Sie sind hier

Klare Fakten – schön wär's!

Wenn über Angriffe auf Geflüchtete oder Brandanschläge auf ihre Unterkünfte berichtet wird, fehlt es häufig an zuverlässigen und aktuellen Informationen. Das Bundeskriminalamt (BKA) gibt ihre nur auf Anfrage von Abgeordneten und mit einigen Monaten Verzögerung der Öffentlichkeit preis – ähnlich verhält es sich mit den Landeskriminalämtern (LKAs). Um eine bessere und zeitnahe Einschätzung der flüchtlingsfeindlichen Gewalt zu ermöglichen, werden seit 2014 von der Amadeu Antonio Stiftung Fälle dokumentiert und in der „Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle“ fortlaufend online zur Verfügung stellt. Die Arbeit an der Chronik zeigt immer wieder Grenzen auf. Ein Beispiel.

Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle

Die Datengrundlage der „Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle“ setzt sich aus öffentlich zugänglichen Berichten in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen der Polizei und anderer Ermittlungsbehörden sowie Meldungen lokaler und regionaler Register- und Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zusammen. Aufgrund der Vielzahl der Übergriffe und durch die derzeitige Informationspolitik der Ermittlungsbehörden ist es schwierig Vorfälle einzeln nachzuprüfen. Dies betrifft insbesondere solche, die erst durch die Antworten auf Kleine Anfragen bekannt werden. Erkenntnisse des BKAs, auf die sich die Bundesregierung in ihren Antworten beruft, liegen erst mit monatelanger Verspätung vor. Weiterführende Details zu den einzelnen Vorfällen werden meist nicht mitgenannt. Bislang sind für das laufende Jahr bereits 1130 flüchtlingsfeindliche Vorfälle in der Chronik aufgenommen worden.

Beispiel Bielefeld

In einem Artikel der Neuen Westfälischen vom 28.10.2016 kritisiert Ansgar Mönter die “Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle”. Darin heißt es, die Amadeu Antonio Stiftung liege bei den dokumentierten Vorfällen für Bielefeld “komplett daneben”. Der Journalist hatte sich die fünf Fälle für Bielefeld näher angesehen, die in der Chronik aufgelistet wurden. Im Zuge seiner Recherchen hatte er im Vorfeld des Artikels Kontakt mit der Stiftung aufgenommen. Wir haben dabei unseren Dank für seine Recherche und Hinweise zum Ausdruck gebracht. Sein Fazit jedoch können wir nicht teilen.

Von den fünf dokumentierten Fällen in Bielefeld hätte einer der Vorfälle dem nahe gelegenen Paderborn zugeordnet werden müssen. Ein Fall von Brandstiftung ist bis heute ungeklärt und wird 2017 als Verdachtsfall gelistet werden. Die anderen drei Ereignisse bleiben auf Grundlage der vorhandenen Informationen in der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle für Bielefeld gelistet, wobei zwei dieser Fälle in der öffentlichen Statistik des BKA fehlen werden, obwohl es deutliche Hinweise auf ein flüchtlingsfeindliches Tatmotiv gibt. Im Einzelnen ging es dabei um folgende Fälle:

„Frustabbau aufgrund privater Probleme“ am 14.11.2015

Fünf junge Männer im Alter von 19 bis 22 Jahren hatten in der Nacht zum Samstag, den 14. November, an einer Asylunterkunft an der Paderborner Straße in Bielefeld randaliert. Sie warfen unter anderem mit einem Blumenkübel die Scheibe einer Haustür ein und zündeten Böller vor dem Gebäude. Später randalierten sie an einer weiteren Unterkunft für Geflüchtete. Die Polizei geht nicht von rassistisch motivierten Taten aus. Stattdessen hätten die Taten "offensichtlich dem Zweck des Frustabbaus aufgrund privater Probleme gedient", so die Polizei. In der Neuen Westfälischen heißt es, dieser Eintrag sei “versehentlich” doppelt in die “Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle” aufgenommen worden.

Das stimmt nicht. Die Amadeu Antonio Stiftung wies auf Anfrage auch darauf hin, dass bewusst beide Vorfälle separat und mit zwei Einträgen in die Chronik aufgenommen wurden, da es sich um zwei Vorfälle an zwei unterschiedlichen Asylunterkünften handelte. Dabei orientiert sich die Stiftung am Vorgehen des BKA, welches die Grundlage für die offizielle Erfassung rechter Übergriffe auf Geflüchtete liefert. Auch das BKA listet jeden Vorfall einzeln auf, selbst wenn es sich um dieselben Täter, dasselbe Datum und zwei benachbarte Asylunterkünfte handelt. Die Einschätzung der Polizei (“Frustabbau aufgrund privater Probleme“) war bereits in einem der beiden Chronik-Einträge zitiert. In diesem Eintrag wurde auch auf den anderen Vorfall verlinkt. Die Polizeieinschätzung im zweiten Chronik-Eintrag wurde nun noch ergänzt.

Dieser Fall veranschaulicht sehr gut ein völlig anders gelagertes Problem: Die Einschätzung des Tatmotivs obliegt den zuständigen Beamten, die den Fall aufnehmen. Was allerdings ist davon zu halten, dass diese Fälle offiziell nicht als Taten eingestuft wurden, die sich gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte richteten? Die dazugehörige Pressemitteilung der Polizei titelte sogar „Polizei kann Sachbeschädigungen an zwei kommunalen Flüchtlingsunterkünften schnell klären“. Angesichts dieser Informationslage ist Skepsis an der polizeilichen Darstellung des vermeintlichen Tatmotivs geboten, da sich besagter „Frustabbau“ auf zwei Asylunterkünfte beschränkte. Die Amadeu Antonio Stiftung hat wiederholt auf das Problem aufmerksam gemacht, dass ähnlich fragwürdige Einschätzungen dazu führen, dass Angriffe nirgends in Statistiken zu flüchtlingsfeindlichen Vorfällen gelistet werden, obwohl es deutliche Hinweise darauf gibt, dass sie sich gegen Flüchtlinge oder Flüchtlingsunterkünfte wenden.

Drucksache 18/8379 - Vorfall-Nr.20: Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen am 04.01.2016

Grundlage vieler Chronik-Einträge sind Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen von Bundestagsabgeordneten. So auch der Eintrag zum 4. Januar 2016, wo in der Drucksache 18/8379 für Bielefeld das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ aufgeführt wird. Der Vorfall-Nr. 20 wurde von der Bundesregierung als einer der ihr bekannten Übergriffe auflistet, die sich gegen Asylsuchende und ihre Unterkünfte richteten. Demnach ordnete die zuständige Ermittlungsbehörde diesen Vorfall als “politisch motivierte Kriminalität – rechts” ein (siehe Seite 5, Vorfall-Nr. 20: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/083/1808379.pdf).

In der Neuen Westfälischen heißt es hierzu, dass Geflüchtete „in diesem Zusammenhang nicht erwähnt” würden. Der Vorfall wurde in der Chronik mit aufgeführt, da er durch die Bundesregierung und auf Grundlage der Informationen des BKA als Vorfall qualifiziert wurde, der sich gegen Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte richtete. Wir teilen jedoch das Interesse, mehr zu den Hintergründen dieser Einordnung zu erfahren. Es wäre prinzipiell sinnvoll durch das BKA Informationen zu erhalten, die ein besseres Verständnis der Öffentlichkeit von solchen Ereignissen ermöglichen. Auch erschwert die Verkürzung auf den Tatbestand den Abgleich mit bereits dokumentierten Vorfällen enorm.

Tätlicher Übergriff am 25.01.2016

“Zwei 16-jährige Asylsuchende standen gegen 22:00 Uhr vor einem Hotel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tauchten drei junge Männer auf. Sie gingen auf die Asylsuchenden zu und sprachen sie auf Englisch an. Unvermittelt griff einer der Männer die Jugendlichen laut Polizei mit einem "Reizstoffspray" an. Die beiden konnten sich in die Lobby des Hotels flüchten und wurden später im Krankenhaus ambulant versorgt. Die Angreifer flüchteten unerkannt.”

Quelle für diesen Chronik-Eintrag war eine Pressemitteilung der Polizei Bielefeld, weswegen der Vorfall zunächst versehentlich für Bielefeld vermerkt wurde. Tatsächlich ereignete sich der Übergriff im nahegelegenen Paderborn, wie es auch in der polizeilichen Pressemitteilung korrekt vermerkt war. Wir haben den Eintrag zu diesem Vorfall nach Rücksprache mit der Neuen Westfälischen korrigiert.

Brandstiftung mit unbekanntem Tatmotiv am 20.04.2016

“In einer Asylunterkunft in Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) ist in der Nacht zum Mittwoch ein Feuer ausgebrochen. Wie die Polizei mitteilte, sei gegen 4 Uhr morgens der Brandmelder im Waschkeller des Hauses angesprungen. Auslöser waren glimmende Kleidungsstücke, die in einem Spind lagen. Ein Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), welches das Heim leitet, konnte noch vor dem Eintreffen der Feuerwehr das Feuer löschen. Da der Schmorbrand nur absichtlich gelegt werden konnte, geht die Polizei derzeit von einer vorsätzlichen Sachbeschädigung aus und kann ein fremdenfeindliches Motiv nicht ausschließen.”

Dieser Pressebericht der Zeitung “Neues Deutschland“ lag dem Eintrag in der Chronik zugrunde. Bis heute ist unklar, ob hinter der Brandstiftung ein flüchtlingsfeindliches Tatmotiv stand. In der Regel werden bisher solche Vorfälle als Verdachtsfälle behandelt und nicht veröffentlicht. Versehentlich ist dieser Fall dennoch in der Chronik erschienen und in Reaktion auf den Hinweis auch wieder entfernt worden. Da es eine große Anzahl von Brandstiftungen und weiteren Vorfällen gibt, deren Tatmotive bis zuletzt nicht geklärt werden konnten, werden diese Fälle ab 2017 als Verdachtsfälle deutlich gekennzeichnet gesondert aufgeführt. So lassen sich in Zukunft auch ungeklärte Fälle transparenter nachvollziehen.

Eine Bilanz

Die aufgeführten Beispiele zeigen deutlich bestehende Probleme, die vor allem durch die Informationspolitik verursacht werden. Daher hält die Amadeu Antonio Stiftung an ihrer Kritik fest, wonach viele Vorfälle auch in der "Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle" sehr viel klarer benannt werden könnten, wenn die zuständigen Ermittlungsbehörden Übergriffe zeitnah öffentlich machen würden. Geschieht dies nicht, müsste zumindest das BKA im Nachhinein detailliertere Auskünfte zu den einzelnen Vorfällen liefern.

Angesichts der Vielzahl an Übergriffen, bitten wir um Verständnis für vereinzelte Versehen. Alleine für 2016 wurden bereits 1130 Vorfälle in der Chronik veröffentlicht. Hinzu kommen viele Fälle, die nach einer Bearbeitung und entsprechenden Überprüfung nicht mit in die Chronik aufgenommen wurden.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist dankbar für jeden Hinweis auf noch nicht aufgeführte Vorfälle oder fehlerhaften Einträge der Chronik mit der Bitte um dazugehörige Quellenangaben.