Im Rahmen des Praxis-Verbundes „Living Equality – Gleichwertigkeit (er)leben“ entwickelt das Zentrum Demokratische Kultur neue Strategien für die Arbeit gegen Rechtsextremismus in der Kommune. Die Erkenntnis der Experten um Bernd Wagner: Die Arbeit muss offensiver werden. Um die kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremen und ihrer Ideologie kommen Demokraten nicht herum.
Bernd Wagner ist der Leiter des Zentrum Demokratische Kultur. Der Diplom-Kriminalist und Kriminaloberrat a.D. arbeitet seit über 20 Jahren systematisch in den Themenfeldern Rechtsextremismus und Gewalt. Er gründete mit Ingo Hasselbach die Aussteigerinitiative EXIT-Deutschland und entwickelt seit 1997 mit dem ZDK Gegenstrategien gegen Rechtsextremismus. Mit ihm sprach Simone Rafael.
Für das Projekt „Demokratische Communities stärken – für Menschenwürde gegen Extremismus und Gewalt“ arbeitet das Zentrum Demokratische Kultur in Pretzien (Sachsen-Anhalt) und Fürstenwalde (Brandenburg). Warum in diesen beiden Orten?
Sie haben interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sie zu guten Beispiel-Kommunen machen. Beide sind ostdeutsche Kommunen und haben vor Ort einen Rechtsextremismus, der sich seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt hat und der sich offen präsentiert. Die Rechtsextremen haben sich in beiden Fällen die Orte als Betätigungsfeld ausgesucht, weil sie in der Bevölkerung eine Disposition zu rechtsextremen Einstellungen spürten. In beiden Orten gibt es aber auch schon seit langem Versuche, den Rechtsextremen entgegen zu treten. In beiden Orten gibt es gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus. Die Strategien waren unterschiedlich, aber für sich durchaus typisch.
In Fürstenwalde war die Entwicklung geradezu vorbildlich: Die Politik, der Bürgermeister, die Stadtverwaltung nahmen sich des Themas Rechtsextremismus an. Es wurde im Parlament verhandelt. Ein breites politisches Spektrum bildet seit Jahren ein zivilgesellschaftliches Bündnis gegen Rechtsextremismus. Viele Maßnahmen wurden entwickelt. In der Stadtverwaltung gibt es eine Koordinierungsstelle für diese Aktivitäten. Schulen und Jugendarbeit sind einbezogen.
In Pretzien hingegen wurde Rechtsextremismus zwar als Problem wahrgenommen, aber nicht benannt. Hier war es vor allem der Bürgermeister, der den Rechtsextremismus im Ort durch akzeptierende Jugendarbeit „regulieren“ wollte – was im großen Stil gescheitert ist. An die Öffentlichkeit drang dies, als im letzten Jahr auf einer Feier das Tagebuch der Anne Frank und eine amerikanische Flagge verbrannt wurden, ohne dass die Polizei einschritt. Was beide Kommunen wieder eint: In beiden ist der Rechtsextremismus trotz aller Bemühungen über die Jahre gewachsen und stärker geworden.
In beiden? Das ist überraschend und unschön. Deshalb ist es jetzt Zeit für neue Strategien?
Ja. Es geht um ein Konzept für Kommunen wie Pretzien und Fürstenwalde, wo ein grundsätzlicher Konsens existiert, dass es Rechtsextremismus im Ort gibt, dass er ein Problem ist und dass die Menschen im Ort etwas dagegen tun wollen. Nach Jahren der Arbeit gegen Rechtsextremismus müssen wir feststellen, dass die Rechtsextremen immer noch schneller sind, dass es ihnen besser gelingt, die Menschen anzusprechen. Die Arbeit gegen Rechtsextremismus muss neu aufgestellt werden, sie muss in die Offensive gehen, nicht nur reagieren, wie es bisher der Fall ist.
Wie soll diese Offensive der Demokraten funktionieren?
Dies herauszufinden ist Ziel unseres Projektes „Demokratische Communities stärken“! Bisher gibt es wenig Erkenntnisse. Ein Ansatz ist: Wir Demokraten müssen uns stärker inhaltlich mit rechtsextremer Ideologie auseinandersetzen, sie aufgreifen und zerpflücken. Wir müssen wirklich gut argumentieren können und dürfen vor Auseinandersetzungen keine Angst haben. Es nützt einfach nichts, nur zu sagen, dass die Rechtsextremen doof sind. Damit bewirke ich keine Orientierungsveränderung bei Menschen oder Gemeinschaften, die unentschlossen sind. Damit biete ich auch keine gutes Beispiel für gelebte Demokratie. Seit Jahren werden Rechtsextreme bei verschiedensten Gelegenheiten ausgeschlossen. Der Nachgeschmack ist oft schal. Viel überzeugender ist es, die inneren Widersprüche der rechtsextremen Ideologie offen zu legen, die Neonazis zu demontieren. Das Zentrum demokratische Kultur organisiert etwa Veranstaltungen an Schulen mit ausgestiegenen Neonazis, die aus ihrer Kenntnis der Szene und als Ergebnis ihres Nachdenkens Widersprüche aufdecken können. Es sind spannende Veranstaltungen, wenn da die Kameradschaftsszene vorbei kommt und versucht, den Referenten vorzuführen, und dabei ihre Argumentation in der Luft zerrissen wird.
Um sich das zuzutrauen, muss der Referent aber äußerst gut in der Materie bewandert sein.
Das stimmt. Ein bequemer Weg ist das nicht. Engagierte müssen sich informieren, sich fit machen. Die Kommunikation sollte aktiv-kämpferisch sein, eine Auseinandersetzung mit geschärftem Verstand und ohne Plattheiten. Dazu müssen Kompetenzen trainiert werden. Oft fehlt Wissen im geschichtlichen Bereich, über die Ideologie des Rechtsextremismus oder einfach über Methodik, wie so eine Auseinandersetzung geführt werden könnte. Dazu gibt es Experten, die Betroffene um Hilfe bitten können. Rechtsextremismus ist ein hochkomplexes Thema, das nicht nach Schema F bearbeitet werden kann, sondern immer individueller Lösungen vor Ort bedarf! Von einer Ausgrenzungsphilosophie halte ich nichts. Das ist ein schlechtes Vorbild und funktioniert im dörflichen Zusammenhang auch oft gar nicht, wo jeder jeden kennt, Rechte und Nicht-Rechte Tür an Tür leben und alle im gleichen Chor singen.
Bleiben wir bei diesem Beispiel: Was tun mit rechtsextremen Chor-Mitgliedern?
Bei allen Maßnahmen ist die Frage: Wie wirken sie auf die betroffenen Rechtsextremen, wie auf die anderen Menschen im Ort – gerade wenn es ein überschaubarer ist wie Pretzien mit seinen rund 900 Einwohnern? Statt die zwei rechtsextremen Chormitglieder hinauszuwerfen, haben die nicht-rechten Chor-Mitglieder sie vor ein Ultimatum gestellt: Überlegt Euch, wo ihr auf Dauer hin gehören wollt. Wollt ihr zu uns gehören oder zur rechtsextremen Kameradschaft? Dann könnt ihr nicht zugleich hier bleiben. Es wurde über Normen und Werte diskutiert: Denn schon, ob man nur deutsches Liedgut singt oder auch mal eine slowakische Weise, setzt ein Zeichen. Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist ein Kulturkampf im Alltag, um Normen und Werte! Die Rechtsextremen in diesem Chor sind inzwischen nicht mehr in der Kameradschaft aktiv.
Aber wenn sie beim Rechtsextremismus geblieben wären, hätte der Chor schon Konsequenzen ziehen sollen?
Natürlich. Es geht nicht um faule Lösungen wie: Wenn ihr hier nicht agitiert, könnt ihr bleiben. Es bedarf schon einer kritischen, aktiven Auseinandersetzung mit deutlichen Haltungen. Wenn dann keine Einsicht folgt, hätte man sie ausschließen müssen. Wichtig ist aber, dass zuerst das Gespräch gesucht wird, für praktische Fragen Lösungen und Alternativen angeboten werden
Wie soll die Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Ideologie vor Ort praktisch aussehen?
Wichtig ist, erst einmal – das ist eine grundlegende demokratische Form der Meinungsbildung – eine Diskussionskultur im Ort zu etablieren, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen sich Menschen austauschen können. Dafür muss man die Themen kennen, die die Menschen im Ort leidenschaftlich umtreiben, was oft bisher vor allem die Rechtsextremen tun. Als Themen haben wir derzeit ausgemacht: Deutsche Kultur – der Chor, die Dorffeste, die Traditionen des dörflichen Lebens, Museen, aber auch die Frage von Heimat und Geschichte, etwa in der Dorfchronik. Dann der Wirtschaftsstandort und die Lebensweise: Alle wollen friedliches, ruhiges Zusammenleben, kulturelle Blüte, Sicherheit und daraus erwachsend florierendes Handwerk, Gewerbe und Tourismus. Und dann ist da das Image des Ortes selbst: In Orten, in denen es rechtsextreme Vorfälle gab, führte das oft ganz praktisch zu Auftragsrückgängen für die lokale Wirtschaft. Deren Vertreter wollen im Endeffekt ihre Ruhe, erkennen jetzt aber, dass sie diese nur erreichen, wenn das rechtsextreme Problem bearbeitet statt verschwiegen wird.
Im nächsten Schritt geht es darum, anhand dieser Themen die zentrale Frage zu diskutieren, was es praktisch heißt, Demokrat zu sein. Welche Werte sind wichtig, und wie lebt man demokratische Werte? Dabei muss man die Widersprüche der Gesellschaft ansprechen, aushalten, sich damit auseinandersetzen. Ich halte nichts von Demokratiepropaganda. Vielmehr müssen wir demokratische Inhalte und Lösungswege für die Themen anbieten, die die Menschen interessieren. Orientierungshilfen bieten. Wenn die Rechtsextremen bisher die Ortschronik in der Hand hatten, geht es darum, zu schauen, wo sind Lücken, wo sind warum Themen ausgeblendet – und welche Folgen hat das für das Dorfleben bis heute?
Auch an der Diskussionsführung müssen wir oft arbeiten – wie findet man Lösungen für die Zukunft, statt sich etwa nach einem rechtsextremen Vorfall über die Schuldfrage zu zerstreiten? In jedem Dorf gibt es Fraktionen, die Eingeborenen, die Zugereisten, die Reichen und Armen, die Uralt-Nazi-Familien, die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter. Wie lassen sich Konflikte aus der Vergangenheit lösen, die heute die Kommunikation behindern?
Und wenn Menschen mit völkischen Meinungen zu den öffentlichen Veranstaltungen kommen, geht es eben nicht, sie reflexhaft aus dem Prozess auszuschließen, sondern sich anzusehen: Sind das glasklare Fanatiker und Strategen, oder sind das Suchende, die sich ein Argument auch noch überlegen?
Arbeiten Sie auch mit rechtsextremen Jugendlichen?
Nein, das machen örtliche Träger der Jugendsozialarbeit. Diese beraten wir allerdings auch beim Entwickeln von Strategien für ausstiegsorientierte Jugendarbeit.
Was heißt ausstiegsorientierte Jugendarbeit?
Es geht darum, in der Gruppe und im Einzelnen Zweifel zu sähen, Orientierungswidersprüche anzuregen, die Konfrontation zu suchen, ohne die Kommunikation aufzugeben. Dafür gilt es, Angebote zu machen, über die Ideologie und das eigene Verhalten nachzudenken, Distanz zu ermöglichen für eine Selbstanalyse. Die Homogenität der Gruppe soll gesprengt werden, Eigenständigkeit, Individualisierung, Selbstbestimmung ermöglicht werden.
Das Projekt „Living Equality – Demokratische Communities stärken“ ist auf zwei Jahre angelegt. Was sehen Sie als Ziel Ihrer Arbeit in Pretzien und Fürstenwalde an?
Die Kommunen sollen eine demokratische Selbstwirksamkeit erlangen, damit die Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltiger wird. Wir möchten Prozesse anstoßen, die nicht versanden. Wir setzen das Thema Rechtsextremismus auf die Tagesordnung, bis es Alltag wird, dass Rechtsextremismus ein Thema ist, mit dem sich alle gemeinsam auseinandersetzen müssen. Dann müssen Strategien entwickelt werden, damit umzugehen, die anschließend von den Akteuren gewusst, gelebt und ständig reflektiert werden. Damit dieser Prozess sich auch ohne Anstöße von außen weiter entwickelt, bauen wir Führungsautoritäten vor Ort auf und versuchen, Formen der Manöverkritik und der dichten Kommunikation zwischen den Akteuren zu etablieren. Unaufgeregte Alltagsarbeit gegen Rechtsextremismus statt aufgeregter Großaktionen, deren Wirkung, wie wir inzwischen wissen, schnell verpufft.
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