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Die bisherige Aufarbeitung des NSU-Komplexes läuft unter dem Label „Behördenversagen“. Die betroffenen Institutionen stellen die persönliche Schuld einzelner heraus, aber die täglich neuen Nachrichten über das Versagen, werfen die Frage nach dem System und dem Motiv dahinter auf.
Von Michael Kraske, debattiersalon.de
Deutschland ist nicht die Türkei. Hier das demokratische Musterland mit der parlamentarischen Nachkriegs-Erfolgsgeschichte, der Gewaltenteilung und den hohen Standards von Rechtstaatlichkeit. Da die argwöhnisch beäugte Türkei mit dem mächtigen Militär, Prozessen wegen „Beleidigung des Türkentums“ und den von der EU periodisch ausgemachten Demokratie-Defiziten.
In der Türkei ist das Wort vom „tiefen Staat“, vom Staat im Staate, kein Abstraktum, sondern Gegenstand von Strafverfahren. In einem Mammutprozess wurden Dutzenden Journalisten, Militärs und Politikern vorgeworfen, sich zum Sturz des Ministerpräsidenten Erdogan verschworen zu haben. Ein säkulares, ultra-nationalistisches Netzwerk namens Ergenekon soll im Untergrund über Jahre diesen „tiefen Staat“ organisiert haben, um die demokratisch legitimierte Regierung des islamisch geprägten Ministerpräsidenten zu bekämpfen. In den Anklageschriften ging es um konkrete Anschlagspläne und einen Putschversuch.
Es erscheint daher auf den ersten Blick absurd, wenn die Baden-Württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney sagt, den „tiefen Staat“ gebe es in Deutschland auch. Sie bezog die Aussage auf die Rolle deutscher Behörden im Komplex um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Der Fraktionsvorsitzende der baden-württembergischen CDU, Peter Hauk, warf ihr daraufhin vor, sie erschüttere absichtlich das Vertrauen von Einwanderern in den deutschen Staat. Nach massiver Kritik entschuldigte sich die Ministerin für den Vergleich. Doch der konservative Reflex demonstrativer Empörung ist voreilig und unangemessen.
In Anbetracht der vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) den Parlamentariern des NSU-Untersuchungsausschusses vorenthaltenen Akte über Uwe Mundlos, stellt sich die Frage, ob das Bild vom „tiefen Staat“ nicht doch geeignet ist, anhaltende Missstände im Land treffend zu beschreiben und zu erklären. Ein Sabotage-Akt überholt den anderen. Der MAD-Chef ist gerade erst aus dem Ausschuss abmarschiert, da erfahren die Abgeordneten, dass ihnen das Berliner Landeskriminalamt offenbar einen Aktenvermerk vorenthalten hat, der bereits im Jahr 2002 Hinweise auf den Aufenthaltsort des Terror-Trios enthalten haben soll. Die Behörden versuchen, eigene Fehler zu vertuschen und fragwürdige Praktiken wie die Zusammenarbeit mit Nazi-V-Leuten zu retten. Eine demokratische Farce.
Staatliche Kollaboration mit Nazis ohne Konsequenzen
Die Abgeordneten werden von deutschen Sicherheitsbehörden weiterhin – man kann es nicht anders nennen – verarscht. Der Verfassungsschutz des Bundes hat Akten vernichtet, auch das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz hat Akten über Rechtsextremismus vernichtet. Aktenvernichtung, die zeitnah auf Anfragen oder das Auffliegen der „Terror-Zelle“ erfolgt, lässt nur den Schluss zu, dass gezielt vertuscht werden soll, was so dringend der Aufklärung bedarf. Angesichts immer neuer Alleingänge, Vertuschungen und Verhöhnungen des Deutschen Bundestages gerät fast schon in Vergessenheit, dass der Thüringer Verfassungsschutz mit V-Mann-Geldern maßgeblich den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes finanziert hat, der brutale Überfälle auf Andersdenkende steuerte und in dem Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt zu Terroristen heran wuchsen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Kollaboration hatte bislang weder für die Behörde noch für deren befremdlich selbstherrlichen Ex-Chef Helmut Roewer Konsequenzen.
Die bisherige Aufarbeitung des NSU-Komplexes läuft unter dem Label „Behördenversagen“. Die betroffenen Institutionen stellen die persönliche Schuld einzelner heraus, aber das Vorenthalten von Informationen, die gezielte Vernichtung relevanter Akten, das Schreddern, Mauern und Vertuschen sowie die unheilvolle Praxis, Nazis für Informationen mit Geld zu sponsern, werfen die Frage nach dem System und dem Motiv dahinter auf. Gestellt wird diese Frage jedoch verblüffend selten, sie geht in der Gier nach neuen Sensationsgeschichten verloren. Die Monstrosität der NSU-Mordserie verleitet dazu, nicht nur die Taten der Terroristen als isoliertes, singuläres Phänomen misszuverstehen, sondern auch die Fehler und Versäumnisse der zuständigen Sicherheitsbehörden.
Wenn offen erörtert wird, ob es in Deutschland einen „tiefen Staat“ gibt, soll damit nicht die Verschwörung und Verbrüderung staatlicher Institutionen mit Neonazis behauptet werden. Hingegen lassen sich beunruhigende Indizien dafür finden, dass in Teilen der Polizei, Justiz und Politik eine unausgesprochene Übereinkunft darüber herrscht, Rechtsextremismus zu vertuschen und zu verharmlosen. Eine Art Staatsräson, in der das Image als saubere Demokratie Primat des Handelns ist. Oliver Decker ist Co-Autor viel beachteter Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zu rechtsextremen Einstellungen. Er konstatiert einen anhaltenden gesellschaftlichen Verdrängungs-Mechanismus: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es findet eine Verleugnung der Tatsachen statt, beseelt von dem Wunsch, dass die Realität sich diesem anpasst. (…) Auf dem rechten Auge wurde und wird ganz bewusst eine Klappe getragen – und wir laufen Gefahr, dass diese Erkenntnis ohne Konsequenzen bleibt.“
Das System hinter dem „Versagen“
Diese Zustandsbeschreibung ist keine haltlose Unterstellung, kein unbelegtes Pauschalurteil über staatliche Stellen, auch keine Gesinnungszuschreibung an deren Repräsentanten, die auf Kumpanei oder klammheimliche Sympathie mit Neonazis herausläuft. Mit solchen Verschwörungstheorien müsste sich die Gesellschaft nur ernsthaft befassen, wenn konkrete Fälle einen Verdacht begründeten. Die Fakten aber sprechen dafür, dass wir es gleichwohl nicht mit einem singulären, auf den NSU begrenzten Versagen Einzelner zu tun haben, sondern dass sich auf unterschiedlichen Ebenen, von der kleinen Kommune bis zu den Verfassungsschutzämtern, von der Polizei bis zu den Gerichten, Mechanismen als festes Handlungsmuster ausgeprägt haben, die dabei sind, die Fundamente unserer Verfassung zu untergraben. Es geht dabei um den ignorierten rechten Hintergrund von Tötungsdelikten, um geschönte Zahlen rechter Straftaten, um ritualisierte rechte Gewalt, die von der Polizei weder unterbunden noch als solche geahndet wird. Die einzelnen Versäumnisse mögen isoliert betrachtet als Petitessen erscheinen, aber sie folgen stets dem gleichen Muster. Dazu braucht es keine Verschwörung und keinen Masterplan. Es reicht eine Berufsroutine und eine Öffentlichkeit, die fragwürdige Urteile, Statistiken, Pressemitteilungen oder die unverschämte Missachtung von Parlamentariern nicht mehr skandalisiert, sondern als gegeben hinnimmt.
Der große Irrtum ist, einen singulären, auf den NSU-Komplex beschränkten Defekt staatlichen Handelns zu vermuten. Der Defekt ist nicht Ausnahme, sondern Alltag. Ein deutscher Gerichtssaal, Landgericht Leipzig, nach Auffliegen des Nazi-Terrors wohlgemerkt. Fünf junge Männer sind angeklagt, den Obdachlosen André K. zu Tode getreten zu haben. Sie zerfetzten mit Tritten sein Gesicht, brachen ihm die Rippen, übergossen ihn mit Bier, ließen ihn so schwer verletzt liegen, dass er an seinen Verletzungen verstarb. Obwohl sie ihn heimtückisch und wehrlos mit einem Tritt aus dem Schlaf rissen, ist nicht Mord, nur Totschlag angeklagt. In dem Prozess wurden abstruse Motive für ihre Tat diskutiert. Es ging um Schulden, die der Obdachlose angeblich bei einem der mutmaßlichen Täter gemacht hatte. Ganz so, als sei es üblich, einem Obdachlosen Geld zu leihen. Im Laufe der Verhandlung zerbröselte diese Version, nach und nach räumten Angeklagte ein, das mit den Schulden sei nur ein Vorwand gewesen. Auch der mutmaßliche Haupttäter hat klar gestellt, das Opfer habe keine Schulden bei ihm gehabt.
Eine Zeugin erinnert sich, dass einer der Angeklagten geäußert habe, man werde André K. suchen, allein deshalb, weil er obdachlos war. Ein Hinweis auf sozialdarwinistischen Menschenhass als Tatmotiv. Der Obdachlose als Asozialer, als Abschaum, den man fertig machen kann. Es gibt zahlreiche Referenzfälle, bei denen dem rechtsextremen Weltbild entspringender Menschenhass das Motiv war, einen Obdachlosen zu töten. Bei keiner anderen Opfergruppe wird das rechte Tatmotiv so häufig ausgeblendet wie bei Obdachlosen. Gerichte behandeln vergleichbare Fälle immer wieder wie unerklärliche Einzelfälle. Ebenfalls in Leipzig wurde im Jahr 2008 der Obdachlose Karl-Heinz Teichmann ermordet. Ein 18-Jähriger weckte den Schlafenden auf einer Parkbank, schlug ihn brutal zusammen und ließ ihn blutüberströmt liegen, kam zurück und gab ihm den Rest. Der Täter hatte am Abend zuvor an einer Mahnwache der rechtsextremen „Freien Kräfte Leipzig“ teilgenommen. Das Gericht ignorierte das. Obwohl selbst der Verteidiger in einem Interview den rechten Hintergrund einräumte, hieß es im Urteil: „Aus seiner schlechten Laune heraus störte ihn der Anblick des schlafenden Mannes, dessen Schlafplatz er willkürlich als unpassend bewertete.“ Selbst ein absurd konstruiertes Motiv ist manchem Richter noch lieber als rechten Menschenhass anzuerkennen.
Jetzt also André K. Ein neuer Fall, die gleiche Staatsanwaltschaft. Nach der Tat veröffentlichte die Antifa zwei Fotos des mutmaßlichen Haupttäters: Sie zeigen Ronny S. zusammen mit NPD-Aktivisten am Rande einer Demo. Und sie zeigen ihn sitzend unter einer Reichskriegsflagge. In der Akte der Staatsanwaltschaft fehlten diese Fotos jedoch. Die Ermittler waren dem Hinweis auf ein mögliches rechtes Tatmotiv nicht nachgegangen. Der Chefermittler argumentierte im Zeugenstand, schließlich seien während der Tat ja keine Parolen gerufen worden. Als sei nur von einer rechten Tat auszugehen, wenn ein Schläger seine Tritte mit „Sieg heil“-Rufen unterlegt.
Die Nebenklage, die das Opfer vertritt, stellte den Antrag, die Fotos während der Verhandlung als Beweismittel zuzulassen. Auch wollte sie klären, ob Tätowierungen eines Angeklagten Hinweise auf ein derart gefestigtes nationalsozialistisches Weltbild liefern können, dass dieses als handlungsleitend anzuerkennen sei. Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch kein Interesse, der Spur nachzugehen und unterstützte den Antrag nicht. Das Gericht lehnte den Beweisantrag mit der Begründung ab, etwaige Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung seien irrelevant. Und das, obwohl sowohl Ankläger als auch das Gericht bei dem Motiv nach etlichen Verhandlungstagen vollständig im Dunklen tappen.
Was nicht ermittelt wird, kann nicht verurteilt werden
Möglicherweise käme nach eingehender Prüfung der Nazi-Spur heraus, dass ein Täter zwar Nazi ist, das aber bei der Tat keine Rolle spielte. Doch dazu müsste man die Indizien überhaupt erst zur Kenntnis nehmen und prüfen. So schwebt das Verfahren in einem Zustand gewollter Ahnungslosigkeit: Ein plausibles Motiv gibt es nicht, aber man ist sich ganz sicher, dass es sozialdarwinistischer Hass auf Obdachlose auf keinen Fall sein kann. Was nicht ermittelt wird, kann aber auch nicht verurteilt werden.
Formaljuristisch ist der Fortgang des Verfahrens nicht zu beanstanden. Es werden Anträge gestellt, sie werden positiv beschieden oder abgelehnt. Die Täter werden wohl verurteilt werden. Der Grund aber, warum André K. auf bestialische Weise zu Tode getreten wurde, wird wohl nicht festgestellt werden. Konnte die Hauptverhandlung nicht abschließend aufklären, heißt es in solchen Fällen. Die Amadeu Antonio Stiftung wird ihn möglicherweise als verleugnetes Opfer rechter Gewalt in ihre Statistik aufnehmen. Das wars. Beim nächsten erschlagenen Obdachlosen wird die nächste Staatsanwaltschaft wieder ratlos sein. Ohne ersichtlichen Grund, wird es heißen, traten sie auf ihn ein.
Ein anderer Fall, ein anderer Haarriss nur. Im Mai informierte der Vorsitzende des sächsischen Vereins „Soziale und politische Bildungsvereinigung Limbach-Oberfrohna“ darüber, dass Neonazis wieder mal nachts mit Steinen und Flaschen das Vereinsheim angegriffen hätten. Seit Jahren werden die jungen Leute, die sich gegen Neonazis engagieren, Opfer rechter Gewalt. Ein Neonazi zündete ihr Domizil an. Die Nazis im Ort nennen sich Nationaler Widerstand oder Nationale Sozialisten, schmieren Hakenkreuze und Parolen. Die Stadtführung verurteilte linke und rechte Straftaten, obwohl es laut Polizeistatistik lange Zeit gar keine linken Gewalttaten gab.
Über den Angriff im Mai veröffentlichte die zuständige Polizeidirektion Chemnitz-Erzgebirge keine Pressemitteilung. Sehr wohl aber ausführliche Berichte über Bagatell-Unfälle mit Blechschäden. Auf Nachfrage rechtfertigte sich ein Polizeisprecher, es habe nichts auf eine rechte Tat hingedeutet. Zwar sei ein Fenster mit einem Stein eingeworfen worden, aber nicht bei einem Vereinsmitglied, sondern bei einem unbeteiligten Anwohner. Auch sei ja nicht „Sieg heil“ oder „Heil Hitler“ gerufen worden. Auf Nachfrage räumte der Sprecher allerdings ein, dass die Angreifer laut Anzeige gerufen hatten: „Zecken, kommt raus.“
Das Vereinsheim ist schon dutzendfach auf die gleiche Weise von Neonazis angegriffen worden. Längst ersetzen Bretterverschläge die zerstörten Fensterscheiben im Erdgeschoss. Nicht nur, dass die Polizei auch nach Jahren offenbar nicht in der Lage ist, die ritualisierte rechte Gewalt zu verhindern, sie täuscht die Öffentlichkeit auch weiterhin, indem sie nicht korrekt über Vorkommnisse wie das im Mai informiert. Das zerstörte Fenster behandelt sie als Sachbeschädigung. Ein weiterer Fall, der in der offiziellen Statistik rechts motivierter Straftaten fehlen wird. Das Revier im Ort ist unterbesetzt, zwischenzeitlich sollte es sogar verlegt werden. Das erklärt, warum die Polizei oft zu spät kommt, aber es erklärt nicht, warum rechte Gewalt verleugnet wird. Undenkbar, dass ein Angriff auf eine Taxizentrale ähnlich lax verfolgt wird wie permanente Gewalt gegen junge Leute mit bunten Haarsträhnen.
Das unheilvolle Eigenleben staatlicher Behörden
Mit Versagen sind diese Vorgänge unzutreffend beschrieben, weil damit die absichtsvolle, routinemäßige Systematik verloren geht. In jedem Fall bleiben diese Praktiken folgenlos, weil sie von den Medien nicht skandalisiert werden. Die Lokalzeitungen verbreiten staatstragend die Darstellungen der Polizei, anstatt offenkundige Widersprüche anzuprangern. Das ist bei den Verschweigern, Aktenvernichtern- und Vorenthaltern von Verfassungsschutz und MAD anders. Alles, was direkt mit der „Terrorzelle“ zu tun hat, ist für die Medien Skandal genug, um darüber zu berichten. Was fehlt, ist auch hier die Systemfrage. Die Bundestagsabgeordneten Pau (Die Linke) und Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) haben sich massiv darüber beklagt, vom MAD trotz mehrfacher Nachfrage irregeführt und getäuscht worden zu sein.
Der demokratiegefährdende Skandal ist, dass sich Verfassungsschützer und Geheimdienstler über die gewählten Parlamentarier erheben, dass sie selbst entscheiden, worüber sie informieren und was sie besser verschweigen. Diese Willkür offenbart einen eklatanten Mangel an demokratischer Loyalität, zugleich auch einen derart eklatanten Mangel an Kontrolle, dass als Konsequenz sowohl die Aufgabenbereiche, als auch die Struktur und vor allem die parlamentarische Kontrolle der beteiligten Behörden in Bund und Ländern überprüft und korrigiert werden müssten. Verfassungsschützer werden von uns bezahlt, sie haben ohne Wenn und Aber den Parlamentariern zu dienen.
So weit die Theorie. In der Praxis sieht es ganz anders aus. Die Verfassungsschutzämter führen ein Eigenleben. Was genau sie mit welchen Methoden machen, wissen oft nicht mal die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommissionen (PKK). Vernichtung und Horten relevanter Akten sind Akte der Selbstermächtigung, die keine Demokratie dulden darf und die nicht mit Bauernopfern erledigt sein dürften. Das Primat der Parlamente muss hergestellt werden. Nichts spricht dafür, dass dies im Zuge des NSU-Komplexes geschieht. Die Architektur unserer Institutionen, die Geheimniskrämerei, Willkür und Alleingänge befördert, bleibt unangetastet.
Was aber ist das Motiv, wenn Verfassungsschützer, Innenminister, Staatsanwälte, Richter, Bürgermeister oder Polizisten in Bezug auf den Rechtsextremismus nicht das machen, wofür sie von uns bezahlt werden, sondern eigene Maßstäbe anlegen? Wer nicht an eine Verschwörungstheorie glaubt, muss differenziert antworten. Unbestritten gibt es ein politisches Interesse, das Problem Rechtsextremismus kleiner erscheinen zu lassen als es ist. Kein Bundesland wünscht sich einen Anstieg der rechten Straftat-Fallzahlen. Gut dokumentiert ist der Fall der Staatsschützer aus Sachsen-Anhalt, die kalt gestellt wurden, weil sie rechte Straftaten konsequent verfolgten und so einen Anstieg der Fallzahlen provozierten. Plötzlich war Sachsen-Anhalt in der Statistik ganz vorn, Politiker fürchteten den Ruf als braune Hochburg. Nicht die braunen Zustände sollten verändert werden, nur die Statistik.
In diesem Fall ist die politische Einflussnahme erwiesen. Öffentlich wurde der Skandal nur, weil sich die mutigen Polizisten der Presse anvertraut hatten. Sie bezahlten für ihren Mut einen hohen Preis. Sie wurden strafversetzt. Man darf also annehmen, dass vergleichbare politische Einflussnahme zumeist unbemerkt bleibt. Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Ob es bei mutmaßlich rechten Tötungsdelikten direkte Anweisungen aus Ministerien gibt, was wie angeklagt werden soll, kann nur vermutet werden. Aussagen etwa des sächsischen Innenministers in einem Mordfall an einem jungen Iraker belegen jedoch, dass bei spektakulären Fällen durchaus offensiv eine politische Deutungshoheit angestrebt wird, die ein Staatsanwalt nur schwer ignorieren kann. Auch Polizisten wissen, dass sie sich mit der Einordnung einer Straftat in den Bereich der politischen Kriminalität viel Ärger machen können. Lästige Reporterfragen gehören dazu, aber auch Rechtfertigungsdruck gegenüber Vorgesetzten.
Stille Übereinkunft zur Verharmlosung
Studien belegen, dass rechtsextreme Einstellungen kein Randphänomen sind. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit findet sich zunehmend auch bei den Eliten. Ausländerfeindlichkeit, Rassismus oder die Abwertung von Obdachlosen sind demnach auch unter Juristen und Polizisten verbreitet. Immer wieder berichten Opfer rechter Gewalt von rassistischen Äußerungen von Polizisten oder wie sie selbst zu Tätern gemacht werden. So blauäugig es wäre, zu unterstellen, in den Behörden sei man immun, so unbegründet ist die Unterstellung flächendeckenden Sympathisantentums mit dem Neo-Nationalsozialismus.
Der Reflex, auf rechte Gewalt oder organisierte rechte Strukturen mit Verleugnung zu reagieren, ist gleichwohl weit verbreitet. Die Sorge um den guten Ruf der eigenen Stadt oder des heimischen Vereins verbindet sich mit der Sehnsucht nach Ruhe, die nicht den rechten Verursacher von Gewalt und Hetze ins Visier nimmt, sondern denjenigen als Ruhestörer und Nestbeschmutzer brandmarkt, der sie kritisiert oder öffentlich macht. Diese Art der Problembewältigung durch Umdeutung durchzieht alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche: Schulen, Vereine, Kommunen, Gerichte. Es gibt eine Übereinkunft, eine Art ungeschriebene Staatsräson. Die besagt, Rechtsextremismus nicht zu hoch zu hängen, bloß nicht aufzubauschen, keine schlafenden linken Hunde oder Reporter zu wecken.
Da sind nun also ganz verschiedene Motive für einseitige Ermittlungen, geschönte Statistiken, gezielte Desinformation und fragwürdige Urteile: politischer Druck, vorauseilender Gehorsam, rechtsextreme Einstellungen, Sorge ums Image, Schadensbegrenzung bei eigenen Fehlern. Die Beweggründe mögen variieren, kombiniert oder einzeln das Handeln der Akteure bestimmen. Jeder einzelne ist inakzeptabel. Allen gemein ist, dass sie zu einer kollektiven Übereinkunft führen, Phänomene des Rechtsextremismus nicht nach den jeweiligen Standesregeln zu behandeln, sondern taktisch, voreingenommen und abwiegelnd. Weder sind die Akteure dieses Kartells der Verharmloser alle miteinander verbunden oder gar verschworen, noch werden sie zentral gesteuert.
Schluss mit blindem Vertrauen
Das ändert nichts an ihrem unausgesprochenen common sense, an einem speziellen modus operandi in Sachen Rechtsextremismus, der Dienstvorschriften und dem Geist des Grundgesetzes widerspricht. In Polizei, Justiz und Politik wird nicht flächendeckend danach gehandelt, aber doch so systematisch, dass sich jede Einzelfall-Hypothese verbietet. In diesem Sinne kann man von einem „tiefen Staat“ sprechen: Als einem System, das unterhalb der geltenden Vorschriften und Gesetze ein Eigenleben führt. Man kann das ganz unspektakulär Tradition und Routine nennen. Entscheidend ist nicht das Label, sondern wie wir mit dem Wissen um diese gravierenden, anhaltenden Verfehlungen unserer Institutionen und ihrer Repräsentanten umgehen.
Es geht also nicht darum, die große Verschwörung aufzudecken. Es geht darum, dass vor dem Gesetz alle gleich sein müssen und dass bei Straftaten das tatsächliche Tatmotiv festgestellt, geahndet und veröffentlicht wird. Es geht um korrekte Statistiken und eine wahrhaftige Beschreibung der Zustände im Land. Es geht nicht darum, gegen Neonazis in besonderer Weise vorzugehen, sondern im Gegenteil darum, für sie keine Ausnahmen zu machen. Es geht darum, dass die, die wir bezahlen, das machen, wofür wir sie bezahlen. Es geht mit den Vorgängen rund um den NSU los, darf damit aber nicht aufhören. Es geht schließlich nicht darum, gegen eine diffuse Atmosphäre im Land vorzugehen, sondern gegen systematisches, sehr konkretes Fehlverhalten. Die Zeit blinden Vertrauens muss vorbei sein. Institutionen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen oder sich demokratischer Kontrolle entziehen, gehören umgebaut oder abgeschafft. Wer aus Unwissen Fehler macht, muss geschult werden. Wer absichtsvoll handelt, muss weg. So wie es ist, darf es nicht bleiben.
Michael Kraske ist Journalist und Buchautor u.a. von "Und morgen das ganze Land - Neue Nazis, befreite Zonen und die tägliche Angst; ein Insiderbericht" (Herder) sowie Mitbegründer des Politblogs debattiersalon.de. Michael Kraske wurde mehrfach für seine Berichterstattung über Ostdeutschland und Rechtsextremismus ausgezeichnet.
Der Artikel erschien zu erst auf debattiersalon.de erschienen.