugen ausfindig gemacht hätten, waren noch nicht abgeschlossen. Die RechtsanwältInnen der Nebenklage, die im Verfahren die Betroffenen des brutalen und rechtsmotivierten Angriffs vertreten, stellten am vergangenen Verhandlungstag, den 04. Dezember neue Beweisanträge. Sie beantragten u.a. einen Kassiber des Angeklagten Christian W. aus der Untersuchungshaft an seine Frau Jessica W. im Prozess verlesen zu lassen. In dem Brief fordert er sie auf "noch Zeugen zu besorgen", die ihn wahrheitswidrig entlasten und aussagen, dass die Theatergruppe den Angriff begonnen und er sich nur gewehrt habe. Der Angeklagte bat seine Frau die Namen der Zeugen an seinen Rechtsanwalt zu geben, damit der diese Personen vor dem Gericht als Zeuge benennen könne.

"Für die Betroffenen ist dieser Prozess eine Zumutung", so ein Sprecher der Mobilen Opferberatung. "Sie wurden stundenlang und zum Teil auf unverschämte Art und Weise von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu den brutalen Details des rechtsmotivierten Angriffs befragt, so dass immer wieder der Eindruck entstand sie und nicht die Ermittlungsbehörden wären für die Pannen im Prozess verantwortlich. Mit der nunmehr erfolgten Haftentlassung wird ihnen außerdem zugemutet den vier Angeklagten in Halberstadt wieder zu begegnen."

Als letzter Verhandlungstermin für 2007 ist der 19. Dezember um 9:15 Uhr am Landgericht Magdeburg, Halberstädter Straße 8, Saal 5 angesetzt. Der Prozess wird voraussichtlich bis April 2008 andauern.

Die vorhergehenden Termine


Am 28.11. hatten zwei weitere unmittelbare Tatzeugen zum Angriff ausgesagt. Sie waren als Mitglieder des Theaterensembles an jenem Abend mit ihren KollegInnen unterwegs, wurden jedoch selbst nicht angegriffen. Am Prozesstag zuvor, dem 20.11. hatte die letzte der Betroffenen im Prozess ausgesagt. Sie machte deutlich, dass von einer Provokation seitens der TheaterschauspielerInnen in Richtung der späteren Täter nicht die Rede sein könne. In einer Einlassung am ersten Prozesstag hatte dies der Angeklagte Christian W. behauptet. Er gab an sich durch eine Äußerung seitens der Betroffenen provoziert gefühlt und deshalb zugeschlagen zu habe.

Die Betroffene schilderte am vergangenen Prozesstag jedoch eindrücklich, dass ihre Bemerkung von einer Bedrohungssituation seitens der späteren Täter ablenken sollte und dass darauf keine unmittelbare Reaktion der Neonazis erfolgte. Bereits zuvor hatten Betroffene im Prozess ausgesagt, dass etwa 10 Täter, die aus verschiedenen Richtungen zum Tatort hinzukamen und dem Äußeren nach der rechten Szene zuzuordnen waren, wie auf Kommando auf das Theaterensemble einschlugen. "Diese Schilderungen widersprechen sowohl der Behauptung des Angeklagten Christian W. provoziert worden zu sein, als auch der Auffassung des Vorsitzenden, Amtsrichter Holger Selig, der in seinem Eröffnungsbeschluss bekannt gab, dass er laut Aktenlage nicht von einem gemeinsamen Tatplan, bzw. Tatentschluss ausgehe uns deswegen keine Verurteilung wegen Mittäterschaft in Frage kommt." so ein Sprecher der Mobilen Opferberatung. Dadurch müssen allen Angeklagten konkrete Tatbeiträge zugeordnet werden. "Dass dies für die Betroffenen nicht möglich ist, hätte Richter Selig ebenfalls der Aktenlage entnehmen können."

Rückblick: Was war geschehen?

Das 14-köpfige Theaterensemble wurde in den frühen Morgenstunden nach der Premiere ihres in Thale aufgeführten Stückes "Rocky Horror Show" in Halberstadt angegriffen. Dabei wurden fünf männliche Mitglieder des Theaterensembles durch Faustschläge und Fußtritte so schwer verletzt, dass sie sich ambulant oder stationär im Krankenhaus behandeln lassen mussten. Die vier Angeklagten im Alter von 22 bis 29 Jahren sind einschlägig vorbestraft. Drei von ihnen standen zur Tatzeit unter laufender Bewährung. Mehrere Täter hätten bereits am Boden liegenden Opfern mit Fäusten ins Gesicht geschlagen und sie mit Füßen getreten, schilderte am 20.11. eine Schauspielerin aus dem Ensemble. „Diese Brutalität habe ich mein Leben lang noch nicht gesehen“, sagte die Sängerin unter Tränen. „Meine Kollegen hätten tot sein können“. Sie selbst sei nicht ernsthaft verletzt worden. Einer der Angreifer hätte sie angespuckt. Das 26 Jahre alte Ensemblemitglied beklagte das mangelnde Interesse der alarmierten Polizei-Beamten an dem Vorfall im Juni. „Wir waren voller Mut, dass die Täter in kurzer Zeit geschnappt würden, aber die Beamten wollten gar nicht wissen, was passiert ist“, sagte die Opernsängerin.


Schwieriger Auftakt

Zur Prozesseröffnung hatte der zuständige Amtsrichter Selig mit seinem Eröffnungsbeschluss für eine unangenehme Überraschung gesorgt. Entgegen der Anklage der Staatsanwaltschaft sah er keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen gemeinsamen Tatplan bzw. ein arbeitsteiliges Vorgehen der Täter und ließ die Anklage nicht wegen mittäterschaftlicher Körperverletzung zu. "Der Eröffnungsbeschluss des Richters wird im Laufe des Prozesses immer unhaltbarer", urteilt die Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt. "Alle Betroffenen, die bisher im Prozess ausgesagt haben, gaben übereinstimmend an, dass etwa 10 Täter am Angriff beteiligt gewesen waren. Zum Teil wurde zu zweit und zu dritt auf die Angegriffenen eingeschlagen und eingetreten. Einige der Betroffenen sprachen im Prozess davon, dass die Angreifer wie auf Kommando auf das Theaterensemble losgingen. Hier muss Richter Selig klarstellen, was noch für eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung erforderlich ist."

Deutlich wurde im bisherigen Prozessverlauf, welche schwerwiegenden Folgen der rechtsmotivierte Angriff für die Betroffenen bis heute hat. "Auf einmal bin ich irgendwo aufgewacht, wo ich mich nicht erinnern kann, wie ich dahin gekommen bin", so ein Betroffener, der im Zuge massiver Gewalteinwirkung bewusstlos wurde. Auf Grund zweier Schläge neben die Wirbelsäule ging er zunächst zu Boden. Dann wurde mit Springerstiefeln auf ihn eingetreten, schließlich verlor er das Bewusstsein. Der Betroffene leidet jetzt noch, etwa vier Monate nach dem brutalen Angriff, unter starken Rückenproblemen. Er befindet sich bis heute in ärztlicher Behandlung.

Trotz der eindrücklichen und konstanten Schilderungen der Betroffenen wird ihre Glaubwürdigkeit im Prozess immer wieder von den Verteidigern der Angeklagten, aber auch von Seiten der Staatsanwaltschaft, in Frage gestellt. Den Betroffenen wird unterstellt selbst den brutalen Angriff provoziert zu haben. Der Angeklagte Christian W. ließ am ersten Prozesstag über seinen Anwalt eine Einlassung verlesen, in der er zugab am Angriff beteiligt gewesen zu sein und sowohl zugeschlagen, als auch zugetreten zu haben. Außerdem gab er an, dass die drei anderen Angeklagten zur Gruppe der Angreifer gehörten. In seiner Erklärung war davon die Rede, dass es sich um eine "Auseinandersetzung" gehandelt habe, der keine rechte Tatmotivation zu Grunde liege. Er habe sich von der Frage einer Betroffenen "Was guckst du so? Bist du schwul oder was?" provoziert gefühlt und zugeschlagen.


"Keine Provokation"

"Die Aussagen der bisher im Prozess vernommenen Betroffenen machen deutlich, das es sich nicht um eine Provokation gehandelt haben kann, die den brutalen Angriff ausgelöst hat", kommentiert die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt. "Die vermeintliche Provokation wurde aus einer Gruppe von drei Personen geäußert, die den späteren Opfern voraus liefen und von denen selbst niemand angegriffen wurde. Es ist schlicht unvorstellbar, wie die Frage einer Betroffenen an einen der späteren Täter zu einem solch brutalen Angriff führt, in dem etwa 10 Täter, die alle dem Äußeren nach der rechten Szene zugehören und die aus verschiedenen Richtungen zum Tatort hinzukommen, zu zweit und zu dritt auf das Theaterensemble einschlagen."

"Die Ursache des Überfalls ist keinesfalls in der Äußerung einer Betroffenen, sondern im rechten Weltbild der Täter zu suchen", so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt weiter. "Die Betroffenen wurden Ziel des Angriffs, weil sie nicht rechts sind und zufällig den Angeklagten und ihren Mittätern über den Weg liefen. Diese Einschätzung deckt sich mit unserer langjährigen Erfahrung in der Beratung und Unterstützung von Opfern rechter Gewalt. Mehr als zwei Drittel aller rechten Angriffe in Sachsen-Anhalt richten sich gegen Nicht-Rechte, Alternative, Punks, und vermeintliche politische Gegner. In den ersten drei Quartalen von 2007 zählte die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt bereits 99 rechtsmotivierte Angriffe."


Ein ähnlicher Überfall im November: (ddp-meldung vom 26.11.2007 >klick):

"Angriff auf jungen Mann in Halberstadt angeblich nicht politisch motiviert

Halberstadt. Der Angriff auf einen jungen Mann in Halberstadt in der Nacht zu Sonntag war nicht politisch motiviert. Die Ermittlungen hätten keine Hinweise auf eine rassistische oder politisch motivierte Tat ergeben, sagte ein heute auf ddp-Anfrage. Der Beschuldigte habe ausgesagt, zum Tatzeitpunkt zu alkoholisiert gewesen zu sein, um sich an die Tat erinnern zu können.

Dem 24-jährigen Opfer war in der Nacht zu Sonntag von einem 19-Jährigen auf offener Straße unvermittelt ins Gesicht geschlagen worden. Dabei wurde ihm das Nasenbein gebrochen. Der Angreifer und seine drei Begleiter waren später von der Polizei vorübergehend festgenommen worden. Da alle der rechten Szene angehören, war ein politisch motivierter Angriff zunächst nicht ausgeschlossen worden. Gegen den 19-Jährigen wird wegen Körperverletzung ermittelt."


Mehr unter: www.mobile-opferberatung.de

LESEN SIE AUCH: Polizeipannen in Sachsen-Anhalt (MUT 5.12.2007): >klick
Wie Sachsen-Anhalts Landeskriminalamt die Statistik rechter Gewalt geschönt hat: taz 28.11.>klick
Wie es in Gardelegen (ebenfalls Sachsen-Anhalt) zu einem weiteren Überfall von Neonazis auf eine Gruppe Jugendlicher kam ad-hoc-news.de 18.11. >klick

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de

letzte aktualisierung: 05.12.2007/hk

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Justitia Statue