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Ein ruhiger Blick auf eine wechselvolle Zeit

Über 200.000 Juden sind in den letzten 20 Jahren aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zugewandert. Der Fotograf Michael Kerstgens hat diesen Prozess seit 1992 begleitet. Seine Bilder zeigen, wie sich das Leben der Zugewanderten und die jüdischen Gemeinden verändert haben.

Von Elisabeth Gregull

Michael Kerstgens hat sich Zeit genommen für seine Fotografien. Er lernt die Menschen erstmal kennen, baut Vertrauen auf, bevor er sie fotografiert. Die Zeit und Ruhe, die er sich nimmt, um Menschen während einer Zeit großer individueller, aber auch gemeinschaftlicher Veränderungen  zu zeigen, spiegeln sich in seinen Bildern.

Das Gemeindeleben verändert sich

Das erste Foto der Ausstellung steht für einen tiefen Einschnitt im Leben der Berliner Gemeinde: 1992 starb Heinz Galinski, der langjährige Vorsitzende dieser Gemeinde und des Zentralrates der Juden in Deutschland. Er hatte sich schon seit den 70er Jahren für die Zuwanderung von Juden aus der Sowjetunion eingesetzt. Heute haben von den 110.000 jüdischen Gemeindemitgliedern bundesweit 90.000 einen russischsprachigen Hintergrund.


Brit Mila von Izaak Ben Jacob Rosenfeld in der Synagoge Joachimstaler Straße, Berlin, 1992, Foto: Jüdisches Museum Berlin, c

Michael Kerstgens dokumentiert Szenen aus dem Gemeindeleben, religiöse Feiern und Feste. Und er begleitet die Familien der Zugewanderten, von denen viele weder die jüdische Religion noch Geschichte gut kennen. Die jüdischen Gemeinden versuchen mit verschiedenen Angeboten dieser Tatsache zu begegnen. Bei manchen sind es erst die Kinder der Zugewanderten, die eine religiöse Lebensweise in ihrer Familie wiederbeleben.

Vom Ankommen, Warten und Weiterziehen

So zum Beispiel bei der Familie Troitschanski. Ihr Weg ist eine von drei biographische Reihen. Extra für diese Ausstellung hat Michael Kerstgens noch mal Kontakt zu Menschen aufgenommen, die er vor vielen Jahren fotografiert hatte. Ein Foto zeigt, wie der Sohn seinem Vater Deutsch beibringt. Vater Mikhail Troitschanski baut später erfolgreich einen Import-Export-Handel auf.
Die Familie Troitschanski entdeckt langsam ihre jüdische Tradition und Familiengeschichte wieder. Damit kommen aber auch Zweifel auf, ob sie in Deutschland bleiben sollen. 2003 schließlich wandern sie nach Toronto aus, wo Michael Kerstgens sie 2011 noch einmal besucht hat. Sie leben dort nun in einem jüdisch geprägten Vorort, und die jüdische Religion ist fester Teil ihres Familienlebens geworden.

Andere Bilder zeigen die Gemeinschaftsunterkünfte in den Aufnahmestellen kurz nach der Ankunft, zeigen die Zugewanderten, denen die unsichere Zukunft, Sorge und Hoffnung gleichermaßen ins Gesicht geschrieben sind. Michael Kerstgens ist teilnehmender Beobachter, gleichermaßen mit ehrlichem Interesse und respektvollem Abstand dabei.
 
Zwischen Hochzeit und „Russendisko“

Hochzeiten, Bälle und die legendäre „Russendisko“ mit Wladimir Kaminer im Kaffee Burger – so verschieden die Menschen, so unterschiedlich die Feiern. Letztlich sind aber alle rund 80 Schwarz-Weiß-Bilder von Michael Kerstgens ein Spiegel des neuen jüdischen Lebens, das mit der Zuwanderung der sogenannten „Kontigentflüchtlinge“ in Deutschland entstand. Auch bei den neuen Bildern hat der Fotograf bewusst seine analoge Kamera benutzt, um den Serien die gleiche ästhetische Ausstrahlung zu geben.
 

Wladimir Kaminer (geb. 1967) während der Russendisko im Kaffee Burger, Berlin 23.02.2001, Foto: Jüdisches Museum Berlin, c

Parallel zur Ausstellung ist im Kehrer Verlag das Buch „Neues Leben. Russen – Juden – Deutsche“ erschienen, das neben den Ausstellungsfotos noch rund 40 weitere Bilder umfasst. Die Ergänzung „Neues Leben“ im Titel hätte der Ausstellung vielleicht auch gut getan, denn bei „Russen Juden Deutsche“ allein bleibt der Fokus etwas unklar. Das „neue Leben“ der einzelnen Menschen, aber auch der Gemeinden kommt im Buch komprimierter zu Geltung. Das liegt auch an den Texten von Michael Kerstgens, Hanno Loewy und Wolfgang Büscher, die einzelnen Bildern eine (Lebens)Geschichte geben, aber auch das Spannungsfeld der letzten 20 Jahre aufmachen. Leider fehlen solche Texte in der Ausstellung – sie hätten Besuchern, die mit den Thema nicht so vertraut sind, einen besseren Zugang ermöglicht.

Die Ausstellung „Russen Juden Deutsche. Fotografien von Michael Kerstgens seit 1992“ ist noch bis zum 15. Juli 2012 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Das Buch „Neues Leben. Russen – Juden – Deutsche“ von Michael Kerstgens ist im Heidelberger Kehrer Verlag erschienen, hat 136 Seiten und kostet 29,90 Euro.

Elisabeth Gregull ist Fachjournalistin (DFJS), ihre Schwerpunktthemen sind Migration, Diversity und die Folgen der NS-Zeit. Sie arbeitet u.a. für die Online-Redaktion „Migration-Integration-Diversity“ der Heinrich-Böll-Stiftung.

Familie Troitschanski, Berlin 1992, Foto: Jüdisches Museum Berlin, c