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Mit dem Buch von Heike Radvan liegt nun eine Studie vor, die zum ersten Mal die pädagogischen Umgangsweisen mit Antisemitismus in der Jugendarbeit qualitativ-empirisch untersucht und wissenschaftlich fundierte Handlungsperspektiven entwirft.
Von Prof. Dr. Wolfram Stender, zuerst erschienen auf socialnet.de
Heike Radvan: Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2010. 292 Seiten. ISBN 978-3-7815-1746-2. 32,00 EUR. Reihe: Klinkhardt Forschung.
Kaum ein pädagogisches Handlungsfeld ist moralisch so überladen und durch unbewusste Ambivalenzen, Ängste und Schuldgefühle verzerrt wie das des Umgangs mit Antisemitismen bei Jugendlichen. Entsprechend groß ist die Unsicherheit, aber auch die Tendenz zu Überreaktionen auf Seiten der Pädagog/innen, zumal Antisemitismus auch in adoleszenten Kommunikationszusammenhängen zunehmend aus seiner Latenz heraustritt und wieder offenere Formen annimmt. Wiederkehrend haben Praktiker/innen aus Schule und Jugendarbeit in den letzten Jahren auf diese Tendenz hingewiesen und, zum Teil mit hoher medialer Resonanz, Unterstützungsbedarf signalisiert. Mit dem Buch von Heike Radvan liegt nun eine Studie vor, die zum ersten Mal die pädagogischen Umgangsweisen mit Antisemitismus in der Jugendarbeit qualitativ-empirisch untersucht und wissenschaftlich fundierte Handlungsperspektiven entwirft.
Autorin
Die Autorin studierte Sozialpädagogik/arbeit und arbeitet seit 2002 in der Amadeu Antonio Stiftung. 2009 promovierte sie mit der hier vorgestellten Studie an der Freien Universität Berlin, an der sie auch als Lehrbeauftragte im Studiengang „European Master in Intercultural Education“ tätig ist.
Entstehungshintergrund
Charakteristisch für die qualitative empirische Forschung über aktuelle Formen des Antisemitismus ist die enge Koppelung an die pädagogische Praxis und Jugend- bzw. Erwachsenenbildungsarbeit. Die Forschung ist entweder aus der Praxis entstanden oder für sie gedacht. Dies gilt auch für die Arbeit von Heike Radvan. Ihr Forschungsinteresse, so schreibt sie einleitend, gehe auf Praxiserfahrungen zurück: „Praktiker der Bildungs- und Jugendarbeit berichteten in der Amadeu Antonio Stiftung über antisemitisch konnotierte Äußerungen von Jugendlichen“ und zeigten sich verunsichert, wie mit diesem Phänomen umzugehen sei (S. 9). Was aber soll man den Pädagog/innen raten? Wie kann man sie im Rahmen der Aus- und Weiterbildung sinnvoll unterstützen? Dies ist die eminent praktische Frage, die der Studie von Radvan zugrunde liegt.
Aufbau
Im formalen Aufbau entspricht das Buch den Gepflogenheiten akademischer Qualifikationsarbeiten. Im ersten Teil, der drei Kapitel umfasst, stellt die Autorin zunächst den Stand der Fachdiskussion zum pädagogischen Handeln in der Jugendarbeit im Allgemeinen, zu den methodischen Zugängen zum Phänomen des Antisemitismus bei Jugendlichen im Besonderen dar (Kap. 1), entwickelt dann eine empirisch brauchbare Arbeitsdefinition zum Antisemitismus (Kap. 2) und präsentiert die methodische Anlage der Studie (Kap. 3). Im zweiten Teil, der vier Kapitel umfasst, werden die empirischen Untersuchungsergebnisse (Kap. 3 – 6) dargestellt und in ihren Perspektiven für die Aus- und Weiterbildung reflektiert (Kap. 7).
Inhalt
Mit Blick auf den Forschungsstand wird schnell deutlich, dass Radvan mit ihrer Studie wissenschaftliches Neuland betritt. Zu der Frage nach dem pädagogischen Umgang mit Antisemitismus bei Jugendlichen lag bislang – neben dem für die Fachdiskussion insgesamt initialen Sammelband „Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus“ (2006) und dem daran anschließenden Band „Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis“ (2010) – lediglich der Forschungsbericht „’Ich habe nichts gegen Juden, aber…’ Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus“ vor, verfasst von Barbara Schäuble und Albert Scherr (2007). Während Schäuble und Scherr den Antisemitismus bei Jugendlichen am empirischen Material von Gruppeninterviews untersuchen, um so zu Schlussfolgerungen für das pädagogische Handeln zu kommen, wendet sich Radvan direkt den pädagogischen Umgangsweisen mit adoleszenter Judenfeindschaft zu.
Innovativ ist die Studie aber nicht nur in ihrer Forschungsfrage, sondern auch in der theoretischen und methodischen Herangehensweise. Zum ersten Mal werden hier die von Klaus Holz an klassischen antisemitischen Texten und von Thomas Haury am weltanschaulichen „Antisemitismus von links“ herausgearbeiteten semantischen Strukturelemente an alltagssprachlichen Elaboraten überprüft. Es ist der Schritt von einer Rekonstruktion der – mit Luhmann formuliert – „gepflegten Semantik“ schriftlich ausgearbeiteter antisemitischer Texte hin zur Analyse der „ungepflegten Semantik“ des Alltagsantisemitismus, den Radvan vollzieht. Zwar bleiben die semantischen Generierungsregeln des Antisemitismus auch im ‚Claireobscure’ der Alltagssprache gültig, erscheinen aber eigentümlich fragmentiert. In Anlehnung an Roland Barthes spricht Radvan von „antisemitischen Mythen“, die als „fragmentierte Elemente“ in der Alltagskommunikation „aufscheinen“ (S. 86f.).
Wie es der Autorin im zweiten Teil der Studie gelingt, am empirischen Material der Interviews mit Sozialpädagog/innen semantische Strukturmerkmale nachzuweisen, die denen antisemitischer Texte gleichen, bildet zweifellos das Glanzstück des Buches. In ihrem Sprechen über den Antisemitismus bei Jugendlichen verwendet ein Teil der interviewten Pädagog/innen exakt jene semantischen Strukturelemente der Dichotomisierung, Ethnisierung, Generalisierung und Personifizierung, die eben auch den Antisemitismus kennzeichnen. Und auch die fragmenthafte Verwendung antisemitischer Mythen – die abwertende Zuschreibung von Raffgier, Rachsucht und Macht bis hin zur Darstellung der „Juden“ als Täter und der „Deutschen“ als Opfer – lässt sich am empirischen Material nachweisen. So aber verstärken die Pädagog/innen ungewollt und unerkannt die antisemitischen Differenzkonstruktionen, die sie doch ihrem anti-antisemitischen Selbstverständnis nach bekämpfen wollen – ein Befund, der gerade für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit und deren Schwierigkeit, selber nicht antisemitisch zu sein, von höchster Relevanz ist.
Es wäre allerdings ein Missverständnis, Radvans Studie auf eine Entlarvungsarbeit zu reduzieren. Der Autorin geht es darum, pädagogische Beobachtungshaltungen herauszuarbeiten, die antisemitismuskritische Handlungsmöglichkeiten entweder eröffnen oder blockieren. Beobachtungshaltungen „spuren“ pädagogische Interventionswege „ein“; sie strukturieren die Handlungspraxen. Da es sich bei den Beobachtungshaltungen aber in der Regel um Formen eines habitualisierten Wissens handelt, das den Akteuren selber nicht bewusst ist, bedarf es einer spezifischen Methode der Rekonstruktion. Für diese bildet die praxeologische Wissenssoziologie in der Tradition von Karl Mannheim den begrifflichen und methodologischen Referenzrahmen. Die von Ralf Bohnsack in Fortführung der praxeologischen Perspektive systematisch ausgearbeitete dokumentarische Methode ermöglicht es Radvan, anhand der Gesprächsprotokolle von 13 ausgewählten Interviews – insgesamt lagen der Studie 21 narrative Interviews mit Mitarbeiter/innen von Berliner Einrichtungen der offenen Jugendarbeit zugrunde – das handlungsstrukturierende Wissen der Jugendpädagog/innen zu explizieren. Auf dem Analyseniveau der sinngenetischen Typenbildung – die sozio- wie auch die psychogenetische Interpretation wird ausgeklammert (siehe unten) – unterscheidet die Autorin drei Beobachtungsformen.
In der stereotypisierenden Beobachtungsform reden die Pädagog/innen über die Jugendlichen in einer generalisierenden, (ab)wertenden und von ethnisierenden Zuschreibungen durchsetzten Weise. Die pädagogische Beziehung wird hierarchisch gestaltet und der Umgang mit adoleszentem Antisemitismus auf belehrende Wissensvermittlung reduziert, die sowohl das kommunikative als auch das alltagspraktische, konjunktive Wissen der Jugendlichen ignoriert.
Demgegenüber wird in der immanenten Beobachtungsform sowohl auf das kommunikative Wissen der Jugendlichen Bezug genommen als auch eine egalitäre Form pädagogischer Beziehung artikuliert. Dies geschieht aber in einer Weise, die ihrerseits die antisemitischen Differenzkonstruktionen der Jugendlichen verfestigt. Das Problem liegt hier genau umgekehrt zur stereotypisierenden Beobachtungsform. Während diese aus einer Position abstrahierender Distanz die Jugendlichen wahrnimmt, übernimmt jene aus einer Position unreflektierter Nähe affirmativ die Stereotypisierungen der Jugendlichen. Das Gemeinsame dieser sich konträr gegenüberstehenden Beobachtungsformen besteht darin, dass sie darauf verzichten, sich in das alltagspraktische Erfahrungswissen der Jugendlichen einzuarbeiten und dieses als Korrektiv zu den ideologischen Differenzkonstruktionen einzusetzen.
Genau dies leistet die rekonstruktive Beobachtungsform. Diese bezieht sich auf die kommunikativen Äußerungen der Jugendlichen, fragt aber zugleich nach den Funktionen und Kontexten, in der diese für sie stehen. Es handelt sich um eine „Suchhaltung“, die den Geltungsanspruch ideologischer Differenzkonstruktionen mit Bezug auf den alltagsweltlichen Erfahrungshorizont der Jugendlichen hinterfragt, ohne dabei allerdings die auf Anerkennung und Verständnisinteresse beruhende pädagogische Beziehung aufs Spiel zu setzen.
Es ist dann schließlich nicht mehr überraschend, dass Radvan die praktische Ausgangsfrage ihrer Untersuchung – wie sollen Pädagog/innen mit adoleszentem Antisemitismus umgehen? – mit Hinweis auf die rekonstruktive Beobachtungs- und Interventionshaltung beantwortet. Pädagogisches Handeln müsse die „praxeologische Brechung“ der antisemitischen Differenzkonstruktionen anstreben (vgl. S. 221ff.). Gemeint ist damit, dass der erfahrungsblinden Gewalt des Alltagsantisemitismus pädagogisch nur mit Bezug auf die konkreten Erfahrungsräume der Jugendlichen und auf die Funktionen und Kontexte der von ihnen geäußerten und praktizierten Antisemitismen begegnet werden kann.
Versucht man die praktischen Schlussfolgerungen der Studie von Heike Radvan abschließend in einem Begriff der antisemitismuskritischen Kompetenz zusammenzufassen, so müsste dieser praktisches Können, theoretisches Wissen und berufsethische Haltung in eine Synthese bringen: Ein/e antisemitismuskritische/r Sozialarbeiter/in wäre in der Lage, ihr/sein theoretisches Wissen über Antisemitismus und ihre/seine menschenrechtsorientierte Berufsethik im praktischen Können einer rekonstruktiven Beobachtungs- und Interventionshaltung so zu realisieren, dass den Adressaten ihrer/seiner Arbeit Deutungs- und Handlungsoptionen jenseits antisemitischer und anderer ideologischer Differenzkonstruktionen ermöglicht werden. Diese Kompetenz ließe sich in der Aus- und Weiterbildung am besten im gemeinsamen reflexiven Arbeiten an konkreten Fällen antisemitischer Alltagsgewalt erwerben.
Diskussion
Eine Grenze der Arbeit von Radvan besteht in der Fokussierung auf die sinngenetische Rekonstruktion. Die sozio- und auch psychogenetische Interpretation ist aber gerade beim Thema Antisemitismus unverzichtbar. Zu erinnern ist an das Diktum Sartres, dass der Antisemitismus gleichzeitig eine Weltanschauung und eine Leidenschaft ist. Gerade wenn man antisemitische Elaborate differenztheoretisch als Einheit von Selbst- und antijüdischem Feindbild begreift, ist die Affektbasis der Differenzkonstruktionen zu thematisieren. Das Selbstbild hat, um das mindeste zu sagen, immer eine kollektiv-narzisstische Funktion, die mit der aggressiv-destruktiven Besetzung des Feindbildes korrespondiert. Die Erkenntnis, dass es sich nicht nur beim weltanschaulichen Antisemitismus, sondern auch bei den fragmentierten Mythen des Alltagsantisemitismus um affektiv besetzte Differenzkonstruktionen handelt, fehlt bei Radvan – wie übrigens auch schon bei Holz. Dies ist folgenreich auch in den pädagogischen Schlussfolgerungen. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit muss die Wunsch- und Angstbasis antisemitischer Alltagsgewissheiten inhaltlich und methodisch ernst nehmen, wenn sie nicht in den Engpässen kognitivistisch halbierter Lern- und Bildungstheorien stecken bleiben will. Was dies für den pädagogischen Prozess heißt, hat Phil Cohen (1994) für die rassismuskritische Bildungsarbeit eindrucksvoll dargestellt. Für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit wäre dies noch zu leisten.
Ebenso wichtig ist die soziogenetische Interpretation. Dies betont Radvan selber, wenn sie von der „genetischen Suchhaltung“ spricht, die gute pädagogische Praxis kennzeichnet. Bezogen auf ihre eigene Studie aber schreibt die Autorin, dass eine soziogenetische Typenbildung, die den Zusammenhang von sozialem Kontext und habitualisiertem Wissen erfasst, „auf Basis der Rekonstruktion des erhobenen Materials nicht möglich (war)“ (S. 103).
Fazit
Wer wissen will, wie man mit Jugendlichen über und gegen Antisemitismus arbeiten sollte, kommt um das Buch von Heike Radvan nicht herum. Aus Sicht der politischen Bildungsarbeit muss Antisemitismus als eigenständiger Bildungsgegenstand begriffen werden, der eigenständiger pädagogischer Handlungskonzepte bedarf. Bislang war dies nur ein Postulat. Mit der Arbeit von Radvan hat sich dies geändert. Das Buch ist Sozialarbeitsforschung at its best. Es stellt einen Meilenstein auf dem Weg zur Etablierung antisemitismuskritischer Kompetenz in der Aus- und Weiterbildung nicht nur der Jugend(bildungs)arbeit, sondern der Sozialen Arbeit insgesamt dar.
Literatur:
* Cohen, Phil (1994): Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung, Hamburg.
* Fritz Bauer Institut / Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.) (2006): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt / New York.
* Schäuble, Barbara / Albert Scherr (2007): „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Berlin.
* Stender, Wolfram / Guido Follert / Mihri Özdogan (Hg.) (2010): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden.