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"Die Erinnerungen waren ja nie weg. Sie begleiten mich bis heute" berichtet die französische EU-Politikerin Simone Veil im Interview über ihre Erinnerung an das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Über Jahre trug sie lange Ärmel, damit keiner ihre Häftlingsnummer sah. Und das Leiden durch Nazis hörte nie auf. Als sie in Frankreich die Abtreibung legalisierte, beschmierte man ihr Haus mit Hakenkreuzen. Offen reflektiert sie über die Allgegenwart der Vergangenheit und wie sie das Interesse Jugendlicher heute an dem Thema sieht: "Die meisten Schüler hören nicht zu. Sie lesen auch nicht mehr. Sie gehen lieber ins Netz...." Ein Gastbeitrag aus dem Berliner 'Tagesspiegel'.
Das Gespräch führte Maxi Leinkauf
Madame Veil, Frankreichs First Lady Carla Bruni nennt Sie ihre „Heldin der Gegenwart“.
Du liebe Güte, dabei habe ich gegenüber Carla einen großen Fauxpas begangen. Als ich zum Frauentag in den Elyséepalast eingeladen war, bin ich bei der offiziellen Begrüßung wortlos an ihr vorbeigegangen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Das gab Schlagzeilen …
Selbst der Kellner des Cafés neben Ihrem Büro findet, sie seien eine „Grande Dame“.
Die meisten Franzosen schätzen mich für das, was ich als Ministerin und Präsidentin des Europaparlaments erreicht habe. Noch heute bekomme ich täglich Briefe von Frauen, die mir von ihren Sorgen mit der Familie oder ihren Schwierigkeiten im Job erzählen. So bleibe ich im Leben.
Ihr sehr bewegtes Leben begann in Nizza, wo Sie als jüngste Tochter in einer jüdisch-laizistischen Familie groß wurden. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?
Wir waren vier Geschwister, standen einander sehr nahe. Mein Vater, ein Architekt, hatte sehr strenge Prinzipien. Er hasste die Deutschen und nannte sie „les Boches“. Im Ersten Weltkrieg hat er an der Front gekämpft, aber die meiste Zeit war er in den Gefangenenlagern der Deutschen inhaftiert. Meine Mutter hat Chemie studiert, aber nie gearbeitet. Mir und meinen Schwestern gab sie mit auf den Weg, dass eine Frau nicht nur einen Beruf braucht, sondern ein wirkliches Metier. Und ich, ich war wohl schon immer ein bisschen rebellisch.
1944 rissen die Nazis Ihre Familie brutal auseinander.
Mein Vater und mein Bruder Jean wurden nach Litauen deportiert, und ich kam mit meiner Mutter und meinen Schwestern nach Auschwitz-Birkenau.
Sie beschreiben in Ihren Memoiren den Geruch der verbrannten Leichen und den Rauch, der aus den Gaskammern stieg. Es muss schwer gewesen sein, das aufzuschreiben.
Die Erinnerungen waren ja nie weg. Sie begleiten mich bis heute. Wissen Sie, der Albtraum begann, als die Ungarinnen ins Lager kamen. Ich hauste nahe den Gaskammern und erlebte mit, wie Frauen und Kinder aus den Zügen stiegen. Die meisten von ihnen wurden sofort vergast. In weniger als drei Monaten starben so mehr als 400 000 Menschen. Die Kleider, die sie getragen hatten, lagen überall herum.
Wie konnten Sie überleben?
Als wir eines Tages zur Lagerarbeit gingen, kam die Aufseherin, eine ehemalige Prostituierte, auf mich zu und sagte: „Du bist wirklich zu hübsch, um hier zu sterben. Ich schicke dich woandershin.“ Sie sorgte dafür, dass auch meine Schwester und meine Mutter nach Bergen-Belsen kamen. Später traf ich sie dort wieder. Als Lagerführerin teilte sie mich zum Küchendienst ein, das rettete uns vor dem Hungertod. Aber meine Mutter starb kurz darauf an Typhus, meine Schwester etwas später.
Ihr Bruder und Ihr Vater waren zu dem Zeitpunkt längst tot. Wie waren die ersten Wochen nach der Befreiung ?
Anfangs konnte ich monatelang nicht in einem Bett schlafen, nur auf dem Boden, wie im Lager. Ich hatte oft davon geträumt zu studieren, sollte ich eines Tages heimkehren. Als ich dann im Mai nach Paris kam, schrieb ich mich gleich am Institut für Politikwissenschaften ein. Dort begegnete ich meinem späteren Mann, Antoine Veil.
Konnten Sie ihm nahebringen, was Sie erlebt hatten?
Mein Mann stellte keine Fragen, es war tabu. So wie für viele andere Menschen in der Nachkriegszeit. Wir Überlebenden wollten reden, die anderen wollten vergessen. Manche fragten: „Stimmt es, dass die SS jüdische Frauen von Hunden schwängern ließ?“
Wie haben Sie darauf reagiert?
Gar nicht. Ich weiß noch, wie ich mich auf Partys hinter einem Vorhang versteckte, um mit niemandem reden zu müssen. Die Gespräche der anderen schienen mir so unwirklich. Einmal sah jemand die Häftlingsnummer 78651, die auf meinem Arm eintätowiert ist, und sagte: „Das ist wohl Ihre Garderobennummer?“ Danach trug ich jahrelang nur langärmelige Pullover.
Was half Ihnen, zu verarbeiten?
Ich stürzte mich in die Literatur. Von Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch?“ war ich beeindruckt, auch davon, dass er es so kurz nach dem Krieg schreiben konnte. Und ich las Bücher über Ravensbrück, dorthin war meine zweite Schwester deportiert worden. 1950 zog ich mit meinem Mann nach Wiesbaden, er war im Konsulat tätig. Alles dort war ja amerikanisch, das Schwimmbad und die Geschäfte. Es störte mich überhaupt nicht, in Deutschland zu leben. Ich fühlte mich frei.
Nach Ihrem Studium wollten Sie als Anwältin arbeiten. Ihr Mann war dagegen.
Er behauptete, es sei ein unsicheres Metier für eine Frau. Ich habe das akzeptiert und eine Stelle als Justizbeamtin im Magistrat angenommen, auf die sich auch Frauen bewerben durften. Ein Kompromiss. Ich kümmerte mich dort um den Strafvollzug, begutachtete landesweit Gefängnisse, in denen die Häftlinge unter mittelalterlichen, würdelosen Bedingungen hausten. Auch nach Algerien bin ich gereist, dort sagte mir ein Wärter: „Wir benutzen die Guillotine, wann immer wir wollen.“ Also kämpfte ich für humanere Haftbedingungen. Mit 27 Jahren hatte ich drei Kinder, ein Diplom und eine relativ anstrengende Arbeit.
Es trieb Sie in die Politik. Als Giscard d’Estaing 1974 Präsident wurde, wollte er Sie als Gesundheitsministerin.
Ich hatte mich schon lange mit komplizierten Fragen wie dem Adoptionsrecht und mit Gesundheitsthemen beschäftigt. Als Giscard d’Estaing schließlich Frauen für sein Kabinett suchte, staunte er, wie wenige infrage kamen.
Sie setzten 1974 in der Nationalversammlung das umstrittene Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung durch und wurden zur Ikone der Frauenbewegung …
… aber auch zur Hassfigur der Reaktionäre. Damals trieben in Frankreich jedes Jahr drei- bis vierhunderttausend Frauen illegal ab. 300 Frauen starben dabei jährlich. Nur wer Geld hatte, konnte ins Ausland. Ein Abgeordneter rief damals im Parlament bei einer Debatte, der abgetriebene Fötus würde direkt in den Verbrennungsofen geschickt. Als der Tag der Verabschiedung nahte, bekämpften mich orthodoxe und antisemitische Katholiken. Manche attackierten mich auf offener Straße. Mehrere Male wurden Hakenkreuze an meine Hauswand geschmiert.
Ausgerechnet Hakenkreuze.
Es war eine explosive, chauvinistische Stimmung im Land. Dabei hatte der „Nouvel Observateur“ schon das „Manifest der 343“ veröffentlicht, in denen zum Beispiel Simone de Beauvoir, Françoise Sagan, Catherine Deneuve und Jeanne Moreau erklären, sie hätten abgetrieben. Das Gesetz wurde ein Triumph. Die Presse jubelte, und viele Frauen schrieben mir, wie sehr sie mich bewundern.
Wie hat Ihr Mann auf Ihre steile Karriere reagiert?
Es dauerte eine Weile, bis es ihm gefiel, dass ich in meiner Arbeit aufgehe. Nur mit unseren drei Kindern gestaltete es sich kompliziert. Ich kam oft spät nach Hause, vor allem, als ich dann Justizministerin wurde. Und meine Söhne warteten.
Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?
Ich hatte schon manchmal Schuldgefühle. Aber meine Kinder sehen das zum Glück anders. Man denkt als Mutter immer, man müsste die ganze Zeit physisch anwesend sein. Dabei ist es viel besser für Kinder, wenn sie eine Mutter und eine Oma haben, die selber arbeiten. Die wissen, was es bedeutet, Geld zu verdienen.
Mit Anfang 30 müssen sich heute viele Frauen in ihrem Beruf behaupten.
Es scheint nicht leichter geworden zu sein, beides zu vereinbaren. Junge Frauen bekommen ihre Kinder heute viel zu spät. Männer verlassen die Frauen, mit denen sie Kinder haben, und heiraten kaum noch. Das ist alles schlimm.Ich bekam mein erstes Kind mit 19. Da waren wir selber noch nicht erwachsen. Aber in meiner Generation haben die Eltern und Großeltern wie selbstverständlich mitgeholfen. Als ich mich für mein erstes Praktikum eingeschrieben habe, bekam mein Baby Windpocken und meine Schwiegermutter kümmerte sich. Solche Großmütter existieren kaum noch.
Werden Frauen in Frankreich im Jahr 2009 noch diskriminiert?
Frauen bekommen in Frankreich seltener Promotionsstellen als Männer. Eine Studentin, deren Doktorarbeit ich betreuen sollte, sagte: „Immer wenn es darum geht, einen Platz zu vergeben, kriegen ihn die Männer.“ Ich war damals eine Ausnahme, und meine Karriere ist es noch immer. Auch als erste Frau an der Spitze des Europäischen Parlaments. Ich war die Alibifrau. Wie Ihre Angela Merkel.
Beeindruckt Sie Frau Merkel?
Da erzähle ich Ihnen eine Geschichte. Ich habe sie zuletzt im vergangenen Jahr bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen getroffen. Nicolas Sarkozy hielt die Laudatio – und hat sich verhaspelt. Er sprach Frau Merkels Mann mit einem falschen Namen an. Angela Merkel hat das lächelnd hingenommen. Sie hat großes Charisma. Sie ist nicht klassisch schön, hat aber eine außergewöhnliche Präsenz. Mich hat besonders beeindruckt, wie klar sie sich dem Papst gegenüber verhalten hat.
Sie meinen die Kritik in der Debatte um den Bischof Richard Williamson, der den Holocaust geleugnet hatte?
Angela Merkel muss als Protestantin geschockt gewesen sein über die Rehabilitierung dieses Fundamentalisten. Die Protestanten hatten in der Nazizeit viele Juden versteckt und gerettet. Aber sie hat sich klar vom Vatikan distanziert.
Madame Veil, wie soll man sich erinnern?
Das ist schwierig. Vorgestern habe ich einen Brief erhalten, in dem jemand von Roberto Benignis Film geschwärmt hat. Warten Sie, ich hole ihn. Ach ja, es geht um „Das Leben ist schön“.
Darin erzählt ein Vater, der mit seinem Sohn im Lager ist, alles sei nur ein Spiel. Der Film bekam einen Oscar.
Zu Unrecht. Es ist ein absolut schlechter Film! Diese Geschichte hat überhaupt keinen Sinn. Ich mochte auch „Schindlers Liste“ nicht. Das sind alles Kino-Märchen. Die Menschen sollten sich lieber „Holocaust“ anschauen, die Geschichte einer jüdischen deutschen Arztfamilie. Der Film war zwar ziemlich amerikanisch, aber wenigstens wird die Wahrheit darin nicht verschleiert.
Was denken Sie über das Berliner Mahnmal?
Es ist wunderbar. Dieser große Platz am Hotel Adlon ist der schönste Ort der Stadt. Mein Mann war im Januar in Berlin, und ich sagte ihm: Das musst du unbedingt sehen! Als er zurückkam, fragte ich: Wie war es? Er sagte: mit Schnee bedeckt.
Auf den Stelen picknicken die Leute im Sommer.
Warum nicht? Das ist eine Form der Normalität. Übrigens war ich in Berlin, als die Mauer fiel. Zuvor saß ich mit dem katalanischen Präsidenten zusammen, und man brachte uns eine Eilmeldung: Die Mauer fällt. Alle Europäer im Raum fingen unmittelbar an zu weinen. Dann bin ich nach Paris zurück, wo einige befreundete Journalisten ein kleines Flugzeug gemietet hatten. Sie nahmen uns mit. So kam es, dass ich den gesamten Tag des Mauerfalls am Brandenburger Tor, auf der Westseite, verbrachte. Dort standen noch Soldaten. Es war so still. Wir warteten. Nach und nach bröckelte die Mauer. Ich empfand ein großes Glück.
Pflegen Sie noch Kontakt zu alten Freunden?
Ich stehe einigen Menschen, die mit mir im Lager waren, sehr nahe. Wir sind eine kleine Gruppe und sehen uns vielleicht zweimal im Jahr. Das sind meine wirklichen Kameraden. Nur mit ihnen kann ich über diese Erlebnisse offen reden. Diese gewissen Gespräche bleiben unter uns.
Sie sind berüchtigt für Ihre plötzlichen Wutanfälle. Können Sie mittlerweile Ihr Temperament zügeln?
Nein. Ich bin überhaupt nicht ruhig. Von einem Moment auf den anderen kann ich rigoros reagieren, wenn mich etwas in Rage bringt. Wenn ich beispielsweise in Schulklassen gehe und die Schüler dumme Fragen stellen. Sie glauben nicht, wie idiotisch die mitunter sind, trotz der Literatur, den Filmen, den Lehrern.
Sie schauen mich so zornig an.
Stellen Sie sich diese Fragen vor: „Wer war die SS?“ Oder: „Was ist ein KZ?“ Jedes Jahr gibt es eine Prüfung, in der sich die Schüler mit der NS-Zeit und der Deportation auseinandersetzen müssen. Es gibt Schriften von Historikern und Geschichtslehrern. Und es wurden so viele Zeitzeugen, Leute wie mich, befragt. Aber die meisten Schüler hören nicht zu. Sie lesen auch nicht mehr. Sie gehen lieber ins Netz.
Sie sind jüngst in die Académie française aufgenommen worden und gehören damit zu den 40 „Unsterblichen“, die sich der Pflege der französischen Sprache widmen.
Einer meiner berühmtesten Vorgänger auf Fauteuil 13 war der Dichter Racine. Nun folge ich ihm! Aber erstmal muss jetzt dieses traditionelle Kostüm für mich geschneidert werden. Außerdem bekomme ich einen richtigen Degen – als eine der wenigen Frauen. Das amüsiert meinen Mann köstlich.
Wie hat sich Ihre Beziehung in mehr als 60 Jahren verändert?
Früher sahen wir uns seltener, oder eben nur spätabends. Jetzt arbeiten wir beide hier in demselben Büro. Aber mein Mann geht meist etwas eher nach Hause. Wenn ich abends heimkomme und ihn Klavier spielen höre, geht mir das Herz auf. Wir genießen unsere Abende zu zweit, das gemeinsame Essen. Aber die Wochenenden sind für unsere Söhne, Enkel und Urenkel.
Mit ihnen waren Sie auch an der Gedenkstätte in Auschwitz.
Ich war froh, dass sie sich dafür interessierten, was mir widerfahren ist. Und dass sie verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Denn ich weiß: Sollte ich den Moment meines Todes bewusst miterleben, werde ich an die Deportation denken. Sie hat mein Leben bestimmt.
ZUR PERSON:
Simone Veil (81) war Gesundheitsministern in Frankreich, leitete als erste Frau das Europaparlament und ist Mitglied der Académie francaise. Auf MUT veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Sonntagsredaktion des Tagesspiegel , wo das Interview am 22.03.2009 erstmals erschien.
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