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„Ich glaube, dass wir alle friedlich miteinander leben können“

Schülerinnen der Regenbogen-Grundschule stellen ihr großes "Buch der Spurensuche" vor (Foto: © Karen Margolis 2008)

Die Neuköllner Regenbogen-Schule ist die erste kunstbetonte Grundschule Berlins. Mit ihrer Beteiligung an einem Wettbewerb der Herbert Quandt-Stiftung zum Thema „Trialog der Kulturen“ beweisen Schülerinnen und Schüler, dass ein friedliches Miteinander im Schulalltag und darüber hinaus keine Utopie ist.

Von Jan Schwab


Eine Hausnummer wäre eigentlich nicht nötig, um die Grundschule in der Morusstraße im Berliner Stadtteil Neukölln ausfindig zu machen: Den Zaun haben die Schülerinnen und Schüler in allen Farben des Spektrums bemalt, so dass die Regenbogen-Schule sofort als solche zu erkennen ist. Die große Aula wirkt hell und freundlich, und am 23. April, Welttag des Buches, ist sie bis auf den letzten Platz belegt. Die Fünft- und Sechstklässler präsentieren ihr aktuelles Projekt: Das große „Buch der Spurensuche“, das davon erzählt, woher die Kinder kommen – und woran sie glauben.

Mit dem Projekt beteiligt sich die Regenbogen-Schule an einem Wettbewerb der Herbert Quandt-Stiftung, der „Trialog der Kuturen“ ist das Thema. Es geht um die drei großen Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. Und darum, die interkulturellen und interreligiösen Kompetenzen von Kindern möglichst früh zu fördern, um einerseits Neugier für Unbekanntes zu wecken, andererseits aber auch, um den vielen Konflikten vorzubeugen, die entstehen können, wenn verschiedene Kulturen und Religionen so unmittelbar aufeinander treffen wie hier in Neukölln.

Das Thema passt gut zu den Regenbogenkindern mit ihren unterschiedlichen Hintergründen. Immerhin haben drei Viertel der insgesamt 680 Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund, viele stammen aus muslimisch geprägten Familien. Stolz sind die Kinder aus der Projektgruppe, als sie ihren Mitschülern ihr fertiges, gut ein mal ein Meter großes Buch vorstellen, das mitten in der Aula auf dem Boden liegt. Da erzählt beispielsweise ein palästinensischer Junge seine Lebensgeschichte: Wie seine Eltern, die früher im Libanon lebten, 1965 auf der Flucht vor dem Krieg nach Berlin kamen: „Meine Geschwister und ich sind hier in Berlin-Neukölln geboren“, berichtet er, „und meine Großeltern leben auch in Berlin“. Eine schöne Geschichte einer glücklichen Kindheit in einem lebendigen, multiethnischen Stadtteil.

Die Lebenswelt der Kinder so darstellen, wie sie ist

Es gibt aber auch die traurigen Geschichten - voller Angst, Hilflosigkeit und Trauer. Geschichten, die schmerzhaft in Erinnerung rufen, wie wertvoll und vergänglich unser Leben ist. Ein elfjähriges Mädchen liest ihren Text vor, erzählt von ihrem kleinen Bruder, der im vergangenen Jahr gestorben ist; er wurde nur sechs Jahre alt. Nicht selten wurde unter den Lehrkräften diskutiert, ob es sinnvoll ist, auch die negativen, zum Teil verstörenden Erlebnisse der Kinder mit in das Buch aufzunehmen. Thomas Schliesser dagegen ist überzeugt davon, dass auch solche Geschichten ein fester Bestandteil des Projektes sein sollten, und dass es nicht unbedingt darauf ankommt, nur „Schönes“ zu zeigen: „Das Wichtigste ist doch, dass der Inhalt des Buches authentisch ist und die Lebenswelt der Kinder so darstellt, wie sie nun mal ist“. Das bedeutet auch, dass Themen wie Gewalt in den Familien offen angespochen und gezeigt wird – natürlich nur, wenn die betroffenen Kinder damit einverstanden sind.

Schliesser ist freischaffender Künstler in Berlin. Gemeinsam mit Annette Weber-Vinkeloe (Projektleitung) und Ahmad Shamma arbeitet er mit den Kindern für das Trialog-Projekt. In Deutschland geboren und aufgewachsen, hat er auch längere Zeit im Ausland gelebt. Eines der Dinge, die ihm negativ auffielen, als er zurückkehrte, war die deutsche Obrigkeitshörigkeit, die auch in den Schulen vorhanden ist. Diese Erwartungshaltung der „kleinen Leute“ an „die da oben“, an die große Politik. Dass Demokratie aber vom Mitmachen und Einmischen aller lebt, und dass sich nur dann etwas verändern kann, wenn sich jeder an seine eigene Nase fasst, das müsse gerade auch in den Schulen viel stärker vermittelt werden: „Letztendlich fängt Politik ganz unten an, hier in der Schule und im Kiez!“

Spannende Erkenntnisse für alle Beteiligten

Die Regenbogen-Schule wurde 1989 gegründet, ihren farbenfrohen Namen erhielt sie fünf Jahre später. Der Regenbogen steht für die „Vielfarbigkeit“ der Kinder, die aus annähernd 30 verschiedenen Nationen stammen, für unterschiedliche Ideen und die individuelle Entwicklung der einzelnen Schülerinnen und Schüler – und natürlich für die Kunst. Denn die Regenbogen-Schule ist die erste kunstbetonte Grundschule Berlins. Von der ersten Klasse an lernen die Kinder hier, selbstständig künstlerisch zu arbeiten. Und das nicht ausschließlich im regulären Unterricht, sondern auch in AGs, Projekten und Wettbewerben. Kinder ab der vierten Klasse können in besonderen Wahlpflichtkursen ihre individuellen Fähigkeiten und Begabungen testen und ausprobieren: In der englischen Theatergruppe, in der Tanzgruppe, beim Töpfern oder Malen.

„Als sich die Schule im letzten Jahr erstmals am Trialog-Wettbewerb beteiligte, ist sofort der Wunsch nach einem Kunstprojekt aufgekommen“, erzählt Heidrun Böhmer. Die Schulleiterin hat hier vom ersten Tag an unterrichtet, seit der Schulgründung vor 20 Jahren, und kennt daher die Besonderheiten der Neuköllner Grundschule ganz genau. Die Teilnahme am Wettbewerb sei für alle Beteilgten von Anfang an spannend und lehrreich gewesen, so Böhmer. Als im vergangenen Schuljahr der Wettbewerbsbeitrag zum Thema „Himmel und Hölle“ vorbereitet wurde, sei vor allem eines aufgefallen: Ein erhebliches Unwissen über die jeweils andere und auch die eigene Religion unter den Kindern und Lehrkräften. Schnell sei aber die Begeisterung für die Thematik gewachsen.

Spuren jüdischen Lebens in Neukölln

Die Künstler thematisieren jeweils eine der drei Weltreligionen und betreuen auch das „Buch der Spurensuche“. Besonders intensiv haben die Kinder nach den Spuren von Menschen gesucht, die heute nicht mehr im Viertel wohnen: Von den Nazis deportierte und ermordete Jüdinnen und Juden aus Neukölln. Dazu haben die fünften und sechsten Klassen beispielsweise das Jüdische Museum besucht und Biografien von Menschen recherchiert, vor deren letzter Wohnstätte heute mit einem Stolperstein an sie erinnert wird. „Wir haben uns vorgestellt, dass diese Menschen unsere Nachbarn hätten sein können“, erzählt eine Regenbogen-Schülerin. Eine sehr prominente Nachbarin wohnte zeitweise in der Innstraße 24: die kommunistische Widerstandskämpferin Olga Benario, die mit 17 Jahren nach Berlin kam. 1938 wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, 1942 in der Euthanasieanstalt Bernburg von den Nazis vergast. Zur Einweihung des Stolpersteins für Olga Benario – anlässlich ihres 100. Geburtstags – war ihre Tochter Anita aus Brasilien angereist. Und vor Ort waren auch Schülerinnen und Schüler der Regenbogen-Schule.

Doch nicht nur der Vergangenheit waren die Kinder auf der Spur. Mindestens genau so spannend ist für viele die Frage, woran ein Muslim glaubt oder wie jüdisches Leben heute aussieht. Was hat es beispielsweise mit den vielen jüdischen Feiertagen auf sich? Dazu hat jedes Kind zu einem der Feiertage eigenständig recherchiert – auch mit Hilfe der modernen Medien. „Lustigerweise war uns ausgerechnet das Internet hier eine große Hilfe“, lacht Heidrun Böhmer, „obwohl unser Projekt ja eigentlich im Hinblick auf den Welttag des Buches entstanden ist“. Doch was zähle, sei die Begeisterung, mit der die Kinder sich mittlerweile dem Projekt widmeten – Internet hin oder her.

Ein Blick über den Tellerrand

Gemischt waren die Reaktionen der Eltern, als die Kinder passend zu „ihrem“ Feiertag zu Hause ein jüdisches Gericht kochen sollten: „Manche Eltern haben das ihren Kindern schlicht verboten, andere waren begeistert und kamen hinterher zu uns, um sich zu bedanken“, erinnert sich Böhmer. Einige muslimische Familien hätten gemerkt, dass die intensive Auseinandersetzung ihrer Kinder mit dem Judentum etwas Positives in Gang setzt. Denn der Kerngedanke der Spurensuche ist, alle Religionen gleichermaßen kennen zu lernen und dadurch als gleichwertig anzuerkennen. So konnten auch die deutschstämmigen Kinder viel über den Islam erfahren. Auf diese Weise werden Vorurteile und Ängste auf allen Seiten abgebaut.

Doch gerade den muslimischen Kids eröffnet die interreligiöse Spurensuche eine einzigartige Möglichkeit, über den Kiez-Tellerrand hinaus zu blicken. Ein bisschen ist es so, dass sich dadurch ein Fenster zur Welt öffnet, das sonst vielleicht verschlossen bliebe. Die meisten Kinder mit muslimischem Hintergrund erhalten sonst kaum die Chance, aus Neukölln herauszukommen; die Lebensverhältnisse sind eng und spielen sich in der Regel im Koordinatensystem zwischen Familie und Schule ab. Besonders negativ wirkt sich diese Situation auf die Jungen aus, deren Schwierigkeiten in der Schule signifikant höher seien als die der Mädchen. Den Jungs fehle häufig eine positive Vorbildfigur, doch die Väter hätten genug eigene Probleme: „Wenn man bedenkt, dass die alten Werte in den Familien immer weniger gelten und viele Väter hier arbeitslos sind, dann wundert einen gar nichts mehr“, resümiert Schulleiterin Böhmer.

Gewalt in der Familie – ein Dauerproblem

Nicht alle Lehrkräfte sind so engagiert wie Heidrun Böhmer, und selbst die Regenbogen-Schule kann allein kaum die ganzen sozialen Probleme und Verwerfungen in den Familien kompensieren. Da ist es umso wichtiger, dass es Frauen gibt wie Nadereh Majdpour. Sie stammt ursprünglich aus dem Iran und engagiert sich als „Stadtteilmutter“ im Kinderdschungel, einem künstlerischen Betreuungsprojekt des Arabischen Kulturinstitutes in Berlin-Neukölln. Ihr Kollege Ahmad Shamma, einer der drei Künstler im Spurensuche-Projekt, leitet den Kinderdschungel. „Eines der häufigsten Probleme, mit denen wir tagtäglich aufs Neue konfrontiert werden, ist häusliche Gewalt“, berichtet Majdpour. Um ein wenig das aufzufangen, was in solchen Familien an Gewalt und Vernachlässigung passiert, ist sie nachmittags nach der Schule für die Kinder aus dem Neuköllner Rollbergkiez da, betreut sie bei den Hausaufgaben, organisiert zwei mal in der Woche einen Kinoabend und leitet gemeinsam mit ihren 400 Kolleginnen Workshops zur gewaltfreien Konfliktlösung.

Die Stadtteilmutter Nadereh Majdpour, das kunstbegeisterte Kollegium in der Regenbogen-Schule, der freischaffende Künstler Thomas Schliesser - sie alle haben das gleiche Ziel. Es mag vielleicht idealistisch klingen angesichts der Rückschläge und Enttäuschungen, die nicht ausbleiben, doch mit ihrem Engagement versuchen sie zu zeigen, dass tatsächlich gelingen kann, was eine der Schülerinnen bei der Präsentation des großen Buches der Spurensuche sagt: „Ich glaube, dass wir alle friedlich miteinander leben können“.

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Schülerinnen blättern im Buch der Spurensuche