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NPD scheitert in Hessen und Niedersachsen. Ist der Osten anfälliger für rechtsextreme Ideologie?

Bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen hat die neonazistische NPD ihre Wahlziele weit verfehlt. Sie erhielt in Niedersachsen 1,5 Prozent der Zweitstimmen, in Hessen 0,9 Prozent und damit sogar weniger als die Republikaner, die in Hessen ein Prozent erreichten. Ab mindestens einem Prozent der Stimmen erhalten Parteien eine staatliche Wahlkampfkostenpauschale pro Wählerstimme. Dies ist für die hessische NPD nun nicht der Fall. Ihre besten Resultate erzielte die NPD im Hessischen Wölfersheim (5,0 %) und im niedersächsischen Osterode (2,6%, dort im Stimmbezirk Bad Lauterberg 5,09%). Ergebnisse in dieser Höhe blieben aber Ausnahmen.

Ungleich erfolgreicher bleiben die Wahlaussichten für Rechtsextreme
in Ostdeutschland, wo die NPD bereits in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern im Landtag und die DVU in Brandenburg vertreten ist. Woher kommen diese Ost-Erfolge rechter Parteien? Mit den Gründen hat sich jetzt Antje Hermenau, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im sächsischen Landtag, in einem Thesenpapier für ihre Parteispitze befasst. MUT stellt das Dokument zur Diskussion, das unter dem Titel steht: „Der Umgang mit der NPD – Testfall für die Demokratie nur in Ostdeutschland?“. Hier der Wortlaut:

"Die Nürnberger Bundesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat sich am 25.11. 2007 gegen einen NPD-Verbotsantrag zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen. In einem weiteren Beschluss wurde die Bedeutung präventiver Bildung für
wirksame Strategien gegen das Vordringen des Rechtsextremismus betont. Damit ist die Debatte für Bündnis 90/ Die Grünen nicht vorbei, sondern beginnt erst richtig. Rechtsextremistisches Denken ist dort dominant, wo die Demokratie ungenügend

verankert ist, wo es einen Mangel an demokratischem Bewusstsein gibt und wo es an Einstellungen fehlt, die für eine „demokratische Alltagskultur“ von konstitutiver Bedeutung sind. Wer mit der Vielfalt von Meinungen und Lebensweisen nicht klarkommt,
wem die Erfahrung demokratischer Mitbestimmung fremd ist, wer nicht versteht, dass im Streit Lösungen gefunden werden können, ist „anfällig“ für rechtsextremistisches Gedankengut.

Dies ist kein regionales, sondern ein gesamtdeutsches, ja wahrscheinlich internationales Phänomen. Allerdings bleiben rassistische, antisemitische und autoritäre Einstellungen oft „nur“ latent – was häufig zu der Fehlwahrnehmung führt, dass es sie gar nicht gebe. In Ostdeutschland treten rechtsextremistische Einstellungen hingegen offener zutage: psycho-soziale und politische Prozesse verlaufen hier direkter und teilweise katalytisch.

Es muss aber auch darüber nachgedacht werden, welche Konsequenzen sich daraus für die Demokratie in Gesamtdeutschland ergeben. Zwar wäre es falsch, das Problem des Rechtsextremismus mit der NPD zu identifizieren (und zu denken, dass

man nur die NPD loswerden müsste, um sich des Grundproblems zu entledigen), aber die NPD wird mittlerweile zur Sammlungspartei, die die Stimmen aus einem traditionellzersplitterten Wählersegment auf sich vereint und sich in den ostdeutschen
Landtagen festzusetzen droht. Damit scheint sich eine rechtsextremistische Partei mit langfristigen Erfolgsaussichten im politischen System der Bundesrepublik zu „etablieren“.

1. Die „Mitte der Gesellschaft“

Ich bezweifle die These, dass wir verhindern müssen, dass der Rechtsextremismus „in die Mitte der Gesellschaft“ getragen würde, ausdrücklich. Meiner Meinung nach schlummert er da immer. Die latent vorhandene Bereitschaft großer Teile der „Mitte der Gesellschaft“, im „Ernstfall“ Demokratie und Freiheit aufzugeben, ist in der Geschichte bereits zutage getreten.

Es liegt an den Umständen und der psycho-sozialen Stabilität der Menschen, ob der Rechtsextremismus zum Tragen kommt oder als zivilisationsfeindliche Regung in seine Schranken gewiesen werden kann. Hier ist eine exzellente Bildungspolitik, die soziale Unterschiede überwindet und die Menschen befähigt, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen, von entscheidender Bedeutung.

2. Demokratie und Wohlstandsversprechen

Für die Ostdeutschen ist mehrheitlich die Frage, ob die Demokratie eine gute Gesellschaftsform ist, in der sie weiterhin leben wollen, noch nicht entschieden. Demokratisches Wohlverhalten wurde nicht, wie versprochen („blühende Landschaften“), mit Wohlstand belohnt. Damit fehlt im Osten die Grunderfahrung der Menschen in der frühen Bundesrepublik, in der die (wieder) eingeführte Demokratie mit wachsendem Wohlstand verbunden war. Das „Wirtschaftswunder“ dürfte die Akzeptanz der Demokratie massiv befördert haben – jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass die Westdeutschen damals per se „empfänglicher“ für die Demokratie waren als die Ostdeutschen von heute.

Die Erfahrung, dass Demokratie sich nicht unbedingt materiell „lohnt“, bietet einen Nährboden für demokratiefeindliche Umtriebe. Das bedeutet keinesfalls, dass Demokratiefeindlichkeit monokausal auf Wohlstandsverlust zurückgeführt werden kann, aber es scheint offenkundig, dass das „sich-Einleben“ in ein politisches System wesentlich dadurch begünstigt wird, wenn sich dieses subjektiv mit Wohlstand verknüpfen lässt. Wo diese Voraussetzung fehlt, kommt es eher zu Akzeptanzproblemen.


In diesem Sinne bestehen sowohl hier im materiellen Bereich als auch weiter unten im psycho-sozialen Bereich erhebliche Parallelen zwischen dem aggressiven Gruppenverhalten rassistischer deutscher Schläger auf der einen Seite und Schlägern aus dem Migrationsmilieu auf der anderen. Die bundesrepublikanische Gründungsgeschichte vom mit der Demokratie verbundenen wachsenden Wohlstand wird aber zwangsläufig verblassen, wenn Wachstumserwartungen auch im Westen schwinden und neue Unsicherheitserfahrungen um sich greifen, die im Osten schon länger Realität sind. Deshalb kann es sein, dass der Osten der allgemeinen Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland lediglich vorgreift und insgesamt eine höhere Aggressivität in der

Bevölkerung zu erwarten ist.

3. Rechtsextremismus als Kompensationsstrategie

Vor dem Hintergrund einer härteren weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenz wächst die Aggressivität in der Bevölkerung. Derartige Veränderungen werden diffus als materielle Bedrohungen von außen (Europa, Globalisierung, Kriege um Ressourcen) empfunden und nicht reflektiert – auch nicht von der regionalen Politik. Den Menschen materielle Existenzängste zu nehmen, entspannt auch die Lage an der „Demokratiefront“.

Dasselbe gilt für den komplexen und unübersichtlichen Alltag. Erleichterungen hier sind demokratisch sehr viel wert. Die Zuversicht kann nur wachsen, wenn die Lebensumstände die Menschen nicht ständig demütigen oder ihnen täglich

ihre Ohnmacht vor Augen führen. Ein Staat wurde abgewickelt und ein anderer an seine Stelle gesetzt, an den sich die Leute anzupassen hatten. Das war Dauerstress und dieser der psycho-soziale Nährboden für grobe, autoritäre Charaktere, die nach oben buckeln und nach unten treten.

Die Umstellungszeit nach der Wende ist im Osten nun zu Ende und verliert damit auch ihren Ablenkungscharakter. Die Menschen werden wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird Bilanz gezogen – individuell und in Gruppen. Insofern ist

das Erstarken des Rechtsextremismus eine mögliche Kompensationsstrategie und wird eher noch zunehmen. Andere Kompensationsstrategien sind oft zu teuer, z.B. Sucht, Rückzug in mediale Welten oder kaschieren das Problem, z.B. Abwanderung – wobei Abwanderung gerade für die schlechter Qualifizierten meist kaum in Frage kommt.

4. Ressentiments gegen die westdeutsche Elite

Ressentiments gegen eine aus Westdeutschland zugewanderte Elite, die den Staat überproportional repräsentiert, werden psychosozial gleich mit „eingebaut“. Der Wessi als Macher und Chef und der Ossi als Mitmacher und Empfänger sind eine unheilige Allianz der Mentalitäten eingegangen, die die gesellschaftlichen Entwürdigungen aus der DDR-Zeit durch die aus der Zeit nach der Wende noch ergänzte. Der Ossi fühlt sich in seiner freundlichen Naivität ausgenutzt und ist „sauer“ - die alte Ohnmacht wurde in „neuen Kleidern“ erlebt. Vor diesem Hintergrund verblasst die Erinnerung an die „eigene“ friedliche Revolution von 1989. Damit wurde eine für Deutschland einmalige Errungenschaft – die erkämpfte, nicht geschenkte, Freiheit – für viele Menschen entwertet.

Die „Ausländer“ oder die gesellschaftlichen Gruppen, gegen die sich rechte Gewalt richtet, werden auch als Repräsentanten des Westens bzw. seiner Kultur des „Multikulti“, die als fremd und feindselig empfunden wird, betrachtet. Dies ist nicht der Hauptgrund für Ausgrenzung und Gewalt, aber ein zusätzliches Motiv dafür, dass es in Westdeutschland so vielleicht nicht gibt. Die Enttäuschung über „den Westen“ bzw. die ihn vertretenden Wessis treibt bis in die Mitte des politischen Spektrums inzwischen merkwürdige Blüten; z.B. „Sachsen muss von einem Sachsen regiert werden.“

5. Das Fehlen von „68“ und einer gesellschaftlichen Diskurskultur

20 Jahre nach der Wende gibt es immer noch eine „lausige Diskussionskultur“ und mangelt es an Menschen, die viel uneigennützige Eigeninitiative zeigen. Es ist aber noch nicht einmal die Zeitspanne vorüber, deren es bedurfte, um nach dem Krieg in Westdeutschland eine „68er-Generation“ hervorzubringen. Wie die ostdeutschen „2012er“ sein werden, ist noch nicht klar: autoritäre oder paternalistische politische Angebote finden bei jungen Leuten viel Zuspruch. Eine emanzipatorische oder gar antiautoritäre Bewegung hat sich noch nicht klar genug etabliert. Und: Eine „Rebellion“

wie 68, die sich auf die ostdeutsche Teilgesellschaft beschränkt, ist schwer vorstellbar.

„68“ war ein gesellschaftlicher Aufbruch, der mit radikaler Kritik begann, schließlich aber entscheidend dazu beitrug, dass die Demokratie, die nicht von den Deutschen selbst erkämpft worden war, mit Leben erfüllt wurde. Dies ist eine wichtige Grunderfahrung, die im Osten fehlt. Allerdings gibt es ein wachsendes Bedürfnis, endlich damit aufzuhören, „den Westen“ kritiklos nachzubauen, der ja auch nicht gut genug in den Zeiten der Globalisierung funktioniert.

6. Protest oder Provokation?
Die größtmögliche Provokation der demokratischen deutschen Gesellschaft ist der verherrlichende Umgang mit rassistischem und rechtsradikalem Gedankengut. Viele Ostdeutsche empfinden das als Test für die Demokratie und vor allem für die Demokraten. Die Demokratie muss sich in ihren Augen in der Auseinandersetzung mit der NPD beweisen, aber Repression wird als Ausweis dafür gesehen, dass sie das nicht kann. Überspitzt gesagt: Ein NPD-Verbot wäre die Fortsetzung der DDR mit anderen Mitteln und könnte nicht überzeugen. Heute schon nutzt die NPD die Verbotsdebatte, um diese als Beweis für das argumentative Versagen der „Altparteien“ darzustellen.

In Ostdeutschland wirkt das Etikett „rechtsextremistisch“ nicht mehr automatisch abschreckend. Das Bewusstsein, dass eine Partei mit menschenverachtender Ideologie nicht gewählt werden sollte, auch wenn sie zur Wahl steht, ist hier wenig entwickelt. Im Gegenteil, viele halten diese Partei, da sie ja auf demokratische Weise gewählt
wurde, automatisch für eine demokratische Partei. So stellt sich die NPD für zu viele Menschen als eine Option da, die den Reiz hat, dass die Parteien, von denen man enttäuscht ist bzw. die man nicht als für die Interessen der Menschen

engagiert erlebt, durch die Wahl der NPD am besten „geärgert“ werden können. Insofern ist die NPD auch ein Instrument von WählerInnen.

Wollte man aber die NPD-Erfolge als „Protestwahl“ verniedlichen, würde man das Problem verkürzt darstellen. Denn gerade diese provozierende Qualität der NPD lässt WählerInnen vermuten, dass sich dahinter eine grundlegende Alternative verbirgt, die auf Dauer zur ersten Wahl werden könnte.

Der alttrainierte „Beißreflex“ bringt also politisch nicht das gewünschte Ergebnis, sonst hätten ja auch westdeutsche Kreisverbände nicht so ein starkes Bedürfnis nach dem NPD – Verbot geäußert. Bündnis 90/ Die Grünen müssen also jenseits des Beißreflexes, der menschlich nur allzu verständlich ist, auch ein politisches Angebot

an die Bevölkerung machen, das diese ermutigt, Zivilisiertheit auch unter schwierigeren Bedingungen durchzuhalten.

7. Ein gesellschaftlicher Neuanfang ist nötig

Die im obigen Sinne katalytisch verlaufenden Prozesse in Ostdeutschland sind kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem, das wir genauso gemeinsam lösen müssen wie die Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisierung. Die Formulierung dieses gesellschaftlichen „Neuanfangs“ mit den großen Aufgaben hat das Potential, neue Zuversicht zuzulassen und damit Aggressivität und Blockade abzuschwächen. Auch die „Gedemütigten“ in Ost und West könnten das Gefühl entwickeln, neu an den Start gestellt zu werden. Das setzt die Abmilderung der sozialen Unterschiede durch eine exzellente Bildungspolitik voraus. Es muss also nicht nur die DDR zurückgelassen werden, sondern auch in einem gewissen Sinne die BRD der Vorwendezeit.

Antje Hermenau, Dresden / www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Foto: Kulick

Zum Thema:

Endergebnis Niedersachsen 27.1.2008: >klick
Endergebnis Lndtagswahl Hessen 27.1.2008: >klick

NPD-Blog.info 28.1.: Wie die NPD reagiert >klick
Hochburg im Harz? Wahl-blog vom 28.1.2008 >klick
MUT: "NPD-Kandidaten - männlich und kaum zu erreichen" >klick
Welt-online 25.1.: "NPD will den Sieg so oder so" >klick
Enstation Rechts: Hessens JN-Landesvorsitzender ausgestiegen. >klick

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