Ein neues Buch portraitiert junge Menschen, die etwas bewegt haben. Zum Beispiel Anja W. aus Eberswalde
Von Holger Kulick
Genau 15 Jahre ist es her, dass die brandenburgische Kleinstadt Eberswalde unrühmliche Geschichte schrieb. Hier kam es zu einem der ersten von mittlerweile über 135 Todesopfern rechter Gewalt nach der Wende: Amadeu Antonio Kiowa. Aber die Stadt hat daraus Lehren gezogen. So ging eine Schule mit einem mutigen Projekt voran.
Zunächst möchte sie gar nicht mit mir sprechen. So eine vorgehobene Stellung habe sie nicht verdient „zu viele waren gleichzeitig daran beteiligt“, sagt die 23-jährige. Erst nach einer Reihe Telefonate legt sie ihre Scheu ab, nachdem sie sicher ist, dass das, was sie mit bewegt hat, nur repräsentativ für viele Jugendliche stehen soll, die couragiert Denken und Handeln in ihren Kommunen verändert haben. Es geht um Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt, die oft nur von einzelnen engagierten Köpfen ins Leben gerufen oder vorangetrieben wurden, von Schülern kaum jünger als 15, 16 oder 17. Auch bei Anja W. war das so. Anja studiert mittlerweile Politikwissenschaft an einer ostdeutschen Universität, bis vor vier Jahren ging sie jedoch in Eberswalde zur Schule, auf das Finow-Gymnasium.
Und Eberswalde hat bis heute ein unrühmliches Kapitel Wendegeschichte zu verdauen, einer der ersten von nunmehr über 140 rassistisch motivierten Morden seit der deutschen Wiedervereinigung wurde hier verübt - von Jugendlichen in Anjas Alter. In der Nacht zum 25.11.1990 hatte eine Gruppe von acht Angolanern und Mozambiquanern gemeinsam fröhlich in einem örtlichen Gasthof getanzt. Sie befanden sich bereits auf dem Nachhauseweg, da lauerten der Gruppe bis zu 50 Jugendliche aus der rechten Skinhead- und Heavy-Metal-Szene auf, die „Neger klatschen“ wollten. Fünf bis acht 17-20jährige aus der Gruppe traten und stachen hemmungslos auf den 28-jährigen Angolaner Amadeu Antonio Kiowa ein, der erst 1987 als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen war und mittlerweile Vater einer kleinen Tochter war. Passanten, die das Opfer später am Boden liegen sahen schauten weg: „Ist ja nur ein Neger“.
Amadeu Antonio Kiowa
Einstieg durch eine AG Multikulturelle Interessen
Publik wurde die grausame Menschenjagd aber erst Wochen später - mit Langzeitfolgen für das Image der brandenburgischen Stadt. Bis heute wird Eberswalde oft in einem Atemzug mit Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda genannt. Orte, die in den neuen deutschen Ländern lange Zeit zu Symbolstätten von Rechtsradikalismus und Intoleranz wurden. 1990 war Anja W. allerdings erst acht Jahre alt und erfuhr vom Tod des Angolaners und den Folgen für Eberswalde erst, als in der neunten oder zehnten Klasse im Deutschunterricht ein Zeitungsartikel darüber gelesen wurde. Zu dieser Zeit, sie sagt, "eben mitten in der Pubertät, der Phase, wo man sich orientiert", merkte sie selber, wie sehr ihre Neugier für politische Zusammenhänge und Zeitgeschehen wuchs. Einem Aushang an ihrer Schule entnahm sie, dass sich eine "AG Multikulturelle Interessen" bilden wollte, angeregt durch eine Deutsch- und Geschichtslehrerin an der Schule, Carola Kluger. Deren Theater-AG hatte gerade Schiffbruch erlitten. Statt Kabaretterfahrungen wollten einige Schüler der Oberstufe mehr über Afrika erfahren, kristallisierte sich nach langen Diskussionen heraus. Eine Afrika-Woche wurde veranstaltet und Kontakte zu Hilfsorganisationen geknüpft, so zu der unabhängigen Entwicklungsgesellschaft Oikos, zur RAA (=Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V.) und der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Das war 1998/99.
Statt Almosensammeln ein Brückenschlag
Anja stieß aus Eigenantrieb zu der Gruppe, der allerdings selten mehr als vier, fünf oder sechs aktive Leute angehörten, erinnert sie sich, "aber manchmal ist so eine kleine Gruppe viel effektiver". Im Zusammenspiel mit ihrer Lehrerin wurde sie schon bald zu einer treibenden Kraft, um dem Projekt einen immer größeren Horizont aufzuzeigen: statt Almosensammeln für Projekte in Angola einen ganzen Brückenbau dorthin. Oikos bot sich als Vermittler an und suchte in der Hauptstadt Angolas Luanda eine potentielle Partnerschule: Posoca, ein Straßenkinderprojekt der methodistischen Kirche in Angolas Hauptstadt Luanda. Dort leben die meisten der fast vier Millionen Einwohner in Armut. Anja W's Ziel und das ihrer MitstreiterInnen war aber ein ganz lokales: "Dem alltäglichen Rassimus etwas entgegenzusetzen". Das Rezept: praktischer Abbau von Vorurteilen mittels einer Schulpartnerschaft, und das just mit dem Land, aus dem der in Eberswalde getötete Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa stammte, Schüleraustausch inbegriffen.
Deutsch-agolanische Handabdrücke
im Eingangsbereich des Finow-Gymnasiums
Das Finow-Gymnasium war schnell zu begeistern, schwieriger war es, mit Einrichtungen in Angola zu kommunizieren und hierzulande Förderanträge zu stellen. Denn für den Brückenbau nach Afrika wurden angesichts der hohen Reisekosten bis zu 35.000 (damals noch) D-Mark benötigt, die es von offiziellen Stellen kaum gab. Obwohl alle von Globalisierung reden, sind Finanztöpfe für die Klassenfahrtförderung nach Übersee immer noch Zukunftsmusik. Wäre nicht irgendwann Eberswaldes damalige populäre Polizeipräsidentin Uta Leichsenring auf Anja W. & Co. aufmerksam geworden (sie spendete spontan einen vierstelligen Betrag), geschehen wäre wahrscheinlich nicht viel. Aber nun war selbst der zurückhaltende Bürgermeister in Zugzwang und die Medien schalteten sich ein. Kein Wunder. Auf zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und im mühsamen Überredungsprozess regionaler und überregional schreibender Journalisten warb Anja W. mit ihren Mitstreitern für das schier utopische Projekt. Der Gruppe war klar: nach dem gelungenen Überzeugungsprozess in ihrer Schule musste auch in Eberswalde ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen werden, warum es wichtig ist, mehr über die Menschen in Angola zu erfahren und dort etwas von der Lebenswelt von Schülern in Deutschland zu zeigen.
Spritzkuchen aus Eberswalde
Bei der Vorbereitung halfen zahlreiche Klassen und Kurse der Schule mit. Die Schüler erstellten Bildmaterial über ihre Lebensgewohnheiten, drehten ein Video über ihren Schulalltag und übersetzten es ins Portugiesische und brachten neben 1700 mühsam gesammelten Dollar last not least auch das Rezept für Eberswalder Spritzkuchen als etwas typisch Deutsches mit nach Afrika. Außerdem wurde ein Wandbild entworfen, das in Luanda gemeinsam mit den Gastgebern umgesetzt werden sollte: Eine schwarze und einen weiße Hand reichen sich die Finger vor dem Erdball im Hintergrund, ein ähnliches Motiv entstand später im Finow-Gymnasium.
Deutsch-angolanisches Wandbild als
bleibendes Souvenir
Wegen der hohen Kosten konnten am Ende allerdings nur fünf Schüler aus der Arbeitsgemeinschaft, darunter Anja, eine Lehrerin und der Schulleiter die weite Reise zur Völkerverständigung antreten. Aber ein Anfang war gemacht, so mühselig alle Aufbauarbeit auch war. Allein das Spendensammeln habe immer wieder weit verbreiteten Rassismus bloßgelegt, schilderte mir schon vor vier Jahren die damals 19-jährige Anja Worm, das war kurz nachdem sie ihr Abitur bestanden hatte. Sie erfüllte mit Verve die Aufgabe, so viel Öffentlichkeit wie möglich für das Projekt zu schaffen und informierte auch mich als Reporter. Auf diese Weise begegnete ich ihr das erste Mal - wir saßen irgendwo bei leichtem Nieselregen in Eberswaldes Stadtzentrum, wo sie nicht überschwänglich, sondern zurückhaltend und höchst sachlich über das Projekt berichtete, das ihr richtiggehend ans Herz gewachsen war. Ihr Elan ging sogar so weit, dass sie privat an der Volkshochschule einen Portugiesisch-Kurs belegte, "um beim nächsten Angola-Austausch nicht nur auf das Reden mit Händen und Füßen angewiesen zu sein".
So selbstverständlich, wie ihr damals Multikultur war, um so mehr fielen ihr in der Vorbereitungsphase subtile Rassismen auf. Sprüche wie "Bimbos" oder "die leben doch hinter dem Busch" seien immer wieder gehörte Klischees gewesen, und die Bitte, gebrauchte Computer zu spenden, sei mitunter mit den Worten abgelehnt worden: "Wozu brauchen ausgerechnet die so was denn, wenn unsere Schulklassen noch nicht genug davon haben". Aber auch auf angolanischer Seite begegneten die Eberswälder Vorurteilen. So wurden in Luanda alle Weißen erst einmal als reich erachtet, und die Schüler mussten immer wieder klarmachen, dass trotz drängender Bitten der eigene Rucksack nicht ohne weiteres verschenkt werden kann, weil es sich auch in Deutschland niemand leisten könne, immer wieder neue Rucksäcke zu kaufen.
Neue Freunde in Angola
Loklapolitiker zierten sich
Am Ende der ersten zweiwöchigen Erkundungsreise nach Angola 2001 stand das Versprechen, eine Gruppe angolanischer Straßenkinder aus dem Straßenkinderzentrum Alegria für vier Wochen nach Eberswalde einzuladen. Das sollte im Sommer 2002 geschehen und wurde zum grandiosen Erfolg für das Image der Stadt - obwohl sich Bürgermeister und Landtagsabgeordnete zierten, gemeinsam mit den angolanischen Besuchern zusammenzutreffen. Verstehen kann das bis heute niemand so recht am Finow-Gymnasium. Aus Luanda wurden insgesamt neun Jugendliche und drei Betreuer für 14 Tage eingeladen und bauten eine Freundschaft, die Spuren hinterließ. Den Eingang des Gymnasiums Finow zieren seitdem Zeichen der Freundschaft mit den Fremden: Farbige Handabdrücke von dem Dutzend junger Gäste aus Luanda, die sich dort nach ihrem Gastaufenthalt verewigten. Die Überschrift: "Wir sind zwei Völker, sprechen zwei Sprachen, aber sind im Herzen Gottes vereint". In einer dauerhaft installierten „Zeitkapsel der Freundschaft“ wurden sogar Souvenirs von allen versenkt, um in Zukunft an diesen Brückenbau zu erinnern.
Zeitkapsel
Schwieriger Start mitten im Bürgerkrieg
Als ihr Projekt startete, herrschte noch Bürgerkrieg in Angola. Staatliche Stellen kooperierten nicht, Fingerspitzengefühl und gelegentlich kleine Bestechungsgelder waren gefragt. Heute ist der Bürgerkrieg zwar beendet, aber die Bedingungen vor Ort sind eher schlechter geworden. In der Schule in Luanda fehlen Milch, warme Mahlzeiten, aber auch praktische Dinge wie Papier. Die Kommunikation ist schwierig, Telefone funktionieren nicht und nicht einmal jeder zweite Brief kommt an. So häuften sich die Probleme, den Austausch überhaupt fortzuführen.
Um so mehr freuten sich die angolanischen Gäste, dass Ende August 2002 ihre Reise nach Eberswalde zu Stande kam. In der gemeinhin als ausländerfeindlich verrufenen Kleinstadt wurden sie so freundlich empfangen, "als wären wir Präsidenten", blickte Armenia, die Leiterin der Gruppe, zurück. Fast die gesamte Schüler- und Lehrerschaft hatte "Feuer gefangen" und stand applaudierend Spalier, als die Angolaner das Schulgelände in Eberswalde-Finow betraten. Auf einer Schautafel in den Gängen der Schule wurde öffentlich über die Lebensläufe der Besucher informiert, beispielsweise über den Kriegsflüchtling Miguel, der damals als 17-jähriger in Luanda die siebte Klasse besuchte, über den 16 jährigen José, den sein Stiefvater aus dem Haus geworfen hatte, oder über die 19-jährige Julia, die sich schon als Kind als Prostituierte Geld verdienen musste. Sie alle verfolgen nun ehrgeizige Berufsziele: Journalist, Ingenieur oder Lehrer wollen sie werden.
In Eberswalde wurde jeder von ihnen im Rahmen einer Patenschaft von einer Schulklasse betreut und nahm dort am Unterreicht teil - ein Schwerpunkt: Informatik. Dies war besonders wichtig, um für die Zukunft die Einrichtung von E-Mail-Konten zu erlernen. Dazwischen gab es zahllose Debatten über die Lage in Angola und die Geschichte der bitter umkämpften Rohstoffe des Landes - soweit die Sprachbarriere überwindbar war. Denn Portugiesisch spricht kein Eberswalder, Deutsch oder Englisch kaum einer der Gäste. Einzig eine junge Dolmetscherin stand zur Verfügung. Umso wichtiger wurden Gesten, Gesang und Körpersprache. Die Angolaner brachten ihren Gastgeber geduldig heimische Rebita-Tänze bei und erhielten im Gegenzug Unterricht im Wiener Walzer sowie Skateboardfahren. Anja W. ärgert sich heute ein wenig darüber, denn in der öffentlichen Darstellung wurde der Austausch oft nur auf solche Gesten reduziert, auf den Austausch von Rebita und Walzer. „Das ist auch ein generelles Problem vieler Multikulti-Feste, sie reduzieren zu viel nur auf die kulturelle Ebene und festigen auf diese Weise auch wieder Klischees“.
Tanzstunde
Das menschennähere sich gegenseitig Kennen- und Achten lernen sei dann nicht zwangsläufig die Folge. Dennoch: im Rückblick ist sich Anja zwar unsicher, „ob wir wirklich viel bewegt haben“, aber auch für sie steht außer Zweifel, dass der Ruf der Schule und von Eberswalde beträchtlich vom Eifer der Gruppe profitiert hat. Und Ausländerfeindlichkeit bekam niemand aus der Gruppe zu spüren, auch angefeindet wurde das Projekt nie. Dennoch wurden die Gäste vorsorglich etwas außerhalb von Eberswalde am nahen Grimmnitzsee einquartiert, allerdings weniger aus Furcht vor Fremdenfeindlichkeit, sondern aus einer ganz anderen praktischen Überlegung. In der Idylle konnte abends ungestört gemeinsam über alles Erlebte diskutiert werden, um einen befürchteten Kulturschock auf den täglichen Ausflügen besser zu verarbeiten. Denn für fast alle Gäste war dies die erste Auslandsreise überhaupt.
Ausflüge auch ins Schattendasein dieser Gesellschaft
Ausflüge führten bis ins Berliner Büro von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, aber auch in eine Suppenküche und zu einer Schuldnerberatung, um nicht die Schattenseiten dieser Gesellschaft zu übersehen. Dass sie bei einer Begegnung mit Aussteigerpunks auch auf freiwillige Schulverweigerer trafen, machte die Gäste aus dem fernen Afrika schier fassungslos. Für sie war es schließlich ein ungeheurer Wert, in einem Land mit 50 Prozent Analphabetentum überhaupt Unterricht zu erhalten. "Ich möchte am liebsten hier Mathematik und Physik studieren", sagte der durch eine Kinderlähmung gehbehinderte Muffoa. Dann wolle er als Lehrer bei sich zu Hause aufbauen, "was hier alles so toll funktioniert". Ein Miniwörterbuch, das er von einem seiner neuen Freunde geschenkt bekam, sei nun sein "Schatz", strahlte er am Ende gerührt. So wie bei ihm flossen bei nahezu allen am Ende Freuden- und Abschiedstränen. "Ich wollte nicht weinen, aber ich kann nicht anders!", klagte Armenia, die Direktorin der Schule für Straßenkinder in Luanda.
"Menschen wie Du und ich"
Wer vor der Begegnung noch abschätzig von "den Schwarzen" geredet habe, war durch die gemeinsame Zeit mit "Menschen wie Du und ich" eines Besseren belehrt worden. "Wichtig wäre es", klagte allerdings Schuldirektor Hartmut Mahling bei der Verabschiedung der angolanischen Gäste, "jetzt dafür zu sorgen, dass dieser Kontakt nicht abbricht und in eine zweite Stufe münden kann". Der engagierte Geografielehrer hatte sich nämlich angesteckt durch seine Schülerschar zum Ziel gesetzt, "in Luanda künftig praktische Hilfe zur Selbsthilfe anzustoßen". Beispielsweise schwebte ihm vor, dass dort im Kinderzentrum selbst etwas produziert werden kann, um Einnahmen zu erzeieln. Anja W. schmunzelt allerdings heute noch, wenn sie von so engagierter Zielsetzung hört: „Darüber reden war leicht, aber die meiste eigentlich Arbeit blieb eigentlich an uns in der AG multikulturelle Interessen hängen“.
Aus der Nachwendegeschichte gelernt:
Nicht nur Anja W. hat in Eberswalde Zivilcourage gezeigt
Schuldirektor Mahling zeigte sich allerdings damals schon bedrückt, dass auf Grund aller widrigen Umstände die Brücke auch schnell wieder einreißen kann: "Ich weiß nicht, wie viele von denen sich je wiedersehen"., eine Befürchtung, die sich bald als wahr herausstellen sollte. Briefe kamen eine Zeitlang gar nicht mehr an und auch der e-mail-Verkehr kam kaum in die Gänge. Die fortwährende Kommunikation als Voraussetzung für den Brückenausbau blieb hindernisreich und folglich mau. Dennoch geht das Schulprojekt bis heute weiter. In nahezu allen Fächern sind Afrikaelemente eingebaut, selbst in Mathematik fließen es Rechenaufgaben aus dem afrikanischen Marktalltag ein.
Neue Ziele: Eine Handelsbrücke...
In der Schüler AG Multikulturelle Interessen, die inzwischen „Amizade – Freundschaft“ heißt, sind neue Schülergenerationen mit von der Partie und Deutschlehrerin Kluger hat ihre Arbeit auf Simone Heilmann, eine Kollegin übertragen, damit der Geist der ersten Brückenbaujahre auf breiteren Schultern ruht. Erst im November/Dezember letzten Jahres war wieder eine sechsköpfige Schülergruppe aus dem Finow-Gymnasium vor Ort in Luanda, diesmal, um sich dort ganz offensiv als Entwicklungshelfer zu betätigen. Die Schüler wollen zukünftig eine Handelsbrücke aufbauen um Geld einzunehmen, damit Partnerschülern in Angola Englisch-Unterricht finanziert werden kann. Zu diesem Zweck sollen einheimische Produkte aus Luanda nach Eberswalde geschickt und dort von den Finow-Schülern vermarktet werden. Zunächst ist an leicht verschickbare Waren gedacht, leichte Bekleidung und Schmuck – sofern der Zoll sich nicht querstellt.
''Vergesst uns nicht!"
...und Hilfe zur Selbsthilfe, durch lernen im eigenen Land
In Luanda organisierten die deutschen Schüler noch etwas Außergewöhnliches - Lehrfahrten aufs Land, statt in ein anderes Land. Der Hintergedanke: die meisten Straßenkinder Luandas kennen nur ihre Großstadt, aber keine Landwirtschaft, die sollte ihnen nahe gebracht werden um ihnen vor Augen zu führen, welche Ausbildungsmöglichkeiten dort für sie winken. Erst die Besucher aus dem fernen Eberswalde haben diese Horizonterweiterung für ihre Altersgenossen in Luanda möglich gemacht. Dahinter verbirgt sich die Einsicht auf der deutschen Seite, dass eine solche neue Perspektive in Angola vermutlich mehr hilft, als der kurzzeitige Einblick in das vermeintliche Luxusleben von Eberswalde. Auf diese Weise bekommt die Brücke nach Angola immer mehr Verzweigungen, obwohl parallel die Verzweiflung wächst. Zwar wurden allen Partnern Internet-Accounts in einem örtlichen Internet-Cafe eingerichtet und Extra-Geld zum Bezahlen der Verbindungen hinterlegt, aber von einem kontinuierlichen Nachrichtenfluss kann immer noch keine Rede sein. Woran das liegt, weiß keiner so recht. „Hoffentlich hält die Schule das Projekt durch“, bangt Anja W., deren Herz noch immer an dem Austausch hängt, auch wenn sich ihr Betätigungsfeld in Halle längst geändert hat. Dort kämpft sie im Studierendenrat um Mittel für Projekte gegen Antisemitismus, der wie Rassismus längst in der Mitte der deutschen Gesellschaft grassiert. Vor einem Jahr hatte sie dort beinahe selbst einen rechten Schlägertrupp erlebt, der eine Veranstaltung an der Uni über Rechtsextremismus offenbar stürmen wollte. Die war aber kurz zuvor abgesagt worden, so zog die Horde von rund 40 Neonazis wieder ab, ohne auf potenzielle Opfer zu treffen. Politikwissenschaften studiert sie, mit sensiblem Gespür, wann Politiker Antisemitismus verbreiten.
Schultafel: "Unsere Gäste aus
Angola stellen sich vor..."
Über Politikerphrasen hat sie sich schon vor vier Jahren in Eberswalde aufgeregt. Damals begann auch gerade Bundestagswahlkampf, als die Angolaner zu Besuch kamen. Klar gibt es Ausnahmen, Bundestagspräsident Thierse hat das Eberswalder Projekt sogar ausgezeichnet. Doch es sei schade, dass die meisten anderen Politiker trotz Einladungen "nie zu solchen Projekten kommen würden“, schimpfte sie damals. Um dazu zu lernen, wie man Brücken baut zwischen Völkern und Kulturen? „Völliger Blödsinn“, sagt sie, denn sie akzeptiert diese Vokabeln heute nicht mehr: „Eben die Annahme, dass es Völker und Kulturen gibt, legt den Grundstein für Rassismus und Antisemitismus!“ Auch in diesem Sinne möchte sie Menschen gerne den Horizont erweitern und sie dazu bringen, über sich und ihre Vorurteile selbst zu reflektieren. Anjas Berufsziel ist inzwischen Journalistin. Was sonst?
Aus: Profil, Ansichten der Generation P, Hg. von Benjamin Gesing, Jochen Markett und Björn Richter, erschienen im Glück & Schiller Verlag 2005, im Vertrieb der Jugendpresse Deutschland & Servicestelle Jugendbeteiligung der Bundeszentrale für politische Bildung,
www.generation-p.de
©
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 25.11.2005