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Liebe und das Ende der Illusionen


„Lamaras Briefe oder vom Untergang des Kommunismus“ von Helga Kurzchalia ist gerade erschienen. Ihre Briefe, Dialoge und Selbstgespräche, zeigen eine Familiengeschichte zwischen den Welten, ein Psychogramm einer Epoche.


Gerade erschien der Roman „Lamaras Briefe oder vom Untergang des Kommunismus“ von Helga Kurzchalia. Er ist geschrieben als poetischer Briefwechsel zwischen Lamara, einer Georgierin und ihrer Familie in Ost-Berlin. Lamaras Sohn Dito ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, ist wegen seiner Liebe zu Clara in die DDR gezogen. Lamara lebt in Tblissi – sie beschäftigt sich dort mit dem Reichtum alter Schriften und sie ist der Mittelpunkt einer großen Familie. Der Roman beginnt an einem geschäftigen Tag im Herbst des Jahres 1984 mitten in Tblissi, als Lamara gerade 60 Jahre alt geworden ist und er endet am selben Ort, doch vierzehn Jahre später. Die Zeit dazwischen ist voller Umbrüche in der Familie, in Europa und auf der Welt. In Lamaras Briefen werden die Dramen dieser Jahre lebendig, denn in ihrem Alltag bleibt nichts abstrakt; alles, was geschieht hinterlässt eine Spur in ihrem Leben, die sie auf wundervolle Weise mitzuteilen weiß. Am anderen Ende des Briefwechsels sitzen „die Berliner“, deren Leben so ganz anders verläuft als das der Georgischen Familie.

Praktisch schon der Westen


Aus Lamaras Perspektive sind sie praktisch schon der Westen, ihr Leben ist vergleichsweise komfortabel und das DDR-Regime weit weniger chaotisch, korrupt und gewalttätig als das in der Sowjetunion. Lamara lässt keinen Zweifel daran, was sie vom sowjetischen, besser gesagt vom russischen Herrschaftssystem hält. In Tblissi sind alle Illusionen über den Sozialismus und seine Ideale längst vergangen und verbraucht. Zwar glaubt sie auch keinen Moment daran, dass die DDR darin mehr zu bieten hätte, doch bewundert und genießt sie die weit besseren Bedingungen in Berlin.

Quälende Agonie


Der Roman handelt in der Tat vom Untergang des Kommunismus. Selten ist er treffender geschildert worden. Der Leser spürt seine quälende Agonie der ersten der beschriebenen Jahre und folgt in den darauffolgenden dem Strudel der Ereignisse. Dabei geht es um die „große“ Politik in ihren „kleinen“ Wirkungen auf Lamaras Familie in Tblissi und Berlin. Die Geschichte reißt sie mit sich – allerdings auf ganz verschiedene Art. In Georgien führt der Zusammenbruch der Sowjetunion zu Mord, Krieg und Zerstörung. Die langersehnte Unabhängigkeit von den Russen ist begleitet von Verfall, Armut und noch mehr Mangel. Die gesamte Infrastruktur bricht zusammen, Russland rächt sich für den Eigensinn der Georgier. Ganz anders ist die Lage in Berlin. Die friedliche Revolution spült die DDR davon, Enttäuschung und Aufbruch, Wehmut und Hoffnung formen die Akkorde jener Zeit, die jedoch zu keinem Zeitpunkt so außer Kontrolle geraten wie in Georgien. Im Vergleich zu den dramatischen und blutigen Tönen dort, klingen die Briefe aus dem sich verwandelnden Deutschland wie eine sanfte Melodie.

Fortbestand der Illusionen

Alles hat seinen Preis, das wird klar. Ohne den Sturz der Sowjetunion hätte es die Deutsche Vereinigung auf so friedvolle Weise nicht gegeben. Doch der Untergang dort brachte Tod und Verzweiflung, und der hier ein Fortbestehen von Illusionen. So wie sich in Deutschland die Illusion vom Sozialismus, vom „guten“ System gehalten hat und wohl auch noch hält, so stark ist auch das Märchen von der friedlichen Revolution. Für das musste Lamara bezahlen, irgendwo im fernen Georgien, für das sich nur wenige Romantiker zu interessieren scheinen. Lamara hatte bis zuletzt Sehnsucht nach dem Ort ohne Untergang, nach ihrem Sohn, der Familie und einem Leben voller lebendiger Verrücktheiten.

Mit einer Frage zurückgelassen

Die Sprache in Helga Kurzchalias Roman ist klar, spannungsvoll, poetisch, die Geschichten voller Ironie, subtilem Humor und ebenso voller dramatischer Härte. Es ist ein Dialog und manchmal ein Selbstgespräch. Es ist eine Familiengeschichte zwischen Welten und Kulturen, ein politischer Roman und das Psychogramm einer Epoche, das auch jene Seiten der Geschichte sichtbar macht, die wir hier in der Selbstbespiegelung der historischen Ereignisse aus unserer Sicht, fast immer übersehen. Lamaras Familie treibt es in die Ferne. Sie aber vergeht und lässt uns mit der Frage zurück, was wohl ohne alle Illusionen noch auf uns zukommen mag. „Lamaras Briefe oder vom Untergang des Kommunismus“ zeigt uns auf warmherzige und dennoch fordernde Weise, wie überlebenswichtig es ist, genau hinzuschauen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, und dass man auch für eine ungewisse Zukunft auf der Hut sein muss. Ohne Illusion – mit Liebe, so wie Lamara selbst.

Von Anetta Kahane
Foto: nowi
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„Lamaras Briefe oder vom Untergang des Kommunismus“ Helga Kurzchalia, erschienen im Lichtig Verlag, 2010

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Lamaras Briefe