Sie sind hier

Mit dem Geisterschiff auf Irrfahrt

Die "Mut-Debatte" über den neuen Kurs der Bundesregierung beginnt. Zum Einstieg deutliche Worte des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening: Die neue Koalition beschwöre in ihrer Koalitionsvereinbarung die alten Geister der Extremismustheorie und habe nicht begriffen, dass wir in Wirklichkeit vor ganz anderen Herausforderungen stehen würden.
 
Die neue Bundesregierung hat in ihrer Lesart die Arbeit gegen Rechtsextremismus weiterentwickelt und setzt nun auf "Extremismusbekämpfung". Verstärkt sollen in Zukunft auch Projekte gegen Islamismus und Linksextremismus gefördert werden. Diese Prioritätensetzung ist umstritten. Mut-gegen-rechte-gewalt.de hat dazu Experten der Zivilgesellschaft und der Politik zur Diskussion eingeladen. Die Debatte beginnt heute mit dem Berliner Integrationsbeauftragten Günther Piening. Berlin gilt unter Experten mit der „Berliner Landeskonzeption gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ als bundesweit führend unter den Bundesländern in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus. Am Dienstag, den 10.11. folgt Dierk Borstel vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Red.

Die neue Koalition beschwört in ihrer Koalitionsvereinbarung die alten Geister der Extremismustheorie und hat nicht begriffen, dass wir in Wirklichkeit vor ganz anderen Herausforderungen stehen. Besonders viel steht zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Koalitionsvertrag nicht drin. Immerhin, ein neuer Schwerpunkt wird deutlich: gegen „Extremismen jeder Art“ sollen sich künftig die Vorhaben des Bundes in Form von „Extremismusbekämpfungsprogrammen“ richten. Neben der Rolle rückwärts in die Extremismusdebatte zurückliegender Jahrzehnte ist die Ignoranz gegenüber den wirklichen Problemen dieser Gesellschaft ärgerlich.
Hier nur eine unvollständige Aufzählung:
- Die verschiedenen Einstellungsforschungen zeigen wiederholt, dass Menschenverachtung, Rassismus und Antisemitismus nicht nur an den extremen Rändern der deutschen Gesellschaft anzutreffen sind.
-
Insbesondere die Ethnisierung von Konflikten gepaart mit sozialdarwinistischen und rassistischen Einlassungen sind offenbar in der deutschen Oberschicht und ihren Öffentlichkeiten hoffähig (wie zuletzt die sog. „Sarrazin-Debatte“ gezeigt hat.)
- Homophobie und Antisemitismus sind latente Probleme der deutschen Mehrheitsgesellschaft und eingewanderter Minderheitengruppen.
-
Rechtsextremismus wird in einigen Regionen Deutschlands zu einer dominanten Kraft bei der Prägung der regionalen politischen Kultur.
-
Rechtsextreme und rassistische Gewalt ist seit etwa 15 Jahren die deutlich gefährlichste Form politischer Gewalt in Deutschland. Dies nicht nur weil die Zahlen eindeutig sind, sondern weil sie sich gegen Minderheitengruppen richtet, denen die Teilhabe am öffentlichen Raum und damit auch an der Demokratie unmöglich gemacht wird.
-
Rechtsextremismus, Rassismus und dessen Ausformungen etwa in Form von Islamophobie bleiben eine erhebliche Hürde auf dem Weg zur Integration eingewanderter Menschen und ihrer Nachfahren.
 
Nach jahrelangen Programmdebatten und dem Ringen um die angemessenen Ansätze, hatte sich in Deutschland eigentlich in der Debatte einiges bewegt. So wird heute die Problemlage mit Begriffen wie „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ wesentlich differenzierter und angemessener beschrieben. Aus den Bundesprogrammen seit 2001 sind indessen angemessene Projektformate entstanden, die in der Bildungsarbeit, in der Jugendarbeit und in der Gemeinwesenarbeit zielgruppenspezifische Methoden entwickelt und Antworten auf die komplexen Problemlagen unterschiedlicher Regionen gefunden haben. Insbesondere die Struktur von Mobilen Beratungsteams und der Opferberatungsteams konnten sich in den ostdeutschen Bundesländern als verlässliche Akteure in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus bewähren

Konzeptionelle Ahnungslosigkeit

Die Koalitionäre haben sich dagegen in den letzten zehn Jahren in Sandlöchern aufgehalten. Im Koalitionsvertrag wimmelt es zwischen begrifflichen Schwammigkeiten und konzeptioneller Ahnungslosigkeit: Linksextremismus und Islamismus bleiben Worthülsen ohne Klarheit, um welches Problem es geht und wie es sich bearbeiten lässt. Antisemitismus wird in eine Reihe der Extremismusformen gestellt (vgl. S. 92 erste Zeile). Die Auseinandersetzung mit neuen Formen des Antisemitismus wird nicht erwähnt. Antiziganismus ist kein Thema und auch der Begriff Rassismus kommt im gesamten Vertrag nicht vor. Von Handlungsansätzen in der „Mitte der Gesellschaft“ hat die neue Regierungskoalition offenbar noch nie etwas gehört. Diversity-Strategien, Menschenrechtsbildung: Fehlanzeige! Stattdessen schwebt alles unter dem Mantra der Extremismusformel: All den Extremisten soll mit Aussteigerprogrammen geholfen werden. Opferfonds sollen sich auch den Opfern linksextremer und islamistischer Gewalt zuwenden.

 
Während die Regierungskoalition ganz dicke Löcher am ideologischen Brett vor dem Kopf bohren muss, stellen sich aus der Sicht der einzelnen Bundesländern ganz andere Herausforderungen:


Rassismus als große Herausforderung


Die Problematiken menschenverachtender Phänomene werden auch in Zukunft entlang der Koordinaten Stadt – Land, Ost – West, Exklusion – Inklusion zu analysieren sein. In Ostdeutschland, in einigen Regionen in Westdeutschland und in Schwerpunktvierteln von großen städtischen Ballungsregionen wird Rechtsextremismus und Rassismus die große dominante Herausforderung bleiben. Es bedarf der dringlichen Verstetigung der vom Bund geschaffenen Beratungs- und Projektstrukturen. Dabei ist die Konzentration darauf zu setzen die Regelinstitutionen wie Schule und Jugendarbeit aber auch zivilgesellschaftliche Kerne fit zu machen für die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Ohne die Sonderprojekte und ihre innovativen Projektideen wird das nicht zu schaffen sein. Die bisherigen Programme müssen fortgesetzt werden, ohne inhaltliche Verschleierungen und ohne Kürzungen sondern mit langfristiger Sicherung unter dem Vorbehalt ständiger wissenschaftlicher Evaluation.
 
In den städtischen Metropolen werden stattdessen andere Schwerpunktsetzungen angebracht sein. Die bisherigen Bemühungen zur Entwicklung angemessener Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft mit ihren unterschiedlichen Problemlagen müssen intensiviert werden. Hier werden die Probleme Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie und Islamophobie zu den zentralen Aufgabenschwerpunkten gehören. Die vergangenen Bundesprogramme haben dazu zahlreiche Modellprojekte in die Landschaft gesetzt. Es bedarf eines abgestimmten Konzeptes zwischen dem Bund und den Ländern das die langfristige Sicherung der erfolgreichen Projekte zum Ziel hat.

Konsens aller Demokraten für die Menschenrechte

Es wird auch zukünftig darauf ankommen, für diese unterschiedlichen Probleme spezifische Lösungsmodelle zu entwickeln. Politische Konzepte wie die „Berliner Landeskonzeption gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ des Berliner Senats bauen deswegen auf eine Problembearbeitung die in den verschiedenen Segmenten ansetzt. Nichtsdestotrotz haben auch jene Kritiker Recht, die eine positive und übergreifende Zielformulierung für die Programme und Konzepte fordern. Insofern stünde es der neuen Regierungskoalition gut zu Gesicht nun für Deutschland einen Konsens zu entwickeln, der das Engagement aller Demokraten für Demokratie, Menschenrechte, Respekt und Pluralität in der Einwanderungsgesellschaft anerkennt. Diese positive Ausrichtung darf aber nicht zu einer Negierung bestehender, gesamtgesellschaftlicher Probleme und der Unterlassung differenzierter Analysen führen.
 
Vielleicht war es der Fehler in den Netzwerken der Bundesprogramme nicht genügend die inhaltlichen Debatten-Bedürfnisse konservativer Akteure zu bedenken. Die neue Koalition hat dagegen eine Chance verpasst einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Problemen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einen neuen Impuls zu geben. Stattdessen verfährt sich die neue Koalition im Dickicht der Extremismustheorie. Es bleibt zu hoffen, dass sie bald wieder heraus findet.
  
Günter Piening ist Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration.

Foto:
Gereon Ecker (Creative Commons)
 

geisterschiff.jpg

Union und FDP: Mit dem Geisterschiff auf Irrfahrt