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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Zeitgleich zur zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer der NSU-Mordserie, auf der Bundeskanzlerin Angela Merkel die Familien der Opfer um Verzeihung bat, beteiligten sich Menschen im gesamten Land an einer Schweigeminute. Das erhoffte "bundesweite Signal" ist gelungen. Und dennoch, ein Signal ist nicht mehr als ein Zeichen, ein Symbol.
Von Ulla Scharfenberg
Alles begann mit einem kurzen Text, den der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf seiner Homepage veröffentlichte. Zusammen mit der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände wurde zu einer Schweigeminute für die Opfer der neonazistischen Mordserie aufgerufen. Parallel zur zentralen Gedenkfeier, die Ex-Bundespräsident Christian Wulff im Schloss Bellevue geplant hatte, die letztlich aber im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt stattfand, sollte die Arbeit niedergelegt werden, um ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls zu senden. Michael Sommer, DGB-Vorsitzender, und Dieter Hundt, Präsident der BDA, hoben hervor, dass es an der Zeit ist, ein Signal gegen menschenverachtende rechtsextreme Gewalt zu setzen: „Gewerkschaften und Arbeitgeber treten gemeinsam ein für ein Deutschland, in dem Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus keinen Platz haben. Wir hoffen auf ein bundesweites Signal und rufen alle gesellschaftlichen Akteure auf, sich in der ihnen möglichen Form an der Schweigeminute zu beteiligen.“
Bundesweit gedachten die Menschen heute den Opfern der NSU-Mordserie, Foto: Jürgen Pollak, c
Die Resonanz war riesig und in diesem Ausmaß nicht zu erwarten gewesen. Annelie Buntenbach, stellvertretende DGB-Vorsitzende, drückte ihre Freude über die große, bundesweite Beteiligung am Gedenken in ihrer Rede vor dem Berliner DGB-Haus am Hackeschen Markt aus: „Ich freue mich, dass so viele sich an der Schweigeminute beteiligen – die Resonanz ist überwältigend, das ist ein ermutigendes Zeichen für gelebte Demokratie.“ Überall in Deutschland waren Menschen dem Aufruf gefolgt und gedachten der Todesopfer. Der DGB veröffentlichte eine Liste von hunderten Unterstützern: Organisationen und Betriebe, Stadt- und Landesparlamente, Krankenhäuser und Kultureinrichtungen. Während der Schweigeminute standen in Berlin, Hamburg, Zwickau und weiteren Städten der öffentliche Nahverkehr, im Wolfsburger VW-Werk die Maschinen still. Es ist nicht möglich, alle Beteiligten zu nennen, im ganzen Land hielten die Menschen inne. Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall, freut sich: "Die breite Beteiligung in den Betrieben hat gezeigt, dass die Menschen Gewalt nicht akzeptieren. Der Schutz von Leib und Leben gilt für jedermann in unserem Land. Die Gefahren rechtsextremer Gewalt müssen endlich erkannt und konsequent verfolgt werden."
Annelie Buntenbach sprach vor dem DGB-Haus in Berlin, Foto: AAS, c
Für Annelie Buntenbach ist es entscheidend „nicht einfach wieder zur Tagesordnung“ überzugehen, „sondern dass endlich alle Fakten über den sogenannten »Nationalsozialistischen Untergrund« auf den Tisch kommen, auch wenn der Verfassungsschutz dabei wirklich keine gute Figur macht“. Die Nazi-Morde seien zudem nur die Spitze des Eisbergs der rechtsextremen Gewalt in unserem Land: „Die ist jahrelang nicht ernst genug genommen worden, immer starr die Augen auf den Feind links gerichtet, haben die Sicherheitsbehörden die massive Bedrohung durch rechtsextreme Gewalt systematisch unterzeichnet.“
„Rassismus lässt sich nicht durch bloßes »Zeichensetzen« überwinden“, stellt auch Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, in der Zeit fest: „Doch was wäre angemessen? Nicht nur distanzierte Trauer, wie man sie entfernten Fremden übermittelt, sondern echte, aufrichtige Trauer, als hätten wir etwas Eigenes verloren. Die Opfer des Terrors waren Einwanderer, also sollte man sich ihnen zuwenden; sie sind Teil der deutschen Gesellschaft und sollten als solche behandelt werden. Das bedeutet auch, anzuerkennen, dass es Barrieren dagegen gibt, sie als Gleiche zu sehen. Seit der Debatte um Thilo Sarrazins Thesen, in denen er Teilen der Bevölkerung genetische Ungleichheit zuschreibt, ist es schwer geworden, über ganz banalen Rassismus in Deutschland zu sprechen. Dabei ist er Alltag. Diskriminierungen sind nicht nur ein strukturelles Problem, sondern auch ein mentales, eines, das den Alltag derjenigen begleitet, die nicht »deutsch« aussehen.“
Im VW-Werk in Wolfsburg beteiligten sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an der Schweigeminute, Foto: IG Metall, c
Während sich Bürgerinnen und Bürger in der Holländischen Straße in Kassel versammelten, um vor dem Haus Nummer 82, dem ermordeten Halit Yozgat zu gedenken, sprach dessen Vater auf der zentralen Gedenkfeier im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ismael Yozgat hielt eine bewegende Rede: „Mein Sohn starb in meinen Armen am 6. April 2006 in dem Internetcafé, wo er erschossen wurde“ sagt er. Zu der angebotenen Entschädigung findet er klare Worte: „Ich möchte mich herzlich dafür bedanken, möchte aber sagen, dass wir das nicht annehmen möchten. Meine Familie möchte seelischen Beistand, keine materielle Entschädigung.“ Ismael Yozgat hat drei Wünsche, erstens, „dass die Mörder gefasst werden, dass die Helfershelfer und die Hintermänner aufgedeckt werden … Und unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß“. Außerdem wünscht er sich, „dass die Holländische Straße – unser Sohn Halid Yozgat ist in der Holländische Straße 82 geboren worden und er ist dort in dem Ladengeschäft umgebracht worden - dass diese Straße nach ihm benannt wird: Halid-Straße“. Zuletzt wünscht er sich, eine Stiftung zu gründen, er möchte „im Namen der zehn Toten, im Angedenken an sie“ krebskranken Menschen helfen.
Wie geht es weiter? Nach sechzig Sekunden Stillstand setzen sich die Räder der Straßenbahnen wieder in Gang, die Maschinen laufen an, die Menschen, die vor dem Gewerkschaftshaus am Hackeschen Markt zusammen gekommen waren, kehren an ihre Arbeitsplätze zurück. Der Moment des Gedenkens ist vorbei, der Alltag geht weiter.
Eine Schweigeminute ist auch immer ein Zeichen der Hilflosigkeit. Stille Anteilnahme darf den lauten Protest nicht ersetzen.