Sie sind hier

"Vor 1933 gab es keine Juden oder Katholiken - nur Ladenburger"

In dieser preisgekrönten Reportage erforscht Nikola Salonikios von der Schülerzeitung TEMPUS aus dem baden-württembergischen Ladenburg in Zeitzeugengesprächen, wie der Nationalsozialismus konkret ihre Stadt verändert hat.

Von Nikola Salonikios
 
„Vor 1933 gab es in Ladenburg keine Juden, Katholiken und Protestanten, sondern nur Ladenburger. – Wir waren integriert.“
 
Mit Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 wurde das dunkelste und schrecklichste Kapitel Deutschlands geschrieben. Die Verfolgung der Juden mit dem Ziel ihrer Auslöschung begann. Hilter bezeichnete sie abfällig als „jüdische Schmarotzermasse“ – der Feind der reindeutschen, blonden und blauäugigen Arier. Er gab ihnen, den „Untermenschen“ und „Schädlingen“, die Schuld des wirtschaftlichen Zusammenbruchs von 1929. Sie sollten Schuld gewesen sein, dass es keine Arbeit für die Deutschen gab. Hitler wollte Deutschland von seiner Krise befreien. Die Bevölkerung glaubte an ihn, diesen starken Mann, der es verstand, eindrucksvoll aufzutreten und die Zuhörer mit großen Worten an sich zu binden. Unter seiner Führung erstarb die Demokratie in Deutschland.

Wie sah Nationalsozialismus jenseits der Großstädte aus?
Das Leben in Großstädten wie Berlin und Nürnberg während des Nazi-Regimes schreibt Geschichte und bleibt in bildhafter Erinnerung. Man kann sich kaum vorstellen, dass der Hitler-Staat überall war, auch in einer kleinen Stadt wie Ladenburg, weit weg vom Sitz des Diktators. Gehen wir heute - 61 Jahre nach dem Kriegsende - durch die verwinkelten Gassen der alten Römerstadt, stellen sich einem die Haare zu Berge und ein Schauer rieselt über den Rücken, wenn man weiß, was sich seinerzeit in dieser harmlos wirkenden Altstadt zugetragen hat und welches Schicksal auch hier die jüdischen Mitbürger erfahren mussten.
 
Der „Jüdische Arbeiterkreis“ wollte dem Leben der jüdischen Ladenburger mit einem Buch gedenken, aus dem ich weitgehend neben eigenen Recherchen meine Informationen habe, und nahm deshalb Kontakt zu den ehemaligen Mitbürgern auf. Lea Weems und Ludwig Kempe zählen zu den wenigen Überlebenden, die auch heute, 2006, noch am Leben sind. Sie waren gerne bereit, auch mir Fragen über ihr Leben zu dieser fürchterlichen Zeit unter der Führung Hitlers zu beantworten. Einige Fragen blieben jedoch unbeantwortet, da beide damals einfach zu jung waren und ihre Erinnerung schnell verblasste.

Zeitzeugen 
Lea Weems geb. Krell wurde im Alter von 8 Jahren nach Gurs deportiert und lebt heute mit ihrem Ehemann Charles in Houston, Texas. Zusammen mit ihrer Schwester Ruth hat sie das Konzentrationslager überlebt. 1942 sah sie dort ihren Vater das letzte Mal, 1943 lässt ihre Mutter sie mit gefälschten Papieren der französisch-jüdischen Hilfsorganisation „Oeuvres de Secours aux enfants“ (O.E.S.), die jüdische Kinder rettete und bei unscheinbaren Franzosen versteckte, ziehen.  Beide, Vater und Mutter, wurden in Auschwitz ermordet, diese Nachricht erreichte Lea aber erst 1981.
 
Ludwig Kempe wurde am 22. Dezember 1932 geboren. Als kleiner Junge wanderte er ohne seine Eltern - Geschwister hatte er nicht - illegal nach Israel aus. Nach der strapazierenden Reise und 7 Monaten in einem Gefangenenlager begann ein neuer Lebensabschnitt. Im Kibbuz „Beersth-Ischak“, nah der Stadt Gaza, lernte er seine Frau Zipora Goldschmied aus Würzburg kennen. Gemeinsam bauten sie ihr neues Leben in Freiheit auf.
 
Jüdisches Leben in Ladenburg
Um 1900 waren ca. 3 % der Ladenburger jüdisch. Durch die Landflucht und der darausfolgenden Verstädterung vergrößerte sich ihre Anzahl. Die Familien verdienten ihren Lebensunterhalt mit Handel.
 
Ludwig Kempe erinnert sich noch gut an den 30.Januar 1933, als Hitler die Macht über Deutschland erlangte: „Ich war zwar 10 Jahre alt damals, zu diesem Regime sind wir gewachsen. Das Leben wurde nach und nach schwerer,“ versucht er mir zu erklären.
 
1933 praktizierten zwei jüdische Ärzte in Ladenburg Es befanden sich eine Schuhmacherei,  sowie eine Maschinenwerkstatt und auch eine Eisenwarenhandlung im Besitz jüdischer Ladenburger. Die beiden bedeutendsten jüdischen Familien in Ladenburg hießen Hirsch und Kaufmann, die besonders gut laufende Geschäfte besaßen. Helmut Driels, dessen Familie ein kleineres Textilgeschäft hatte, beschrieb dem Jüdischen Arbeiterkreis das damalige Leben in der Römerstadt so: „Vor 1933 gab es in Ladenburg keine Juden, Katholiken und Protestanten, sondern nur Ladenburger. – Wir waren integriert.“

Wenigstens Mut zum Protest
Doch dann kam Hitler an die Macht und es änderte sich alles. Grüßte man Menschen jüdischen Glaubens auf der Straße, wurde man bestraft. „Jud! Jud! Geschd weg, dreckiger Jud!“ rief man ihnen auf ihrem Weg immer öfters entgegen. Die Ladenburger versuchten, die  Juden zu meiden. Manche jedoch nicht. Zeitzeugen erinnern sich in dem Gedenkbuch, dass sie nach 1933 den Kontakt mit jüdischen Mitbürgern in der Öffentlichkeit weiterhin pflegten. Ein Friseur befestigte ein Schild in seinem Schaufenster: „Bei mir bekommt jeder die Haare geschnitten, ob Protestant, Katholik oder Jude.“

"Kauft nicht bei Juden" galt auch in Ladenburg 
Hitler beginnt, sein Ziel, ein Ariervolk zu schaffen, zu realisieren. Der Schmied und Hilfspolizist Georg Neubauer, der Ingenieur und spätere Bürgermeister Kurt Pohly (1934-1945) und andere Nationalsozialisten wie Wilhelm Engel gründeten die NSDAP-Ortsgruppe in Ladenburg, die rasch an Wählerschaft gewann. Durch Wahlfälschung und kaltblütige Unterdrückung der Opposition durch die Nazis erschlich sich die NSDAP grandiose Wahlergebnisse. Bald waren die anderen Parteien durch Verhaftungen und Einschüchterungen ausgeschaltet worden und die ganze Macht konzentrierte sich auf die NSDAP. Die heutige Bahnhofsstraße in Ladenburg wurde damals nach dem Führer benannt und hieß demnach Adolf-Hitler-Straße.  Für den 1.April 1933 war in Ladenburg ein Boykott geplant, doch viele Nazis konnten diesen Tag kaum erwarten und begannen schon am 29.3. deutsche Kunden an der jüdischen Ladentür abzufangen und am Eintreten zu hindern. Die Ladenburger fürchteten sich vor den SA-Männern, die mit Transparenten, auf denen sie „Kauft nicht bei Juden“ geschrieben hatten, angsteinflößend wirkten. Die Juden zogen sich in ihre Häuser zurück, die Deutschen standen vor den Geschäften oder beobachteten alles von den Nachbarhäusern aus.
 
Auf dem Ladenburger Marktplatz fand 1933 die Bücherverbrennung statt, danach war das Lesen und Besitzen Bücher jüdischer Autoren verboten. Auch war der gemeinsame Unterricht von Juden und Deutschen nicht mehr erlaubt. Die wenigen jüdischen Kinder mussten von nun an eine speziell neu gegründete jüdische Schule in Mannheim besuchen, doch nach dem Novemberpogrom 1938 wurde ihnen auch dies durch die Nationalsozialisten versagt.
 
Um 1934/35 war fast jeder deutsche Ladenburger organisiert. Vor allem die Kinder fanden ihren Platz im Jungvolk. Die Jungen gingen zur Hitlerjugend (HJ), die Mädchen zum Bund deutscher Mädel (BdM). Am Staatsjugendtag war für alle organisierten Kinder schulfrei. Zwei deutsche Ladenburger Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren jedoch nicht organisiert. Sie mussten einen Aufsatz über ein nationalpolitisches Thema in der Schule schreiben.

Jungvolk oder Waisenhaus 
Der Ladenburger Fritz Schnittspahn, heute 73 Jahre alt, erinnert sich noch gut an die damalige Zeit und konnte mir anlässlich eines Besuches einiges erzählen. Hitlers „Hass“ gegen die Juden  konnte der kleine deutsche Junge nicht verstehen. Doch man durfte nichts sagen und versuchte, die jüdischen Leute von sich fernzuhalten. Auch er war im Jungvolk, das er jedoch öfters geschwänzt hat, woraufhin ein Brief vom Rathaus an seine Mutter adressiert worden war. Die Drohung, er würde in ein Waisenhaus geschickt werden, würde er das Jungvolk nicht bald wieder besuchen, reichte aus, dass er diese Treffen kein einziges Mal mehr versäumte. Doch gegen die Juden sei dort nichts geredet worden und auch von ihren Eltern seien nur wenige Kinder aufgehetzt gewesen.
 
Es hatte nie Feindschaft zwischen den jüdischen und deutschen Ladenburgern gegeben, das bestätigen verschiedene Zeitzeugen, mit denen der jüdische Arbeiterkreis gesprochen hat, immer wieder. Im Gegenteil, vor 1933 besuchte man sich sogar gegenseitig zu Hause. Die Ladenburgerin Frau Lind war im Bund Deutscher Mädel. Über ihre Jugend sagte sie 2002 in einem Interview, welches auch im Buch „Jüdische Ladenburger“ nachzulesen ist: „…das war immer schön. Wir Mädchen waren in dem früheren Waisenhaus gegenüber dem Lustgarten untergebracht. Da hatten wir unten drin ein Zimmer. Die Jungs waren im Bischofshof. Da sind wir manchmal rüber gegangen und haben immer scharwenzelt mit denen…Es gab immer Filme umsonst,…das war einfach eine schöne Zeit da.“
 
Das alltägliche Leben im Nationalsozialismus war geprägt von Feiern und Umzügen. Kundgebungen fanden unter Jubel statt, man nahm an NS-Zeremonien teil und Flaggen wurden regelmäßig gehisst. Bei diesen großen Veranstaltungen waren die meisten Ladenburger mit dabei und ein starkes Gefühl der Gemeinschaft entstand. Die Kulthandlungen, die pseudoreligiös abgehalten wurden, trugen dazu bei, die Menschen noch enger zu verbinden.
 
Nur noch heimliche Kontakte
1934 gab es die erste „Aktion“. Es wurden Plakate an Geschäften angebracht, die auf die jüdischen Geschäftsinhaber hinwiesen. Immer wieder forderte die Ladenburger-Neckar-Bergstraß-Post auf, nur noch in deutschen Geschäften einzukaufen. Treue deutsche Kunden begannen, heimlich bei Juden zu kaufen. Zu groß war die Angst, bestraft zu werden und nicht alle befürworteten Hitler und seinen Plan: Viele deutsche Ladenburger Männer schämten sich ihrer SA-Uniform. Doch sie unternahmen nichts gegen Hitler. Sie schauten weg, sie gaben auf und hofften nur, dass seine Zeit bald vorbei sein möge. Wie mir eine Frau anvertraute, die hier anonym bleiben möchte, haben einige Menschen ängstlich gedacht: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auch Adolf Hitler und seine Partei!“
 
Ab 1935 verkleinerte sich die jüdische Gemeinde Ladenburgs. Man hätte nie gedacht, dass es so schlimm kommen würde. Zwischen 1936 und 1938 wanderten 25 jüdische Ladenburger in die USA, nach Palästina, Australien und Großbritannien aus, vor allem der Jugend wünschte man im Ausland eine neue Lebensperspektive, denn die Älteren hatten Angst, in einem fremden Land zu leben, dessen Sprache sie nicht einmal sprechen konnten.

"Man ahnte ja nicht..."
Ludwig Kempe erzählte mir, dass er und seine Familie keine Verwandte hatten, die ihnen bei einer Auswanderung hätten helfen können, zudem „ahnte man ja nicht, dass es zum Ausrotten aller Juden kommen wird.“
 
Bis zum 1.Januar 1936 arbeiteten keine nicht-jüdischen Angestellten mehr in jüdischen Geschäften. Die Wirtschaft wurde „entjudet“ und die jüdischen Ladenburger erhielten auch keine Renten mehr, ebenso wurden ihre Versicherungen liquidiert.
 
Mit dem Jahr 1936 verschlimmerte sich die Situation in Ladenburg zunehmend. Die Angst vor dem nationalsozialistischen Staat nahm zu.  Über Irene Rosenfelder steht in dem Buch „Die jüdischen Ladenburger“ , dass sie mit Tomaten beworfen wurde, weil sie zusammen mit ihrer deutschen Freundin Annemarie Zimmermann-Serr gesehen worden ist. Weiter wird beschrieben, dass die jüdischen Bürger sich um ihre deutschen „Verbündeten“ sorgten und drängten sie, weiterzugehen: „Sie können doch nicht mit uns reden!“  Sogar den Blickkontakt mieden sie. „Um Gottes Willen, wenn Sie jemand sieht!“
 
Doch „auch in der Notzeit lebte man weiter, wenn man ein Optimist ist, und das waren wir, hofften immer, es wird schon mal besser werden,“ sagte mir Ludwig Kempe. „Wir feierten unsere Feste so gut wir konnten, sogar auch nach dem 9.November 1938.“

Als ich Herrn Schnittspahn auf den Judenstern ansprach, konnte er sich noch daran erinnern, wann er diesen zum ersten Mal gesehen hatte. Er saß in der Straßenbahn und wollte aus Höflichkeit einem älteren Herrn den Platz anbieten, als dieser auf seinen gelben Stern am Mantel deutete und sagte: „Nein, das geht nicht.“

Hass-Propaganda wirkte 
Hetzkampagnen, wie sie z.B. in der Ladenburger Neckar-Bergstraß-Post vom 28.9.1938 stehen, bestärkten die jüdischen Ladenburger in ihrer Angst: „…Die verflossenen Zeiten sind ein für allemal vorbei, die Hebräer werden nie wieder bei uns etwas zu melden haben. Unbeirrbar und im festen Glauben an den Führer wird das deutsche Volk sein Weg gehen! ...“
 
Schließlich kam es am 10.November 1938 zur Reichskristallnacht in Ladenburg. „Diesen Tag in allen Einzelheiten, werde ich nie vergessen“, sagte mir Ludwig Kempe.
 
Die Reichskristallnacht wird von den jüdischen Opfern auch Pogrom genannt. Das Wort stammt aus dem Russischen und heißt übersetzt „Unwetter“ und „Verwüstung“, welches seit 1881 für die Verfolgung der Juden steht. Die Jüdin Lilly Hirsch erzählte dem Jüdischen Arbeiterkreis, dass sie die SA noch genau vor sich sieht, wie sie in die Wohnung hineinstürmte. „Nichts wurde unzerstört zurückgelassen.“ Und nicht nur die SA oder die SS schlugen alles kurz und klein, sondern auch viele Ladenburger wirkten während der Reichskristallnacht sehr engagiert mit. Mit hocherhobenen Händen waren die Juden gezwungen, diesem Drama zuzusehen. Ihre Schwester Rachel denkt an diesen Tag auch mit großem Schrecken zurück: „Ganz in der Früh kamen Männer mit Hacke und anderen Zerstörungsutensilien, um Kleinholz aus der Wohnung Bahnhofsstraße zu machen. An diesem Tage kamen diese Banditen viermal. Meterhoch waren die Scherben, kein Fenster, keine Toilette, alles war zertrümmert auf solche Weise, dass ein Wohnen unmöglich war. Das Auto wurde meinem Vater abgenommen und Vater nach Dachau transportiert,“ steht in dem Buch geschrieben.
 
Der kleinen Lea Weems wird die Reichskristallnacht auch ihr Leben lang im Gedächtnis bleiben. Sie schrieb mir: „I remember Kristallnacht because I saw the Nazis destroy my home and they took my father and grandfather to Dachau. I´ll never forget that night.”
 
Viele kamen ins Konzentrationslager Dachau
Die Nationalsozialisten sammelten am späteren Abend alle männlichen jüdischen Ladenburger im Rathaus, sortierten die Alten und Jungen aus, und brachten die restlichen Männer mit einem Lastauto ins KZ Dachau. Zwei bis drei Wochen vergingen, ehe die ersten von ihnen völlig verstört heimkehrten. Hanna Lion, geb. Levy, erzählte dem Jüdischen Arbeiterkreis Ladenburg: „Nach dem Pogrom kam mein Onkel zurück, weiß wie die Wand. Er konnte und durfte nicht darüber sprechen. Er war ganz eingefallen und verändert.“ Die Männer mussten in Dachau mit kahlgeschorenen Köpfen vor den Aufsehern rennen. Diese fanden es lustig, den Juden die Kopfhaut mit Honig einzuschmieren und anschließend extra Bienen auf die „jüdischen Schmarotzer“ loszulassen. Die Tiere setzten sich auf die Köpfe und stachen zu. Die Opfer mussten schwören, daheim über ihre Zeit im KZ Dachau zu schweigen.
 
Rachel Hirschs Erinnerung erinnert sich besonders an die Hitlerjugend an diesem traurigen Tag, von denen das jüdische Volk so viele hat erleben müssen. Sie schilderte dem Jüdischen Arbeiterkreis, dass diese die jüdischen Kinder sehr beschimpft und mit Sachen beworfen hat. Doch gab es mitleidige Nachbarn, die später kamen, um die schockierten und ängstlichen Familien zu trösten und ihnen Essen und Trinken zu bringen. Aber es gab auch solche, die den Juden auch noch Gegenstände klauten. Das, was nach der Reichskristallnacht übrig geblieben war, wurde in der Zeit vom 4.-12. 12.1938 in der städtischen Turnhalle gewinnbringend versteigert.
 
Im Zuge der „Arisierungsmaßnahmen“ von 1933 bis 1939 wurde allen jüdischen Ladenburgern ihr gesamter Besitz weg genommen. Die Nationalsozialisten drohten ihnen, sie wurden misshandelt und erpresst, psychischer Druck lastete auf den Juden. „Die Überführung jüdischen Besitzes in arische Hände“ war vollbracht.

Kein Ausgang mehr
Nach dem Pogrom im November 1938 verschlechterten sich die Lebensbedingungen für jüdische Bürger noch einmal sehr stark. An Freizeitvergnügungen wie Kino oder Theater konnte nicht mehr gedacht werden, denn diese galten nur den Deutschen. Führerscheine konnten Juden ebenfalls nicht mehr erwerben und eigene Häuser mussten aufgegeben werden. Man lebte nun zusammen in Judenhäusern. Der Ausgang nach 20 Uhr war verboten, einkaufen nur zwischen 10 und 17 Uhr erlaubt, und das auch nur, wenn man Reichskleiderkarten und Bezugsscheine vorweisen konnte. Immer öfters wurden die jüdischen Ladenburger zur Zwangsarbeit herangezogen, abgesondert von den Deutschen. Der Lohn war niedrig, ihre  Kriegsrationen geringer als die der Deutschen. Die Luftschutzräume mussten die entkräftenden jüdischen Bürger selber bauen. Emigration – das war die einzige, die letzte Rettung.
 
Lea erklärte mir, dass ihre  Familie auch auswandern wollte, doch wurde ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit bald zerstört: „My family and every other family that I know here in the U.S., all tried very hard to leave Germany. Unfortunately, there were many reasons why we could not leave. In my case, the American government would not allow my father to leave because he had a slight problem with his left eye, and they would not let me leave because I have a birthmark on my back (a little red spot). My mother did not want to leave without my father and me.”
 
Vierzig jüdische Ladenburger weniger in fünf Jahren
1933 waren fast 90 Menschen jüdischen Glaubens in Ladenburg verzeichnet gewesen. 1939, als der 2. Weltkrieg ausbrach, lebten hingegen nur noch ca. 50 jüdische Männer, Frauen und Kinder in der Römerstadt. Viele versuchten ihre Kinder zu beschützen, so hat es Lea Weems empfunden: „I knew nothing about Hitler. My parents protected us. Of course, now I know that Hitler was a very evil man who had visions of conquering the world. He died by killing himself because he was a coward.” Ludwig Kempe dagegen hat dies ganz anders erlebt: “Man redete über diesen Bösewicht, wie er eben war. Man hat sogar Witze über ihn gemacht. Es war ja nicht der erste, welcher das jüdische Volk vernichten wollte, das lernten wir aus der jüdischen Geschichte,“ sagte er mir.
 
Nach 5 Jahren des Nazi-Regimes war die Zahl der Flüchtlinge enorm gewachsen. Sogar kurz vor der Deportation nach Gurs (Südfrankreich) gelang noch sieben Juden die rettende Emigration. Die ca. 35 in Ladenburg zurückgebliebenen Juden lebten von früheren Ersparnissen, die sich dem Ende zuneigten, oder Aushilfsarbeiten. Hatten sie kein Geld, half ihnen die jüdische Wohlfahrtspflege.

Deportation nach Gurs 
Die Deportation der jüdischen Ladenburger nach Gurs fand am 22.10.1940 statt. Von den wenigen Ladenburger Juden, die an diesem Oktobertag in das Departement Pyrénées-Atlantiques fortgebracht wurden, wurden später 19 weiter in das Vernichtungslager Auschwitz in Polen, deportiert und in den Gaskammern mit 80 % der anderen dort ankommenden Juden ermordet. Dies geschah noch vor dem Beschluss der Wannsee-Konferenz, 11 Millionen europäische Juden auszulöschen (20.Januar 1942).
 
Bei strömendem Regen in Gurs angekommen, trennte man die jüdischen Familien in Männer und Frauen. Lea Weems sieht das Lager noch genau vor sich. Sie schreibt mir: “Gurs was a very terrible place. There was no food, the barracks had only straw for us to sleep on, and there was a lot of dirt and mud everywhere. There were no bathrooms except very far away. It had electric barbed wire fence and my mother said never to touch it. My father was gone but my mother was still with us.”

Ein immer andauernder Lärm in den Ohren. Unruhe und Ungewissheit begleiteten die Menschen. Am Tag gab es 200 g Brot und zweimal Suppe, die aus Viehrüben und Wasser bestand. Die wenigen Kalorien wurden selten durch z.B. Erbsen und Fleisch vermehrt. Es herrschte Wassermangel und Ungeziefer plagten die Deportierten. 1940/1941 kam es aufgrund der menschenunwürdigen Lebensbedingungen zu einem Massensterben. Lea Weems sah ihre Eltern in Gurs das letzte Mal: „I learned about my parents in 1981,” läßt sie mich wissen. “ After such a long time, I excepted that they had not lived. It was difficult to realize that they were killed in Auschwitz-Birkenau. But it was better to know than go through life not knowing anything…I finally made a trip to Auschwitz 3 years ago. It was very emotional for me.” Rache für all die grausamen Taten empfindet sie nicht:“I have beautiful children and many grandchildren. I only wish they had known my parents and grandparents.”

Ludwig Kempe sieht das ähnlich. Er schreibt mir: “Hitler und seine Genossen haben der Welt gezeigt, wie tief die Menschheit sinken kann, wenn man Haß, Neid, Grausamkeit usw. hochkommen lässt. Der Mensch kann schlimmer als ein Raubtier werden, wenn er nicht lernt, seine Triebe zu beherrschen und sie in die Bahn der Güte zu leiten.“

Wenige Widerständler 
Während Hitlers Regierungszeit gab es aber auch deutsche Ladenburger, die eine Art Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten. Zeitzeugen berichteten dem Jüdischen Arbeiterkreis, dass Dr. Drissler, der Nachfolger des jüdischen Arztes Dr. Vogel, trotz der Verbote auch Juden behandelte und der nichtjüdische praktizierende Allgemeinarzt Dr. Wolf auf „Heil Hitler!“ immer mit „Grüß Gott!“ antwortete, weshalb er sehr oft angezeigt wurde. Dennoch gelang es ihm, diese Zeit unversehrt zu überstehen. Und während die evangelische Kirche Ladenburgs gegen die Nazis resignierte, wusste der katholische Pfarrer Otto Häußler geschickt seine Worte für die Predigt zu wählen, denn er sprach sich nie klar und deutlich gegen die Nazis und für die Juden aus. Trotzdem erlebte auch er zahlreiche Verhaftungen.
 
Versuche der Verdrängung
Am 28.3.1945 war für die Römerstadt durch die Amerikanern der 2. Weltkrieg vorbei und die Ladenburger mussten in ihr normales Leben zurückfinden, das sie vor dem Hitlerstaat geführt hatten. Die Stadt war von Luftangriffen oder Kampfhandlungen während des gesamten Krieges verschont geblieben. Deutsche Zeitzeugen sagten, dass die Menschen in den Nachkriegsjahren nie über das Nazi-Regime und das große Verbrechen an den Juden gesprochen hätten: „Über die KZ´s haben wir doch nichts gewusst!“ Diejenigen, die an den schrecklichen Taten mitbeteiligt gewesen waren, blieben stumm und die anderen hatten existenzielle Probleme zu lösen, denn das Versorgungssystem war zusammengebrochen und die Menschen litten Hunger. Wohl sah man aber die ehemaligen Nazis nun öfter in die Kirche gehen und sich frommer zeigen. Der Bürgermeister Pohly stellte sich wie andere Schuldige nicht dem amerikanischen Militär sondern flüchtete aus Ladenburg. Wenige Tage später konnte er jedoch gefasst und interniert werden.

Ladenburg in der Erinnerung
Ludwig Kempe erinnert sich gerne an Ladenburg und berichtet mir mit Wehmut: “Meinen Heimatort liebte ich sehr mit all seinen Gassen und Feldwegen, wo ich schöne und unbesorgte Kinderjahre verbrachte, hatte immer ein kleines Heimweh im Herzen und plötzlich, im 1990, bekamen wir die Einladung der Stadt. War damals sehr gerührt und die Tage waren ein großes Lebensereignis für mich. Damit ist das Heimweh erloschen. Kenne ja keinen mehr von dort und auch Ladenburg hat sein Gesicht verändert. Kein Pferd oder keine Kuh ist dort noch zu sehen. Bin auch keine 18 Jahre mehr oder 38. In Gedanken bin ich noch oft dort.“

Heute lebt er mit seiner Familie in Israel und hat seinen Seelenfrieden gefunden. „Aus dem einzigen Kempe der von Ladenburg auszog, ist ein kleiner Stamm geworden. Wir haben 6 Söhne und 2 Töchter, 71 Enkel und nun 60 Urenkel. Fromme Familien sind gewöhnlich kinderreich.“ Doch auch in Israel ist das Leben für Ludwig Kempe nicht leicht. Die politische Lage ist angespannt: „Wir haben schon alles durchgemacht: Kriege und Friedenszeiten. Leider gibt es auch hier einen Judenhass, aber der hat andere Gründe.“ Ludwig Kempe bleibt stark: „Wir hoffen weiter auf bessere Zeiten.“
 
Ein besonderes Dankeschön gilt Frau Wagner vom Jüdischen Arbeiterkreis Ladenburg, die mir mit Informationen und Büchern sowie den Kontakt zu den Zeitzeugen herstellen helfen konnte.
Quellen: Die Jüdischen Ladenburger (Jüdische Bibliothek Band 2), Ladenburg: 1900 Jahre Stadtgeschichte

Diese Reportage erschien in der Schülerzeitung "Tempus" des Carl-Benz-Gymnasiums in Ladenburg und wurde mit der Preis "Junge Medien mit Mut 2007" der stern-Aktion Mut gegen rechte Gewalt ausgezeichnet. Einen solchen Preis wird es auch 2008 wieder geben. Interessierte Schülerzeitungsredaktionen können ihre Texte mailen an mut@amadeu-antonio-stiftung.de
 
Eine weitere ausgezeichnete Schüler-Reportage: >klick
Mehr über Judenverfolgung auf dem Lande: >klick
 

Copyright: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 9.11.2007 

ladenburg-380.jpg

Der Artikel in der Schülerzeitung TEMPUS