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Was geschah mit den sowjetischen Jüdinnen und Juden nach der Shoah? Eine Gruppe von Geschichtsinteressierten Antifaschist/innen, wie sie sich selbst betiteln, fragt Überlebende in der Broschüre „Geschichtsbilder jüdischer Migrant_innen aus der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik und Israel“.
Es wurde Einiges über die Vernichtung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden durch deutsche Besatzerinnen und Besatzer in Westeuropa publiziert. Die deutsche Wissenschaft rühmt sich gar ein umfassendes Bild von den perfiden Methoden der Nazis und der Mittäterschaft der Westeuropäischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges zeichnen zu können. Auch wenn dies kritikwürdig sein mag, was aber eine andere Geschichte ist, wurden selbst 60 Jahre nach dem Krieg noch Altnazis, wie Josef Schwammberger (1992) verhaftet und verurteilt. Viele andere, auch dies ist gut dokumentiert, gingen der Justiz durch die Lappen, weil sie vor 30 Jahren kein Interesse oder mangelndes Geschick aufwiesen.
Totschweigen
Eine ganz andere Sachlage der Aufarbeitung wird auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sichtbar. Wie wurde mit der Schoah in der SU umgegangen? Auf Initiative einer Gruppe von Geschichtsinteressierten Antifaschist/innen, wie sie sich selbst betiteln, entstand die Broschüre „Geschichtsbilder jüdischer Migrant_innen aus der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik und Israel“. In ihr untersuchen die Autorinnen und Autoren die Auswirkungen der Judenvernichtung auf die jüdische Bevölkerung im ehemaligen Gebiet der SU.
Schwierige Suche nach Antworten
Was geschah mit den sowjetischen Jüdinnen und Juden nach der Shoah? Die Suche nach Antworten gestaltet sich schwierig, zumal die Literaturlage sehr unübersichtlich ist. Beispielsweise befasste sich der Schriftsteller Wassili Grossman bereits 1963 in seinem Buch „Leben und Schicksal“ mit der Frage nach den sowjetischen Jüdinnen und Juden. Das Buch durfte jedoch nie in der SU publiziert werden und ist selbst in Deutschland erst seit 2007 breit erhältlich.
So blieb den Autorinnen und Autoren nur die Suche nach Überlebenden und deren Geschichte. Da die Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg meist in die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland oder Israel auswanderten, konnte die Suche immerhin geographisch begrenzt werden. Man entschied sich für die beiden Pole: Israel, als neugeschaffenes „sicheres Heimatland“ für alle Jüdinnen und Juden nach allen europäischen Pogromen in der Geschichte, und Deutschland als „Täterland“, welches immer noch mit Antisemitismus im Alltag zu kämpfen hat.
Erschütternde Ergebnisse
Die Aufzeichnungen aus den vielen Gesprächen mit Überlebenden und Ausgewanderten sind erschütternd. Das Erinnern oder gar die Aufarbeitung der Schoah passten nicht in den Heldenmythos der wehrhaften Sowjetischen Bevölkerung. Jegliche Mittäterschaft der Bevölkerung musste verschwiegen werden und so war an Hilfeleistungen oder Aufarbeitung seitens der Kommunistischen Partei kaum zu denken.
Schlimmer noch, die Zionist/innen, so die Bezeichnung der sowjetischen Führung für die Jüdinnen und Juden, galten als antisowjetisch. Dies und der Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft, führten trotz Hoffnungsträger Gorbatschow seit den 1970er Jahren zu einer großen Ausreisewelle.
Leben in der Fremde
Weit entfernt von der einstigen Heimat gehen die Autoren der Broschüre auf die Suche nach dem jüdischen Leben und der Kultur nach der Auswanderung. Unterschiedlicher, als in den beiden Auswanderungspolen Israel und Deutschland, könnte das Leben für die Vertriebenen kaum sein. Während in Israel die jüdische Kultur öffentlich und im Alltag verankert ist, findet sie in Deutschland häufig nur innerhalb der Gemeindengrenzen statt.
Doch wie lange können Jüdinnen und Juden überhaupt noch nach Deutschland emigrieren? Als finale Frage wird so der Ausblick in die Zukunft zur Debatte gestellt. Im Kapitel „Neuregelung oder Einwanderungsstopp?“ wird deutlich, dass das seit 2007 verschärfte Einwanderungsgesetz vielen Überlebenden des Holocaust die Tür nach Deutschland verschließt. Gerade hier dürfen wir eines nicht vergessen: Es hat immerhin 50 Jahre gedauert, bis sich die deutsche Regierung durch Druck von außen zu „Entschädigungszahlungen“ durchgerungen hatte.
Die Ergebnisse der Interviews von den Reisen nach Israel und Deutschland machen eindrucksvoll deutlich, wo immer noch Platz für weitere Nachkriegsforschung ist. Die Geschichte gibt immer wieder etwas Preis, was erschreckend (und interessant) ist. Deshalb sind Projekte wie dieses so wichtig.
von Tilman Tzschoppe
Zum Download der Broschüre