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Die „Fachgespräche“ der Fans beim Public-Viewing scheinen nicht ohne Stereotype über „Südländer“ auszukommen. Kein Wunder, wenn sogar Fußballprofis und Experten die gängigen Vorurteile befeuern.
Ein Kommentar von Ulla Scharfenberg
Eine Kneipe in Berlin-Friedrichshain. Es ist der zweite Spieltag in der Gruppe C, gerade haben sich Italien und Kroatien unentschieden getrennt. Beim Public-Viewing warten die Zuschauer nun auf die zweite Partie des Tages: Spanien gegen Irland. Während die Tagesschau über die Leinwand flackert, ist viel Raum für Fachgespräche der anwesenden Fußballsachverständigen. Es entwickelt sich ein harmloses Gespräch über unterschiedlichen Trikotgrößen der Fußballer, wobei die These aufkommt, enge Trikots seien ein wirkungsvolles Mittel, die Fouls durch „Trikotziehen“ zu verhindern. „Das bringt gar nichts“, wendet ein junger Mann ein, „die südländischen Mannschaften trainieren solche Fouls. Die können noch das engste Trikot greifen“. Zustimmendes Nicken aus der Runde.
Wie bitte? „Die südländischen Mannschaften“? Um wen geht es denn da bitte? Ein „Südland“ habe ich auf der Landkarte nicht finden können, also wer ist gemeint? Alle Staaten südlich Deutschlands? Nein, wohl kaum, es sei denn Österreich zählt dazu. Sind es die südlichsten EM-Teilnehmernationen? Schon eher: Portugal, Spanien, Italien, Kroatien und Griechenland also. Natürlich auch die Türkei, aber die haben sich ja nicht für das diesjährige Turnier qualifizieren können.
Alle kriminell?
Ich gebe „südländisch“ bei Google ein, das Internet hat sicher einige Antworten parat. Ich werde nicht fündig, die ersten Treffer verweisen mich alle in Online-Wörterbücher. Google-News dagegen ist aufschlussreicher: Neun von zehn Treffern auf der ersten Seite sind Meldungen der Sparte „Polizeibericht“. Also alle kriminell, diese Südländer? Auf den ersten Blick scheint das naheliegend.
Dazu passt dann ja auch gut die Behauptung des jungen Manns beim Public-Viewing, dass die südländischen Nationalmannschaften „Fouls trainieren“, und andere offenbar nicht. Ich habe nachgefragt: Ja, das sei ganz sicher so. Er wisse das, habe eigene Erfahrungen und „selbst Südländer im Freundeskreis“. Aha.
Damit möchte ich mich nicht abfinden. Ich suche weiter nach Belegen für die haarsträubende These, „Südländer“ seien unfairer als „Nordländer“ oder wie auch immer das Pendant heißen mag. Onlineforen strotzen vor weiteren Behauptungen über „südländische“ Kicker. Da mir die Quellen jedoch alles andere als seriös erscheinen, konzentriere ich meine Nachforschungen auf die, die es ja wissen müssen: Profifußballer und solche, die es mal waren.
„Die allertollsten Geschichten“
Oliver Kahn, Torwartlegende und heute hauptberuflicher Experte in Fußballfragen, trifft sich dieser Tage regelmäßig mit Katrin Müller-Hohenstein, um auf einer Bühne im Meer vor Usedom die Spiele für das ZDF zu analysieren. Während ich bei „KMH“ nicht mehr zuhöre, seit sie zur WM 2006 Miro Klose einen „inneren Reichsparteitag“ attestierte, achte ich nun etwas genauer auf Ollis Worte. In der Analyse des Spiels Ukraine – Schweden werde ich fündig. Nach den bisher gezogenen Schlüssen standen sich hier zwar gar keine „Südländer“ gegenüber, ich lerne trotzdem etwas dazu: Kahn beschreibt eine Szene, in der die Schweden ein Tor erzielen, obwohl ein ukrainischer Spieler verletzt am Boden liegt. Das gehöre sich grundsätzlich nicht, das Fair-Play setze eigentlich voraus, dass der Ball ins Aus gespielt wird. „Interessant war“, so Kahn, dass die ukrainischen Spieler nach diesem Gegentor „überhaupt nicht, null“ protestiert hätten. „Wenn das bei südländischen Mannschaften passiert“, erklärt der Experte, „da hat man schon die allertollsten Geschichten erlebt.“
Also doch: „Die Südländer“. Ich erinnere mich an die Weltmeisterschaft 2006. Hatten uns nicht damals schon deutsche Nationalspieler über das „Temperament“ der Argentinier aufgeklärt? Zuerst Bastian Schweinsteiger: „Die versuchen, den Schiedsrichter zu beeinflussen, agieren oft unfair. Das gehört sich nicht für mich, das ist respektlos. (…) So sind die halt, darauf müssen wir uns einstellen. Wir dürfen uns nicht provozieren lassen“, erklärte der Bayern-Profi. Philipp Lahm gab seinem Mannschaftskollegen recht: „Wir wissen, dass die Südamerikaner sich sehr impulsiv und temperamentvoll verhalten und nicht wirklich verlieren können“. Achso, also nicht nur die argentinische Nationalmannschaft, sondern „die“ Südamerikaner. Sind „die“ eigentlich auch „Südländer“?
Verallgemeinerungen bis zur Beleidigung
Teammanager Oliver Bierhoff hat seine ganz eigenen Erfahrungen. Er habe die Argentinier durchweg als „herzliche, gesellige und freundliche Menschen“ kennengelernt: „Aber sobald es auf den Platz geht, vergessen sie das. Es gibt dann laufend Provokationen und Diskussionen“. Wer jetzt glaubt, Schweini habe sich ja „nur“ auf das damalige Team der „Albiceleste“ bezogen, irrt. Die Fans sind nämlich auch nicht besser, weiß der Mittelfeldmann: „Ich habe gehört, die setzten sich auf der Tribüne einfach zusammen auf irgendwelche Plätze von anderen Zuschauern. Das zeigt den Charakter der Argentinier."
Ganz im Ernst, wenn sich schon die Profis derartig äußern, brauche ich mich wohl nicht über die selbsternannten Experten beim Public-Viewing wundern, die fachmännisch erklären: „Die Italiener lassen sich immer fallen“ oder „die Portugiesen beschweren sich laufend“.
Stereotyp oder Vorurteil?
Woher kommen diese Vorurteile gegenüber Fußballern (=Menschen) aus südeuropäischen und südamerikanischen Ländern? Zunächst einmal muss zwischen Vorurteilen und Stereotypen unterschieden werden. Das Institut für interkulturelle Kompetenz und Didaktik (IIKD) erklärt: „Stereotype sind mentale Vereinfachungen von komplexen Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Personengruppen. Obwohl diese vereinfachten Eindrücke und Darstellungen nicht immer wahrheitsgetreu sind, benötigen wir Stereotype, um die Komplexität unserer Umwelt zu vereinfachen und die Interaktion mit Menschen anderer Gruppen zu erleichtern. Die Anwendung und das Vorhandensein von Stereotypen ist also ein gewöhnlicher Vorgang und ist nicht negativ zu bewerten, solange man sich über die starke Reduzierung der Realität bewusst ist.“
Also dienen die aufgestellten Behauptungen über „Südländer“ nur der Vereinfachung von Komplexität? Soll die Aussage „Südländische Fußballer lassen sich häufiger fallen“ demnach nur die Interaktion mit dem italienischen Sitznachbar in der Kneipe erleichtern? Das kann ich mir kaum vorstellen. Das IIKD liefert die Definition für Vorurteil gleich mit: „Ein Vorurteil entsteht, wenn die verallgemeinerten Eindrücke mit Emotionen besetzt werden. Das Vorurteil beruht im Gegensatz zu Stereotypen nicht auf Erfahrung und Wahrnehmung, sondern auf einer meist wenig reflektierten Meinung und ist somit ein vorab gewertetes Urteil.“ Das trifft es wohl eher.
Leider macht mir das IIKD wenig Hoffnung darauf, im weiteren Verlauf dieser EM oder späteren Turnieren vom „Südländer“-Gefasel verschont zu bleiben: „Vorurteile sind meist negativ behaftet und durch ihre Komplexität und Vielfältigkeit schwer aufzuheben.“