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In den letzten Wochen habe ich besonders häufig das Wort "fassungslos" gehört und gelesen, meist in Verbindung mit Erkenntnissen über die NSU-Ermittlungen. Polizei und Verfassungsschutz haben auf Wahrsager und Geisterjäger gesetzt, statt auf Erkenntnisse der Zivilgesellschaft oder auf erfahrene Nazijäger. Oder die Geschichte mit den gelöschten Akten des Verfassungsschutzes Thüringen: auch sie hat dieses Wort herausgefordert. Oder die ungehörten Zeugen bei den Mordanschlägen. Aus der Fassung geraten scheint der gesamte Verfolgungs- und Ermittlungsapparat in der Bundesrepublik zu sein, wenn es um Rechtsterror geht. Das stellt sich jetzt in einigen Untersuchungsausschüssen heraus. Übrigens: an dieser Stelle sei denjenigen Parlamentariern gedankt, die sich hier furchtlos hineinknien und zum Teil kriminalistische Detailarbeit leisten! Dennoch gibt es eine Steigerung von "fassungslos" - das kann ich Ihnen versprechen.
Von Anetta Kahane
Bizarr und lächerlich wirkt dagegen das Gerangel um die Extremismusklausel. Bizarr, weil nach dem NSU und dem ErmittlungsGAU das Ausmaß an Unverhältnismäßigkeit in jedem politischen Bereich, der sich mit Rassismus und Rechtsextremismus befasst, deutlich wird. Lächerlich, weil Unverhältnismäßigkeit oder gar das Verdrehen der Tatsachen über die Lage im Lande irgendwann etwas Komisches bekommt. Ich schließe uns darin ein. Da kämpfen wir gegen eine Extremismusklausel, die längst als rechtswidrig deklariert wurde, und schimpfen über falsche Ermittlungsstrategien im Fall des NSU und merken gar nicht, wie sich etwas nähert, das nach einer Steigerung des Wortes "fassungslos" verlangt.
Weil der Verfassungsschutz in Bund und Ländern so prima Arbeit geleistet hat, wird er nun mit einer neuen, großen Verantwortung betraut: Werden Projekte, Initiativen und Vereine in einem ihrer Berichte erwähnt, bedeutet dies zukünftig automatisch den Entzug der Gemeinnützigkeit. Also nicht die Finanzämter gewähren oder entziehen das Steuerprivileg, sondern der Verfassungsschutz. So jedenfalls plant es das Finanzministerium bei der Neufassung der Abgabenordnung. Genau jener, der sich als so professionell gezeigt hat, dass er mit der Hilfe von Ghostbusters schnell noch Akten über die NSU geschreddert hat, bevor sie ausgewertet werden konnten - um nur eine der Heldentaten dieser Behörden zu nennen.
Wenn also ein Verein wie MittenDrin in Neuruppin Erwähnung im Bericht findet, so bereits vor einem Jahr geschehen, wird dessen Gemeinnützigkeit gelöscht. Die allgemein hochgeschätzte Arbeit der jungen Leute für demokratische Alltagskultur muss fortan ohne Geld auskommen. MittenDrin wurde vor 20 Jahren gegründet und wird seither auch ständig von Nazis bedroht. Seine Mitglieder wurden verprügelt, das Haus angegriffen, die Unterstützer bedroht. Nun hat MittenDrin gegen den VS Bericht geklagt und Recht bekommen und den Preis der Julius-Rumpf-Stiftung obendrein. Ein Erfolg, der allerdings mit Riesenaufwand und teuren Rechtswegen verbunden war. Was heißt das für die Zukunft?
Es heißt, dass eine wichtige Grundlage des Subsidiaritätsprinzips und der Selbstorganisation der Bürger eine Angelegenheit des Geheimdienstes wird. Die Aufsicht über die Bürgergesellschaft liegt nun also beim Verfassungsschutz. Das macht doch ein wenig "fassungslos", oder? Das Recht muss in jede Richtung und ohne Ansehen der Person funktionieren. Wer also heute feixt, es würde ja nur "Linksradikale" treffen, irrt in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist MittenDrin aus Neuruppin nicht linksradikal, das hat neben dem gesunden Menschenverstand auch das Gericht so gesehen. Und zum anderen könnte es irgendwann auch mal die Kaninchenzüchter treffen, für den Fall, dass wir mal eine vegane Regierung bekommen. Oder eine, die aus anderen Gründen extrem kaninchenfeindlich ist. Dass solche Radikalen nicht von Steuervorteilen profitieren sollen, kann man verstehen. Doch allein eine Erwähnung im Bericht des Verfassungsschutzes - auch wenn er noch so tolle Arbeit leistet- sollte hier nicht ernsthaft ausreichen. Denn dann erhält er doch noch exekutive Aufgaben, die ihm ja bei Ermittlungen untersagt sind und zwar so sehr, dass er nicht einmal Akten von Relevanz vor dem Schreddern bewahren darf.
Und nun soll ausgerechnet der Verfassungsschutz Gesinnungspolizei im Vereinswesen werden? Im deutschen Vereinswesen? Vielleicht weil das leichter ist, als die V-Leute abzuziehen und die NPD zu verbieten (wogegen ich eindeutig bin) oder terrorfördernde Vereine nicht zu verbieten (wofür ich eindeutig bin). Vereine unter die Lupe zu nehmen ist richtig und das Angebot an Verdächtigem auch in der rechten oder islamistischen Szene groß. Doch der Rechtsstaat und die Bürgergesellschaft sollten sich bei dem neuen Gesetz, das den Verfassungsschutz ermächtigt in die Steuerhoheit einzugreifen, nicht entmündigt an den Katzentisch setzen lassen.
Eine Kultur der Verdächtigung und Denunziation, bei der ausgerechnet unser Verfassungsschutz den Schiedsrichter spielt, bringt eine Steigerung von "fassungslos": nämlich "verfassungslos".
Ich hatte es Ihnen versprochen.