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Thomas Geve hat die Hölle überlebt. Die KZs Birkenau, Auschwitz, Buchenwald. Den NS-Terror. Folter. Entmenschlichung. Nach Monaten in Haft, wurde er von den Alliierten befreit, da war er noch ein Kind. Die Zeichnungen, die er vom Lagerleben anfertigte, befinden sich heute in der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem. Lange wollte Geve nicht ins Land der Täter zurück. Heute aber verfolgt er eine letzte Mission: Das Gedenken an den Holocaust wach zu halten.
Von Marion Kraske, debattiersalon.de
Da steht er – mit seinen schwarzen Sportschuhen, der lässigen Hose und der Rewe-Tüte in der Hand sieht Thomas Geve aus wie ein Rentner auf Einkaufstour. Er bückt sich, legt die Tüte ab, macht den Schnürsenkel zu. „Die gehen immer auf, diese Dinger“, sagt er und schnaubt vor Anstrengung. Langsam richtet er sich auf. „Dann wollen wir mal.“ Geve ist gerüstet für sein Tagewerk. Langsam, aber sicheren Schrittes geht er zum Eingang der Michael-Bauer-Schule in Vaihingen bei Stuttgart, schnurstracks weiter die Treppen hoch bis in den 3. Stock. Er kennt den Weg, regelmäßig kommt er her, der alte Mann aus Haifa.
Er war 15, als er endlich frei kam
Thomas Geve hat das Grauen hinter sich gebracht. Als kleiner Junge kam er in die Vernichtungslager der Nazis. Er hat sie alle überlebt: Die Wächter, die Schikanen, die Hungerattacken. Birkenau. Auschwitz. Groß Rosen. Buchenwald. Eine unendliche Reise durch unendliche Qualen. 22 Monate verbrachte Thomas Geve in den Vernichtungslagern. Dort, wo andere mitunter nur ein paar Wochen ausharrten, bevor sie zusammen brachen oder ausgezehrt ins Gas gekarrt wurden, überlebte er. Er war 15, als er endlich frei kam.
Jetzt laufen Horden von Schülern an ihm vorbei, gleich wird die Geschichtsstunde der Klasse 9 b beginnen. Die Mädchen und Jungen, die da jetzt in den Klassenraum strömen, sind etwa so alt wie Thomas Geve bei seiner Befreiung. Mädchen mit engen Jeans und zweifarbigen Turnschuhen, Jungs in herunter hängenden Hosen und Polo-T-Shirts mit senkrecht aufgestellten Kragen.
Und mittendrin: Thomas Geve, an seiner Seite ist Elisabeth Marquart, eine zierliche Frau mit wachem Blick, eine pensionierte Journalistin aus Stuttgart. Seit Jahren begleitet sie Geve in deutsche Schulen, es ist ihr ein Anliegen, das Thema Holocaust lebendig zu halten. Wie sie sich zusammen den Weg durch die Schülermassen bahnen, scheint es fast so, als hätten sich da zwei im Gebäude geirrt. Ein wenig sehen die beiden so aus wie aus einer anderen Welt.
Fast schüchtern stellt sich der alte Mann jetzt vor die Klasse und fängt an, zu erzählen. Wie er 1929 in Stettin geboren wurde und schon bald mit seiner Mutter nach Berlin zog, wo es nur so wimmelte vor faszinierender Technik: Die Eisenbahnen, die Gleisanlagen, die Rolltreppen, all das faszinierte den Jungen von der Ostsee, stundenlang schaute er den ein- und ausfahrenden Zügen zu. „Das war meine Welt“, sagt Geve und lächelt, als ob das alles erst gestern war.
Sie waren auf sich gestellt
Berlin war fortan sein Tummelplatz, seine Großeltern lebten hier, unweit des Nollendorfplatzes. Ob sie richtige Juden waren? Geve zuckt mit den Schultern und grinst schelmisch. Na, eher nicht, sagt er, die Suppe der Großmutter jedenfalls sei über alle Maßen köstlich gewesen. Schweineschwanz habe sie hinzugefügt, für den feinen Geschmack, daraus machte sie kein Geheimnis.
1941 ging Thomas in die Mittelschule am Alexanderplatz. Spaß hat ihm das Lernen nicht gemacht, sagt der alte Mann heute. „Ich habe weder an die deutschen noch an die jüdischen Bücher geglaubt.“ Dann, es war im Sommer 1942, wurde die jüdische Schule geschlossen, fortan half Geve auf dem nahegelegnen Friedhof und verdiente sich dort etwas Geld dazu. Als die Repressionen der Nazis zunahmen, arbeitete die Mutter nachts, Thomas versuchte, sich aus der Öffentlichkeit fern zu halten, so gut es eben ging. Sie waren auf sich gestellt. Geves Vater, ein überzeugter Sozialist und politisch aktiv, hatte sich bereits 1939 nach England abgesetzt. Thomas und seine Mutter sollten alsbald nachkommen. Das war der Plan.
„Es gab nirgendwo mehr Juden“
Doch das Leben hielt ein anderes Kapitel für Thomas Geve und seine Mutter parat. Einmal wurde er verhaftet, kam aber wieder frei. Man brauchte ihn, wie es damals hieß, als „wichtigen Mitarbeiter“. „Zum Glück“, sagt Geve ein wenig unbeholfen, „waren die anderen Friedhofsmitarbeiter zu der Zeit schon deportiert worden. Das hat mir ein wenig Zeit verschafft.“
Das vermeintliche Glück aber währte nur kurz. Schließlich mussten auch Geve und seine Mutter Berlin verlassen, zusammen mit den Nachbarn wurden sie abtransportiert. „Die hatten unsere Vermieter deportiert und wir wussten nicht wohin. Es gab ja nirgendwo mehr Juden.“
Geve setzt sich jetzt im Klassenraum auf einen Stuhl in der ersten Reihe, das Licht wird ausgeschaltet. Ein Film läuft an, es ist eine Dokumentation des Bremer Filmemachers Wilhelm Rösing. Im Klassenraum wird es leiser, Geve erscheint vorne auf der Leinwand und erzählt, wie er ins KZ kam, zunächst nach Birkenau, zwei Tage blieb er mit den anderen im Quarantäneblock. In Viehwagen seien sie dorthin gekarrt worden. „Menschen waren damals Nummern“, sagt Geve. Seine Nummer prangt wie ein Mahnmal noch immer eintätowiert auf seinem Arm.
In Auschwitz traf Geve seine Freunde, fünf Jungs aus Berlin, die hier im Lager durch dick und dünn gingen. Die sich halfen, den Alltag im KZ ein wenig erträglicher zu machen. Doch die gemeinsame Zeit währte nur kurz: „Einer nach dem anderen verschwand“, sagt Geve. „Nur ich blieb übrig.“
Seinen echten Namen nennt Geve nicht, wenn er in Deutschland ist, er verwendet ein Pseudonym. So kann er das Erlebte von der eigenen Person trennen. Eine Art Selbstschutz. Zu sehr sind die schweren Momente seiner Lageraufenthalte noch präsent.
Im Klassenraum herrscht Schweigen
Die unförmigen Holzschuhe, die stets drückten, die dünnen Suppen, die kaum satt machten, die unendlich langen Tage, an denen man Freiwild war für die Lagerwächter und ihre Grausamkeiten. Vor allem erinnert er sich an die nicht enden wollenden Selektionen, nackt mussten sie vor den SS-Schergen herlaufen. „Wer Verletzungen hatte oder zu langsam lief, wurde mit dem Finger herausgeschnipst.“ Ein kleiner Fingerzeig – er bedeutete den sicheren Tod.
Und Verletzungen hatten sie oft: In Auschwitz arbeitete Geve in einer Baukolonne, sie errichteten Luftschutzbunker für die SS. Blutige Hände, offene Wunden, Verletzungen aller Art – all das war an der Tagesordnung und doch mussten die Inhaftierten gerade das fürchten – wer nicht mehr als arbeitsfähig galt, wurde aussortiert. Geve kam irgendwie durch. „Kräftig habe ich nie ausgesehen, aber für mein Alter ungewöhnlich groß“, sagt er, als wolle er eine Entschuldigung finden für sein Überleben.
Einmal erblickte er aus der Ferne seine Mutter, mit einem Stück Brot in der Hand sei er an ihrer Arbeitskolonne vorbei gegangen. Es war das letzte Mal, dass er sie sah. Die Unmenschlichkeit des Nazi-Terrors – eindringlicher könnte man sie nicht erfahren. Im Klassenraum herrscht jetzt bedächtiges Schweigen. Niemand sagt etwas. Nur das Sirren des Filmprojektors ist zu hören. Es sind Momente wie diese, die Thomas Geves Auftritte so besonders machen.
„Das Primitivste, das ich je gesehen habe“
Im Januar 1945 ließ die SS Auschwitz evakuieren, zu Fuß wurden die Häftlinge zunächst nach Groß Rosen getrieben, dann weiter nach Buchenwald, bei Temperaturen weit unter Null. „Es gab keine Lebensmittel, also haben wir Schnee gegessen,“ erinnert sich Geve. Tausende starben auf diesen Todesmärschen, am Rande des langen Trecks bleiben sie erschöpft liegen. Auch Geve war geschwächt, ausgezehrt von den langen Monaten im Lager. „Ich wusste manchmal nicht, wo ich mich befand“, erzählt er. Das Bewusstsein weigerte sich, den Terror weiter zu ertragen.
Dann kam Buchenwald. „Das Primitivste, das ich je gesehen habe“, sagt Geve. „Hier kämpften alle gegen alle.“ Die KZ-Aufseher, diese „Ausgeburten des Sadismus“, wie Geve sie nennt, schikanierten die Häftlinge wo sie nur konnten. Und auch untereinander gingen die Lagerinsassen aufeinander los, der Kampf ums Überleben wurde nun auch untereinander geführt.
„Weil ich noch jung war, habe ich alles abbekommen“, sagt Geve im Film. Nicht nur deswegen mochte er die Toilettenanlagen, wo man mit den anderen Häftlingen wie auf einer Hühnerstange nebeneinander hockte. Und doch hatte man an diesem erbärmlichen Ort wenigstens für einige Minuten Ruhe. Draußen wartete der Nazi-Terror.
Hatte er Angst? „Nein“, sagt Geve, Angst habe er nie gehabt. Er war hochgewachsen, mitunter größer als die „Kapos“, das verschaffte ihm Genugtuung und Selbstvertrauen. Und er hatte einen unerschütterlichen Willen auszuhalten, den Terror zu bezwingen. Dieser Optimismus, sagt Geve mit Nachdruck, habe ihm wohl das Leben gerettet.
Geve hat eine Mission
Im April 1945 erreichten die Alliierten Buchenwald. Thomas Geve aber war zu schwach, um einfach in die Freiheit zu laufen. Also blieb er im Lager und begann zu malen. Mit Buntstiften, die ihm Mitgefangene, aber auch die Befreier in Uniform besorgten, begann er, das Erlebte aufzumalen. In bunten Skizzen hielt Geve die Erlebnisse des KZ-Alltags fest. Die Entmenschlichung. Die Grausamkeit. Den Tod.
Dann ist der Film zu Ende. Die Schüler schauen nach vorn zu dem alten Mann, der sich langsam von seinem Stuhl erhebt und wieder seinen Platz in der Mitte des Raumes einnimmt. Eine Schülerin fragt schüchtern, ob er nicht an Flucht gedacht hat. „Oft“, antwortet Geve. „Aber wir haben ja gesehen, was mit denen passierte, die es versuchten.“ Er schaut aus dem Fenster – das Grauen der NS-Zeit, es kommt in jedem seiner Sätze zum Ausdruck.
Lange hatte sich Thomas Geve geweigert, ins Land der Täter zurück zu kommen, er wollte, er konnte die Sprache seiner Peiniger nicht mehr sprechen. Doch das ist vergessen, heute kommt er gerne nach Deutschland, quartiert sich in Wohnungen ein, versorgt sich selbst, seine Familie weit weg. Geve hat eine Mission.
„Gibt es noch Fragen?“, fragt er jetzt freundlich. Es dauert ein paar Sekunden, dann meldet sich ein Junge im bunten T-Shirt zu Wort. Wie lange hat man im Lager gearbeitet? „Von morgens um sechs bis abends um sechs“, sagt Geve. „So war das Leben.“ Es ist wie ein Mantra, das er immer wieder aufsagt: So war das Leben.
Geve legt vor der Schulklasse seine Skizzen aus, die Originale kann man heute in der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem besichtigen. Andächtig gehen die Schüler nach vorne. Die Bilder wirken auf den ersten Blick harmlos, so bunt, so pastellig – wie unschuldige Kinderaufnahmen. Umso brutaler und eindringlicher sind die Szenen, die sie zeigen: Die Folter, den Hunger, den Drill. Die Vernichtung. „Einer saß auf dem anderen drauf und hat ihn runtergedrückt“, sagt Geve, „so war das ganze Hitler-Reich aufgebaut“.
Eine Schülerin meldet sich zu Wort und fragt leise:. „Wie kann man das überleben?“ Geve zögert, „Vielleicht waren es die mit einem guten Immunsystem“, sagt er. „Vor allem die Jungen sind durchgekommen, Jungen wie ich.“
Anreden gegen das Vergessen
Dann ist die Stunde zu Ende, die Schüler der 9 b packen ihre Taschen, auch Thomas Geve nimmt seine Skizzen und steckt sie sorgfältig in die Plastiktüte. Es ist sein Leben, das er da in Händen hält, und sein Lebenszweck.
In wenigen Wochen wird er wieder hierher kommen, dorthin, wo man einen Großteil seiner Familie auslöschte, erneut wird er dann durchs Land touren, vor Schulklassen stehen, wird versuchen, das Unvorstellbare zu erklären. Wird gegen das Vergessen anreden, gegen die Mauer aus Unwissenheit, die immer größer wird. Dass jeder Fünfte unter 30 nicht weiß, was das Wort Auschwitz bedeutet, auch das treibt den Geve an. Für ihn ist es Grund genug, seine Familie in Haifa zurück zu lassen, sich in bescheidenen Apartments einzumieten, die von engagierten Eltern und der Konrad-Adenauer-Stiftung bezahlt werden.
Ein paar Stunden später sitzt Geve in einem kleinen Restaurant, er bestellt sein Mittagessen. Ein wenig müde sieht er aus, die Auftritte vor den Schülern sind immer etwas Besonderes. Manchmal kann er, so scheint es, mit ihnen leichter über das Erlebte reden als mit Erwachsenen. Ihm wurde die eigene Kindheit geraubt, Kinder und Jugendliche liegen ihm daher besonders am Herzen.
Warum nimmt er aber all das auf sich? „Ich will etwas schaffen“, sagt Geve und blickt mit festem Blick geradeaus. Sein Leben lang hat er etwas geschaffen, hat als Ingenieur gearbeitet, realisierte unzählige Bauvorhaben, half nach seiner Übersiedlung im Jahr 1961 mit, den Staat Israel aufzubauen. Dieses letzte Projekt aber ist noch nicht beendet. Thomas Geve wird es verfolgen. Genau so unerbittlich wie der Holocaust ihn verfolgt.
Mehr zu Thomas Geves Zeichnungen hier.
Die Autorin Marion Kraske, studierte Politologin, ist freie Journalistin, Kolumnistin und Buchautorin. In ihrem 2009 erschienenen Buch „Ach Austria. Verrücktes Alpenland“ (Molden-Verlag) zeigt Kraske unter anderem die Problematik des geistigen Rechtsextremismus in Österreich auf. Sie ist außerdem Gründerin des Polit-Blogs www.debattiersalon.de.