Wie bringt man Jugendliche mit Migrationshintergrund, die selbst bis zum Hals in Problemen stecken, dazu, ihren eigenen Antisemitismus und den ihres Umfeldes zu bearbeiten? Mit diesem Kunststück beschäftigen sich im Rahmen des Projekt-Verbundes „Living Equality“ die beiden Künstler Walter Gramming und Uschi Frank für die Kreuzberger Musikalische Aktion.
Von Simone Rafael
Die beiden Video- und Installationskünstler Walter Gramming und Uschi Frank sind vorsichtig mit dem Thema Antisemitismus. So vorsichtig, dass ihr Videokurs, der sich im Rahmen des Integrationshauses der Kreuzberger Musikalischen Aktion an arbeitssuchende Jugendliche unter 25 Jahren wendet, „Videokurs Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ heißt, obwohl die beiden damit erstmals versuchen, sich dem Thema „migrantischer Antisemitismus“ zu nähern. „Es ist unter den Jugendlichen hier so ein brisantes Thema mit so viel Aggressionspotenzial“, sagt Walter Gramming, und Uschi Frank ergänzt: „Und wenn wir zu diesem Thema arbeiten wollen, müssen wir erst das Vertrauen der Jugendlichen erwerben. Es nutzt nichts, gleich die ersten Diskussionen so zu gestalten, dass die jungen Männer und Frauen nicht mehr wiederkommen.“
Seit über zehn Jahren gestalten Walter und Uschi Workshops und Projekte für die Kreuzberger Musikalische Aktion, dem multimedialen Zentrum in Berlin-Kreuzberg zur Förderung medialer, sozialer und kultureller Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Die Idee zu diesem Videokurs entsprang einem Erlebnis am Rande eines Workshops gegen Gewalt. „Wir liefen am Jüdischen Museum vorbei“, erzählt Walter, „und plötzlich spuckten einige der Teilnehmer mit so einer Ernsthaftigkeit und Vehemenz gegen dort aufgestellte Gedenkschilder, dass uns ganz anders wurde.“ Erlebnisse dieser Art häuften sich, bis die Künstler beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Künstlerin Uschi F.
Im Oktober 2007 begann der Videokurs „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, der durch den Projektverbund „Living Equality“ unter Federführung der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Den Jugendlichen des Integrationshauses wurde angeboten, anhand der Themen Rassismus und Gewalt im Kiez das Arbeiten mit Video und Mikrophon zu erproben. Praktisch geben die beiden Künstler den Jugendlichen ein Forum, über eigene Erfahrungen zu spreche. Dabei regen sie ganz unauffällig zum Nachdenken, Recherchieren, kurz: zu einer verantwortlichen Auseinandersetzung mit in ihrem Umfeld schwierigen und oft sehr einseitig betrachteten Themen an.
Leben in der Tradition der Verwandschaft - mit Nischen
In Uschis und Walters Kurs sitzen zwei Mal in der Woche für zwei Stunden zehn junge Erwachsene zwischen 19 und 24 Jahren. Sie haben familiäre Bindungen nach Pakistan, in die Türkei, den Irak, Palästina und Angola, doch die meisten sind in der zweiten Generation in Berlin geboren. Sie sehen Deutschland trotzdem nur als zweite Heimat an, wollen aber alle hier bleiben. Die meisten haben nicht einmal einen Hauptschulabschluss, nur einer hat die Realschule, einer das Abitur geschafft. Sie leben in Deutschland den Regeln ihrer Familien unterworfen, auch wenn sie eigene Wege und Nischen suchen, um am Pluralismus der westlichen Welt teilzuhaben – wie etwa die junge Frau, die mit ihrem Mann bei den Schwiegereltern lebt und mit ihm gemeinsam das Haus verlassen muss, um heimlich mit ihren Freundinnen in die Disko zu gehen.
Wenig Chancen auf Wissen
Um mit den Jugendlichen warm zu werden, erkundeten Uschi und Walter zunächst die unmittelbare Umgebung der Kreuzberger Musikalischen Aktion rund um den Mehringplatz in Berlin. Es ist der Kiez, in dem die Jugendlichen selbst aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. „Die Lücken, die sich dabei in grundlegendem Bildungs- und Geschichtswissen auftun, sind einfach erschreckend“, sagt Uschi. Die Amerika-Gedenkbibliothek hatte gerade mal ein Teilnehmer zuvor von innen gesehen, keiner der jungen Erwachsenen wusste, dass sie sich hier kostenlos informieren können. Vor dem Willy-Brandt-Haus fiel einem ein, „der hat was mit der Mauer zu tun“, den anderen sagte der Name gar nichts.
Antisemitismus - praktisch selbstverständlich
Entsprechend bestehen auch die Antisemitismen, die die Jugendlichen bei Diskussionen über Vorurteile, Diskriminierung, Minderheiten oder Religion durchblicken lassen, aus einer Melange aus jahrzehntelang gelernten Worthülsen und schlichtem Unwissen. Antisemitismus ist so selbstverständlich, dass er nicht einmal offen geäußert wird. Während beim Besuch der christlichen Kirche am Halleschen Tor noch alle wenigstens kurz dabei waren, wird ein Besuch des Jüdischen Museums erst einmal rundheraus verweigert. Einige wollen sich das Gebäude nicht einmal von außen angucken. „Und als ein palästinensischer Teilnehmer erzählte, er habe ein Konzentrationslager besucht und danach verstanden, dass die Deutschen den Juden gegenüber eine große Schuld empfänden und es deshalb als Aufgabe getrachteten, den Antisemitismus anders zu sehen, gab es bei den anderen lange Gesichter“, erzählt Uschi. Nicht einmal das ist Konsens. Die Künstlerin ist auch in dieser Hinsicht überrascht vom Schulwissen der Jugendlichen: „Etliche wissen kaum etwas über die deutsche Geschichte oder das Schicksal der Juden in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus. Und das liegt nicht daran, dass es sie nicht interessiert. Denn sie wissen genauso wenig über die Hintergründe des Nahost-Konfliktes, der die meisten sehr interessiert.“
Lust wecken an einer differenzierten Meinung
An diesen Stellen haken Walter und Uschi ein. Sie vermitteln den Jugendlichen, „dass sie sich zur Geschichte stellen müssen, wenn sie in Deutschland leben wollen“, so Uschi, oder machen ihnen klar, dass sie die Erlebnisse, die die Jugendlichen etwa über Familie und Freunde mit dem Nahost-Konflikt verbinden, ernst nehmen, aber nicht als alleinige Wahrheit stehen lassen können, weil sie einseitig sind. Uschi und Walter wollen Lust wecken an einer fundiert gebildeten Meinung, aber auch, viel grundlegender, an einem offenen Gespräch. Dabei hilft die Video-Arbeit. „Mikrophon und Kamera geben eine Strukturierungshilfe“, sagt Videograph Walter, „sie spornen an, konkret und offen zu fragen und den Antworten auch zuzuhören.“ Das funktioniert im Kurs, wenn sich Moslems, Christen und Atheisten zu Religion befragen, aber auch bei den Straßeninterviews etwa mit Neuköllner Gewerbetreibenden über ihre Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit. Da wundern sich die Kursteilnehmer über die oft mangelhaften Deutschkenntnisse der vorherigen Generation und sprechen sich gegen religiöse Intoleranz oder Terrorismus aus.
An Interesse mangelt es nicht
Bis März 2008 wird der Videokurs gehen. Nachdem Uschi Frank und Walter Gramming nun das Vertrauen der Jugendlichen erworben haben, wollen sie das Hintergrundwissen der Teilnehmer vertiefen, Begegnungen mit jüdischen Jugendlichen anbieten und die jungen Erwachsenen schließlich anregen, die im Kurs geführten Diskussionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Eins zumindest wissen Walter Gramming und Uschi Frank schon jetzt: Ihr Projekt beschäftigt die Teilnehmer über den Kursraum hinaus. „Wir kriegen immer wieder neue Anfragen von Jugendlichen, ob sie noch teilnehmen können“, sagt Uschi, „offenbar hat sich herumgesprochen, dass es hier interessant ist.“
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