Mit der Umsetzung der Kinderrechte in die Praxis beschäftigt sich ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung. Das Projekt läuft derzeit in Eberswalde, wo sich Kinder für ihre Interessen einsetzen.
Ein sonniger Julivormittag im brandenburgischen Eberswalde, kurz vor den Sommerferien. Ich bin auf der Suche nach der Bürgel-Grundschule, die sich etwa zehn Minuten Fußmarsch vom weitläufigen Marktplatz aus befindet, in der Breiten Straße. Wirklich breit ist die Straße zwar nicht (zumindest nicht für Menschen, die Berliner Verhältnisse gewohnt sind), aber viel befahren um diese Zeit. Um die Schule zu erreichen, muss ich diese Straße überqueren – gar nicht so einfach. Ich warte über eine Minute, bis kein Auto mehr kommt. Während ich mich dem Schuleingang nähere, frage ich mich, ob an dieser Stelle eine Ampel oder vielleicht ein Zebrastreifen nicht sinnvoll seien. Immerhin müssen jeden Tag mehrere hundert Kinder über die Straße, um zum Schulgebäude zu gelangen.
Was für ein Zufall, dass genau dieser Gedanke kurze Zeit später von den Kindern selbst wieder aufgegriffen wird! Aber vielleicht ist es auch gar kein Zufall. Denn offensichtlich hat die Zebrastreifen-Idee für viele Fünft- und Sechstklässler der Bürgel-Schule derzeit oberste Priorität. Sie wollen sicher in ihrer Schule ankommen, ohne Angst haben zu müssen, unter die Räder eines eiligen Autofahrers zu geraten und ohne sich jeden Morgen elterliche Sicherheitslitaneien anhören zu müssen. Das Recht auf Sicherheit und Gesundheit steht nicht umsonst als fester Bestandteil in der UN-Kinderrechtskonvention. Wie so häufig sind aber nicht die Ziele entscheidend, die auf dem Papier stehen, sondern die konkreten Umsetzungen.
Erhebliche Mängel bei der Einhaltung der Kinderrechte
Genau das versucht das Projekt „Kinderrechte in der Kommune“ der Amadeu Antonio Stiftung an mehreren Schulen in Brandenburg. Es geht darum, die Kinder selbst, aber auch Lehrkräfte und Eltern dafür zu sensibilisieren, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben sollten, also auch die Kinder. Was zunächst banal klingt, entpuppt sich als eine ganz und gar nicht selbstverständliche Forderung. Denn wer genau hinsieht, stellt schnell fest, dass auch in Ländern wie Deutschland bei der Umsetzung der Kinderrechte noch vieles im Argen liegt. In Artikel 12 etwa heißt es zur Berücksichtigung des Kindeswillens: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Dass viele Kinder von den Erwachsenen gar nicht erst nach ihrer Meinung gefragt werden, spiegelt sich beispielsweise in der Aussage einer Erstklasslehrerin wider. Auf die Frage einer Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung, wann das Projekt der Gesamtlehrerschaft vorgestellt werden kann, antwortete die Lehrerin: „Die Kinderrechte interessieren doch erst später, in den ersten Klassen müssen die Kinder ja noch anderes lernen – zuerst einmal, still zu sitzen“.
Ein Zebrastreifen muss her!
Die dreizehn Schülerinnen und Schüler, die sich in Eberswalde am Kinderrechte-Projekt beteiligen, sitzen jedenfalls alles andere als still. Wie sollte das auch funktionieren, wenn darüber abgestimmt wird, welchem Thema sich die Kinder im neuen Schuljahr nach den Sommerferien widmen möchten? Die Schüler sitzen im Kreis und diskutieren mit Helga Thomé, die immer darauf achtet, dass auch die Stillen und Schüchternen in der Runde zu Wort kommen. Thomé lebt seit zwölf Jahren in Eberswalde und arbeitet für die Bürgerstiftung Barnim-Uckermark, die gemeinsam mit der Amadeu Antonio Stiftung das Projekt „Kinderrechte in der Kommune“ durchführt. Die Diskussion ist lebhaft, aber selbstverständlich dürfen alle ausreden.
Die überwältigende Mehrheit hat sich beim vorherigen Projekttreffen bereits dafür entschieden, der Eberswalder Stadtverwaltung die Idee des Zebrastreifens schmackhaft zu machen. Chris und Pauline dagegen finden die Idee nicht sonderlich notwendig, von spannend ganz zu schweigen. Warum nicht lieber den Spielplatz auf dem Schulhof neu gestalten? Das würde doch viel mehr Spaß machen. Doch obwohl die beiden eigentlich klar überstimmt sind, ist die Entscheidung noch nicht getroffen. „Was wir heute erreichen wollen“, erklärt die Projektleiterin Helga Thomé, „ist eine Entscheidung, mit der wir alle leben können – das wird in der Fachsprache auch Konsens genannt“. Ich als außenstehender Beobachter bin mir nicht so ganz sicher, ob Konsensentscheidungen immer die beste Lösung sind. Gehört nicht zur Demokratie, manchmal eine Entscheidung der Mehrheit mitzutragen und damit akzeptieren zu lernen, dass die eigenen Wünsche nicht immer durchsetzbar sind?
Von der Projektidee zur Umsetzung
Im Laufe der Diskussion, die zwischenzeitlich festzufahren droht, weil Pauline partout keinen Zebrastreifen vor der Schule möchte, gelingt es der Gruppe doch noch, sie mit ins Boot zu holen. „Denk doch mal an die anderen“, appelliert Charlotte an ihre Mitschülerin. „Ein Zebrastreifen würde vielen das Leben erleichtern, zum Beispiel behinderten Menschen, und auch du müsstest dann nicht mehr so lange an der Straße warten.“ Benni sieht die Diskussion mit einer Prise Humor und hat schließlich das schlagende Argument parat: „Pauline, mit Zebrastreifen kommst du schneller zum Spielplatz als ohne!“ Mir wird allmählich klar, dass das Projekt nur dann wirklich erfolgreich sein kann, wenn am Ende wirklich alle in der Gruppe dahinter stehen. Schließlich brauchen die Schüler einen langen Atem, um die Projektidee auf dem Papier in die Wirklichkeit umzusetzen. Außerhalb der Schule gilt es, Stadtvertreter und das Straßenbauamt von der dringenden Notwendigkeit des Zebrastreifens zu überzeugen – und Ämter, das wissen auch die Kinder, machen nicht unbedingt aufgrund ihrer Schnelligkeit von sich reden.
„Wer kann was am besten?“
Pauline ist nun für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, da kommt ihr die künstlerische Begabung zugute: „Ich könnte ja die Plakate für das Projekt malen“, schlägt sie vor. Aber es gibt noch viele andere Aufgaben, die sinnvoll verteilt werden müssen. Bürgerinnen und Bürger sollen zur Projektidee befragt werden, Unterschriften müssen gesammelt, Flyer und vielleicht eine Internetseite gestaltet werden. Jemand muss mit der örtlichen Presse in Kontakt treten, ein anderer mit dem Bürgermeister sprechen. Da nicht alle alles erledigen können, ermitteln die Kinder ihre eigenen Stärken und Schwächen, um herauszufinden, wie sie sich optimal einbringen können: Während Till und Charlotte sich gut vorstellen könnten, den Bürgermeister für das Projekt zu begeistern, arbeiten andere lieber im Hintergrund, gestalten Poster oder verteilen Flyer. So leisten alle ihren bestmöglichen Beitrag, damit am Ende wirklich etwas zum Positiven bewirkt wird. Aber noch wichtiger als das konkrete Ergebnis des Zebrastreifens ist die Erfahrung der Kinder, ernst genommen zu werden und in Fragen, die sie selbst betreffen, mitbestimmen zu dürfen. Dass dabei jeder die Meinung des anderen respektieren sollte, ist für manche ein schwieriger, mitunter auch schmerzhafter Lernprozess. Aber er trägt weitaus mehr zur Demokratiebildung der Kinder bei als das Stillsitzen im Unterricht.
P.S.: Das neue Schuljahr hat inzwischen wieder begonnen. Beim ersten Treffen nach den Sommerferien hat ein Teil der Projektgruppe ein Gespräch mit dem Eberswalder Bürgermeister vorbereitet. In der kommenden Woche haben die Kinder mehrere Termine auf ihrem Kalender stehen: Das Gespräch mit dem Bürgermeister ist einer davon, ein Treffen mit der Verkehrswacht und ein Besuch im städtischen Kinder- und Jugendparlament stehen ebenfalls auf dem Programm.
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Text und Foto: Jan Schwab