Sie sind hier

„Ich freue mich, wenn junge Leute mir zuhören"

Ein lehrreiches Schulprojekt aus Berlin. Ehemalige sowjetische Kriegsgefangenen besuchten die Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg und gingen mit Schülern auf Gedenkstättenfahrt. Ein deutsch-russischer Brückenbau mit Folgewirkung. Eine Teilnehmerin berichtet.

Von Lilli Hasche

Die drei alten Herren und die Dolmetscherin sitzen ganz vorne, die Schüler der drei Oberstufenkurse (Politikwissenschaft und Geschichte) in Stuhlreihen ihnen gegenüber. Die Veteranen haben sich fein gemacht, all ihre Orden an die Jackettjacken gesteckt. Bald nach dem Klingeln kehrt Ruhe ein. Wir sind gespannt unseren Besuch und ihre Lebensgeschichten kennen zu lernen, nachdem wir uns schon im Unterricht mit dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen befasst hatten.

Der erste der drei über 80-jährigen Veteranen erhebt sich und beginnt zu erzählen. Er habe seit 65 Jahren darauf gewartet, mit deutschen Jugendlichen zu sprechen, leitet er seine Ausführungen ein. Wir beobachten aufmerksam seine Körperhaltung, seine Gebärden, seinen Ausdruck, seinen Tonfall. Spannung liegt in der Luft, wenn Herr Kowbasa erzählt. In unregelmäßigen Abständen gelingt es der sich sehr zurückhaltenden Dolmetscherin den Zeitzeugen zu unterbrechen um auch uns Schülern die Erlebnisse vorzutragen. Kaum ist sie fertig, fährt er ungeduldig fort. Atemlos berichtet er von der Verteidigung seiner Heimatstadt Odessa und der anschließenden Gefangenschaft in einem Kriegsgefangenenlager der Deutschen. Ausdrucksvoll erzählt er uns von zwei kommunistischen Arbeitern, die ihm als deutsche Soldaten zweimal eine Flucht ermöglichten und ihm somit das Leben retteten. Nun wünscht er sich noch die Familien derer kennen zu lernen, die ihm mehrmals zur Flucht verhalfen.

Nach etwa einer halben Stunde, in der wir längst noch nicht alles erfahren konnten, darf unser nächster Gast seine Geschichte erzählen. Auch Herr Woloschin wurde von der deutschen Armee eingekesselt und entging nur knapp einer Erschießung. Stattdessen wurden er und seine Kameraden zur Zwangsarbeit in Lager transportiert. Die Lebensbedingungen waren schrecklich: Die Gefangenen lebten in selbstgebauten Erdhütten, bekamen kaum Nahrung und wurden von den Aufsehern erniedrigt. Da er Arzt war, verfasste er gemeinsam mit anderen Häftlingen einen Protestbrief, in dem sie die Behandlung bemängelten und auf die Genfer Konventionen hinwiesen. Sie waren sicher erschossen zu werden. Das Gegenteil trat ein: Sie wurden besser behandelt und durften auch Gefangene medizinisch versorgen.

Am meisten beeindruckt die Erzählung von Herrn Stepanenko. Der ehemalige Lehrer besteht darauf zu stehen und beginnt zitternd auf Deutsch zu erzählen. Nach dem Krieg hatte er noch einige Zeit bei Berlin die Kinder russischer Soldatenfamilien unterrichtet. Seit Mitte der fünfziger Jahre spricht er nun zum ersten Mal wieder deutsch.

Nach seiner Gefangennahme wurde er mit dem Zug nach Dortmund transportiert. Dort musste er in einem Bergwerk arbeiten. Als besonders schrecklich blieben ihm bis heute die Bombardements in Erinnerung, weil die Kriegsgefangenen nicht evakuiert wurden, sondern im Bergwerk blieben. Aber er hat auch positive Erinnerungen: Als 1944 das Lager nach einer Bombardierung ausbrannte, schenkt ihm ein „guter Offizier“ Bettdecken. Oder die zivilen Arbeitskollegen, die ihr Brot „wegwerfen“ um es unauffällig den hungernden Zwangarbeitern zu geben. Umso überraschter ist er, als er nach der Befreiung durch die Stadt läuft und merkt, dass die Deutschen Angst vor ihm haben.

Aber er hat den Deutschen verziehen, liebt das Land und die Sprache und unterhält sich gerne mit uns. Die Reise nach Deutschland war lange ein unerreichbarer Traum, der nun endlich in Erfüllung ging. Und er bedankt sich: für unsere hellen aufmerksamen Augen. Leider ist die Doppelstunde schon vorbei. Wir hatten viel zu wenig Zeit, sind längst nicht all unsere Fragen los geworden. Auch die drei Zeitzeugen hätten alle gerne noch weiter geredet, waren froh, dass ihnen endlich einmal jemand wirklich zuhörte. Unser Kurs begleitet die Gäste weiterhin: Gemeinsam essen wir in der Mensa zu Mittag und am nächsten Tag werden wir noch Zeit haben, uns zu unterhalten.

Gemeinsamer Gedenkstättenbesuch

Am folgenden Morgen treffen wir uns um 9 Uhr 30 vor der Schule, dort wartet der Bus, der uns nach Luckenwalde bringen soll. Vorher gehe ich noch mit Nadia und Tati auf den Markt um Blumen zu kaufen. Als wir dem Blumenverkäufer erzählen, dass wir die Blumen auf den Gräbern ehemaliger Kriegsgefangener niederlegen wollen, macht er uns einen Sonderpreis: Für 4 Bund Blumen und 13 Sonnenblumen bezahlen wir nur 10 €!

Gegen 11 Uhr treffen wir an der Gedenkstätte des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers (Stalag IIIA) in Luckenwalde ein. Dort, wo früher ca. 45.000 Soldaten aus vielen Nationen gefangen gehalten wurden, steht heute ein Biotechnologiezentrum.

Eine kleine Straße führt zum zentralen Friedhof des Lagers. Er ist frisch umzäunt und geharkt, in einem überraschend guten Zustand. Durch das grüne Tor betreten wir den Friedhof. 3000 bis 4000 Häftlinge wurden hier in Massengräbern verscharrt, die meisten davon sowjetische Häftlinge. Wir verteilen unsere Blumen an alle Anwesenden. Bevor wir weiter gehen, spricht Herr Kowbasa Worte des Gedenkens. Langsam gehen wir weiter zum Gedenkstein, in russischer Schrift steht dort: „Ewiges Andenken den sowjetischen Bürgern, die in faschistischer Gefangenschaft zu Tode gequält wurden, 1941-45“. Die Herren Stepanenko, Kowbasa und Woloschin nehmen ihre Kopfbedeckungen ab und ehren so ihre toten Kameraden. Wir legen vorsichtig unsere Blumen nieder. Eine Weile ist es still.

Dann nutzen sie wieder die Gelegenheit ein paar Worte an uns zu richten. Sie rufen uns zu Frieden und Freundschaft auf, sie ehren die deutsche Kultur und danken der deutschen Regierung für die Pflege der Gräber, für das Gedenken, kurz gesagt, sie danken uns, dass wir da sind. Sie berichten davon, dass die Opfer in der Ukraine totgeschwiegen, die Gräber dem Erdboden gleichgemacht werden und von einem Markt, der sich auf einem ehemaligen Friedhof befindet und der deshalb „Laden auf den Knochen“ heißt. Das berührt uns sehr und wir wissen nicht, was wir dazu sagen sollen, denn eigentlich haben wir Grund zu danken: Dafür, dass sie uns so viel von sich erzählen, dass sie uns verzeihen, dass sie Deutschland besuchen, obwohl dieses Land einmal ihr Feind war.

Wir gehen weiter, bleiben an den Gräbern von serbischen Kriegsgefangenen stehen. Es sind die einzigen Einzelgräber mit Namen, einige der Toten waren noch sehr jung, andere schon Mitte vierzig. An allen Gedenkorten legen wir unsere Blumen nieder, auch für die französischen Opfer.

Vor dem Gedenkstein der Italiener versammeln wir uns erneut. Herr Förster berichtet von einem Massaker in Nichel (bei Treuenbrietzen), dem kurz vor Kriegsende 127 italienische Kriegsgefangene zum Opfer fielen. Auch sie waren Internierte des Stalag IIIA. Ein Überlebender dieses Massakers engagiert sich bis heute für seine ermordeten Kameraden, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Obwohl Antonio Ceseri aus Florenz schon über 80 Jahre alt ist, kommt er jedes Jahr zu den Gedenkveranstaltungen im April nach Berlin und Brandenburg.

Sogar das ukrainische Fernsehen ist angereist. Das bedeutet unseren Gästen sehr viel. Jahrelang wurde ihr Schicksal in der Sowjetunion verschwiegen. Kriegsgefangene galten als Deserteure und somit als Verräter und Kollaborateure der Nationalsozialisten. Schon während des Krieges wurden ihre Familien benachteiligt, teilweise sogar verhaftet. Nach der Befreiung wurden sie ausgiebig geprüft und oft zur Zwangsarbeit verpflichtet. Worunter sie aber besonders litten, war die Missachtung durch die Gesellschaft. Nachbarn, Freunde und Familie glaubten oft der Propaganda und schlossen die angeblichen Verräter aus. „Einmal traf ich einen Freund wieder. Wir unterhielten uns und er erwähnte, dass er mich jederzeit verraten könne, selbst wenn ich nichts gesagt oder gemacht hatte. Mir würde sowieso keiner glauben.“, erzählt uns Herr Stepanenko. Erst seit der Wende in der Sowjetunion wird auch in der Ukraine über das Schicksal der Kriegsgefangenen geredet. Immer öfter werden Veteranen von Schulen eingeladen. Gesellschaftlich rehabilitiert sind sie aber noch nicht. Gerade deshalb ist ihnen das lange Interview sehr wichtig, dass Herr Kowbasa für eine Sendung in seinem Heimatland macht. Sie wollen dazu beitragen die Erinnerung zu wecken und wach zu halten.

Nebenbei sprechen wir mit einem Mitarbeiter von „Kontakte“, der im April 1945 geboren wurde. Und zwar genau an dem Tag, an dem der Soldat, an dessen Grab wir stehen, starb. „Die sind für mich gestorben.“, stellt er fest. Wir sollten diesen Toten also nicht nur gedenken, weil es unsere Landsleute waren, die sie töteten, sondern auch, weil sie für uns starben.

Im Heimatmuseum Luckenwalde haben wir noch einmal die Möglichkeit spezifische Fragen zu stellen.

Herr Stepanenko und seine Mitgefangenen bekamen nur wenig Nahrung. In einem Befehl von 1941 hieß es „Nichtarbeitende Kriegsgefangene […] haben zu verhungern.“ Das schockiert uns alle zutiefst und war trotzdem in allen Lagern bittere Realität. Die Lager waren oft nur provisorisch von den Häftlingen errichtet worden, die im tiefen Winter in Erdlöchern hausten. Später mussten sich 200 Gefangene eine Baracke teilen, die für 50 gebaut worden war. Besonders bestürzt war ich, als er uns von seinen Ängsten erzählte. Von den Deutschen eingekesselt und beschossen sah er viele seiner Kameraden sterben. Der Geruch nach verbranntem Fleisch und Blut nahmen im die Ängste, machten ihn emotionslos. Erst nach dem Krieg konnte er wieder etwas fühlen. Heute freut er sich darüber, wenn junge Leute ihm zuhören.

An ein Überleben hat er lange nicht geglaubt. Geholfen haben ihm sein Glauben an Gott und der Wille seine Familie wieder zu sehen. Sehr schnell war uns bewusst, dass wir Herrn Kowbasa helfen möchten, seine Retter oder deren Familien kennen zu lernen. Deshalb treffen wir uns einige Wochen später im Ladenlokal von Kontakte und stellen erste Nachforschungen an, schreiben E-Mails und telefonieren mit Archiven. In den nächsten Monaten hoffen wir Schritt für Schritt unserem Ziel näher zu kommen.

Fortgesetzte Kontakte

Der Kontakt zu den drei ehemaligen Kriegsgefangenen wird nicht so bald abbrechen. Schon zu Weihnachten schrieben wir ihnen Grußkarten und sie antworteten uns sehr schnell. Wir freuen uns auf weitere Briefe und Grüße aus der Ukraine.

Uns alle hat die Begegnung mit den ehemaligen Kriegsgefangenen sehr beeindruckt. Wie offen sie mit uns sprachen, dass sie uns vieles erzählten, auch jene Details, an die sie sich bis heute nur unter Tränen erinnern. Sie sind nach Deutschland gekommen ohne jegliche Vorurteile und ohne irgendetwas zu verlangen. Dass wir ihnen zuhörten reichte ihnen und dass wir Fragen stellten, begeisterte sie. Ich habe gelernt wie einfach es sein kann, andere Menschen glücklich zu machen. Obwohl sie während des Krieges aufwuchsen und in unserem Alter schon als Soldaten gegen die Deutschen kämpften, können wir von diesen Menschen sicherlich alle noch viel lernen.

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Foto: Auf dem Schulhof der Sophie-Scholl-Oberschule erhebt sich ein rieseiger Kriegsbunker. Sowjetische Kriegsgefangene mussten ihn im Zweiten Weltkrieg errichten. Die Schule nutzt ihn jetzt für Kunstprojekte und Ausstellungen zum Thema Krieg / Kulick

bunker.jpg

Der Bunker auf dem Schulgelände der Sophie Scholl Oberschule an der Pallasstraße in Berlin-Schöneberg. Fotos: Kulick