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Deutschland bekennt sich noch nicht lange dazu ein Einwanderungsland zu sein. „Multikultur 2.0 - Willkommen im Einwanderungsland Deutschland“ blickt kritisch zurück auf die Migrationsdebatte und stellt Konzepte für die Zukunft vor.
Von Elisabeth Gregull
Auf dem grell-gelben Cover sieht man eine Frau mit einem grünen Fernglas - am Ende des Buches erfährt man auch den Titel dieses Piktogramms: „Zukunft?“ Das Kollektiv migrantas lädt Frauen unterschiedlicher Herkunft ein, ihre Migrationserfahrungen durch einfache Zeichnungen auszudrücken. Aus diesen macht migrantas dann Piktogramme in einem leicht verständlichen Design.
Schlichtes Design, komplexer Inhalt
Umso komplexer ist der Inhalt des Buches, denn es geht um die Zukunft im Einwanderungsland Deutschland. Die Herausgeberin Susanne Stemmler, Bereichsleiterin im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, schreibt in der Einleitung: „Ziel des Bandes ist es, die Arbeit am Begriff, die theoretische Reflektion mit den politischen und öffentlichen Diskursen zu verbinden, die handlungsbestimmend sind.“ Damit deutet sich an, dass auf den über 300 Seiten eine in großen Teilen theoretische Auseinandersetzung folgt.
Die Publikation basiert vor allem auf Vorträgen und Gesprächen beim internationalen Kongress „Beyond Multiculturalism? Fragen an die Einwanderungsgesellschaft“ im Juni 2009 im Haus der Kulturen der Welt. Was kommt „jenseits des Multikulturalismus“?
Auf diese Frage geben die rund 40 Vertreterinnen und Vertreter aus Philosophie, Wissenschaft, Journalismus und Politik unterschiedliche und zum Teil kontroverse Antworten. Unter ihnen Kwame A. Appiah, Klaus Bade, Nevim Çil, Navid Kermani, Günther Piening, Tariq Ramadan, Hilal Sezgin, Mark Terkessidis, Steven Vertovec, um nur einige zu nennen. Viele problematisieren nicht nur den Begriff „Multikulturalismus“, sondern entwickeln und stellen andere Ansätze für die Einwanderungsgesellschaft vor, auch im internationalen Vergleich.
Eine Lektion für die „Schlafmütze“ Deutschland
Etwa Steven Vertovec, Mitglied im „Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration“: Man könne nicht mehr nur von „Diversity“, man müsse inzwischen von „Super-Diversity“ sprechen. Innerhalb einer „ethnischen“ Gruppe haben die Menschen oftmals einen ganz anderen rechtlichen oder sozialen Status, immer mehr „Kleingruppen“ bilden sich in verschiedenen Regionen aus. Diese „unübersichtliche“ Entwicklung in ganz Europa verlange nach einer anderen Migrationspolitik, wenn diese erfolgreich sein soll.
Das Buch bietet auch eine Übersicht über die Migrationsdebatte in Deutschland. Interessant hier das „Kühn-Memorandum“, das bereits 1979 die BRD als Einwanderungsland sah und politische Schritte forderte, die noch heute aktuell sind. Das ist eines der vielen Ausrufezeichen, wenn man auf die Fehler der deutschen Einwanderungspolitik schaut: Wie viel ungenutzte Zeit ist vergangen, wurde „verschlafen“, wie der Migrationsforscher Klaus Bade den ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zitiert.
Bürgerrechte und interkulturelle Öffnung
Nur knapp über 50 Seiten sind indes den Handlungskonzepten für die Einwanderungsgesellschaft gewidmet. Konkret politisch argumentiert Günther Piening, Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration. „Integrationspolitik muss sich (…) als Bürgerrechtspolitik begreifen.“ Solange ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund „vom grundlegenden Bürgerrecht auf Teilnahme an Wahlen“ ausgeschlossen ist, fehle in der Debatte ein wesentlicher Teil. Piening fordert einen Politikwechsel beim Wahlrecht.
Mark Terkessidis wiederum setzt mit seinem Konzept der „Interkultur“ auf Veränderung von Institutionen und Organisationen und verweist auf bestehende Handlungsansätze aus Großbritannien und auf EU-Ebene. „Das Programm einer Politik, die Barrierefreiheit für alle Bürger herstellen will, bezeichne ich als Interkultur.“
Jenseits der Begriffe
Multikultur 2.0 - Diversity - Super-Diversity - Interkultur… bei der Lektüre des Buches kann man sich leicht zwischen den Begriffen verlieren. Warum der Leittitel „Multikultur“ ist, bleibt unklar, er erscheint nur einleitend und ist im Buch an sich nicht tragend.
Die Publikation ist perspektivenreich und differenziert. Allerdings sind manche Texte bisweilen sperrig und anstrengend zu lesen. Dennoch lohnt sich die Lektüre – denn das Einwanderungsland Deutschland zu gestalten, ist eben eine Aufgabe, die uns alle angeht. In der öffentlichen Diskussion wird die „mangelnde Integration“ oft den Eingewanderten zur Last gelegt. Deutschland hat aber als Aufnahmeland viele Fehler gemacht.
Letztlich zerfallen die Menschen hierzulande nicht mehr in „wir“ und in “die“, die sich als Zugewanderte „einfach“ nur anpassen müssten. Wie Tariq Ramadan, Professor für Contemporary Islamic Studies in Oxford, sagen würde: Es geht um „das neue Wir“, das erfunden werden muss. Und das ist jenseits der Begriffe ein Grundgedanke, der sich durch das ganze Buch zieht.
Multikultur 2.0 - Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, herausgegeben von Susanne Stemmler, Wallstein Verlag, Göttingen, 2011 19.90 Euro
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Elisabeth Gregull ist Fachjournalistin (DFJS) und arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen Diversity, Antidiskriminierung und Migration. Sie hat über zehn Jahre für Stiftungen und Organisationen gearbeitet, die sich für Demokratie und einen produktiven Umgang mit Vielfalt einsetzen.