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Ihr Kampf

Iris Niemeyer ist die Enkeltochter eines Nazigegners und war einmal links. Heute sucht sie ihre politische Heimat bei der NPD und den Holocaustleugnern. Die Geschichte einer Frau am Rand der Gesellschaft
        
Von Anne Lena Mösken
 
An einem Nachmittag im Januar, genau siebenundsechzig Jahre, nachdem die sowjetischen Truppen das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, richtet sich Iris Niemeyer in einem schweren Polstersessel auf und sagt: „Warum darf nicht infrage gestellt werden, ob in Auschwitz überhaupt Juden umgekommen sind?“ Den ganzen Tag lang hat sie im Radio Ausschnitte von Marcel Reich-Ranickis Rede im Bundestag gehört und dabei ihr Baby gestillt. Der berühmte Literaturkritiker, der seine Jugend im Warschauer Ghetto verbrachte, dessen Eltern in den Gaskammern von Treblinka umgebracht wurden, ist die Spitzenmeldung in allen Nachrichten. Mit belegter Stimme spricht der alte Mann über seine Erlebnisse, zum Schluss sagt er: „Damals gab es nur ein Ziel, nur einen Zweck: den Tod.
           
Iris Niemeyer ist eine kleine, schmale Frau, mit einem Gesicht, das alterslos wirkt, mädchenhaft und hart zugleich. Der Polstersessel verschluckt sie fast. Sie schaut aus dem Fenster ihres Wohnzimmers, auf die Klinkerbauten, die die leere Straße am Stadtrand von Rheine säumen, schaut auf heruntergelassene Rollläden und penibel gestutzte Hecken. Sie sagt, es gebe doch Beweise, dass in Auschwitz keine Juden vergast worden seien, eine wissenschaftliche Arbeit des Chemikers Germar Rudolf.
   
„Es lähmt unser Volk, dass wir nicht offen über den Holocaust reden dürfen."
   
Rudolf hat die Arbeit 1991 für einen alten Wehrmachtsgeneral verfasst, der sie, angeklagt wegen Volksverhetzung, in einem Gerichtsprozess zu seiner Entlastung verwenden wollte. Zwei amerikanische Wissenschaftler haben Rudolfs Thesen bis ins Detail widerlegt. Doch Iris Niemeyer scheint es gar nicht um historische Wahrheit zu gehen. Sie sagt: „Es lähmt unser Volk, dass wir nicht offen über den Holocaust reden dürfen. Warum gibt es in einer Demokratie Paragrafen, die das verbieten?
      
Iris Niemeyer ist 37 Jahre alt, Sozialarbeiterin, Mutter eines vier Monate alten Sohnes. Ihr Großvater hat gegen die Nazis gekämpft. Als Schülerin hat sie begeistert die Manifeste der RAF gelesen, gegen Atomkraft protestiert und Geld für die Dritte Welt gesammelt. Nun, zwanzig Jahre später, hat sie einen Brief von der Staatsanwaltschaft in Münster bekommen: Ihr wird vorgeworfen, Symbole einer ehemaligen nationalsozialistischen Vereinigung verwendet zu haben. Sie soll zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgestachelt haben. Sie soll den Holocaust geleugnet haben.
     
Ihr Gesicht ist ungeschminkt, die Haut eher fahl als winterlich blass. Die schlaflosen Nächte mit ihrem Baby haben tiefe Ringe unter ihre Augen gezeichnet.
    
Eine nationale Sozialistin
  
Früher habe ich immer gesagt, ich bin eine nationale Sozialistin“, sagt Iris Niemeyer. Nationale Sozialistin klingt fast wie Nationalsozialistin, aber dann doch ganz anders, findet sie. Sie mag das Wortspiel. Aber man müsse derzeit, da die Zeitungen täglich von den Morden eines Nationalsozialistischen Untergrunds berichten, vorsichtig sein. Deshalb sagt sie jetzt lieber: „Ich bin Patriotin. Sein Land lieben, das darf man ja wohl.
     
Sie weiß, dass sie gerade eigentlich besser gar nichts sagen sollte, weil dieses Verfahren gegen sie läuft. Aber sie kann nicht anders. „Ich lasse mir keinen Maulkorb verpassen. Ich bin ein rebellischer Mensch, und konform gegangen mit der Gesellschaft und der Welt, das bin ich noch nie.
   
In so einem Moment scheint noch immer das siebzehnjährige Mädchen im Sessel zu sitzen, das sich einst die Haare zu langen Dreadlocks filzte, weil es anders sein wollte. Und anders heißt im Norden Nordrhein-Westfalens, wo die Menschen seit Jahrzehnten treu die CDU wählen, links sein. Mit der Katholisch Studierenden Jugend, einer Gruppe linker Gymnasiasten, fährt sie zu Demos nach Lingen, wo auf einer Anhöhe die Kühltürme eines Atomkraftwerks in den Himmel ragen.
    
Apfelsinen-Verkauf für die Dritte Welt

Im Winter steht sie auf dem Weihnachtsmarkt und verkauft Apfelsinen für eine Mark das Stück. Das Geld spendet sie an die Dritte Welt. Sie kommt gut an bei ihren neuen Freunden. Manchmal erzählt sie von ihrem Großvater. „Opa war ein überzeugter Antifaschist.“ Im Krieg hatte er sich gegen die Nazis gewehrt, er verlor seine Zulassung als Arzt, wurde verhaftet. Viel mehr weiß sie nicht über ihn.
     
Die Eltern werden einsilbig, wenn es um diese Vergangenheit geht. Der Großvater saß in der Justizvollzugsanstalt Münster in Haft, erzählt Iris Niemeyer, und ihr Vater musste mit fünfzehn die Schule abbrechen, musste arbeiten gehen, die Familie versorgen. Mühselig habe er sich erst nach Ende des Krieges ein eigenes Leben aufgebaut, studiert, als Verkaufsleiter einer Baumwollspinnerei gearbeitet, um nun Frau und Kinder zu ernähren.
   
Besser man behält seine Ansichten für sich, das sei die Lehre gewesen, die ihre Eltern aus dem Kampf des Großvaters zogen und ihrer Tochter mitgaben. Sie sind es, die Iris Niemeyer später warnen, als sie in die NPD eintritt: „Iris, pass auf, du bringst dich in große Schwierigkeiten.“ Seit der Brief von der Staatsanwaltschaft da ist, hoffen sie nur noch, dass sie ruhig bleibt, nicht mehr mit Journalisten spricht, nichts mehr im Internet schreibt.
  
Morphiumsüchtiger Großvater
    
Der Großvater starb, als sie elf Jahre alt war. Sie erinnert sich an sein Bücherzimmer mit den schweren Sesseln, in denen sie saß und zuhörte, wenn er vorlas. Schwierig war er zum Schluss, auch das weiß sie noch, morphiumsüchtig, weil er das Leben nicht mehr ertrug, ungehalten dann, als sie ihm die Medikamente wegnahmen.
      
Iris Niemeyer macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, arbeitet in einer Drogenberatungsstelle, ehe sie schließlich ein Studium an der Fachhochschule in Münster beginnt, soziale Arbeit und Pädagogik, ein Doppeldiplom. In einem Seminar geht es um die Bildungspolitik der Nachkriegszeit. Iris Niemeyer hört hier zum ersten Mal von der „Reeducation“, mit der die Alliierten die Deutschen, die zwei Weltkriege angefangen hatten, zu Demokraten machen wollten. „Mission civilatrice“ hieß es in der französischen Besatzungszone, „antifaschistisch-demokratische Umgestaltung“ in der sowjetischen.
     
Bei Iris Niemeyer bleibt hängen: Die haben uns umerzogen. Ich bin umerzogen. Und wenn ich umerzogen bin, wer bin ich dann eigentlich? Der Professor sagt, die Reeducation sei abgeschlossen. Iris Niemeyer glaubt ihm nicht, glaubt stattdessen, dass die Amerikaner noch immer Macht ausüben, durch die Medien, durch den Konsum. Die Deutschen sollen noch immer ruhiggestellt werden.
    
Für sie, eine junge Frau Ende zwanzig, beginnt, was sie heute ihre „Wahrheitssuche“ nennt. „Was den Deutschen damals genommen wurde, ist eine patriotische Haltung “, sagt sie und erzählt, wie sie eine Zeit lang in Rheine die Volksbank geputzt hat. Sie war, außer dem Chef der Putzkolonne, die einzige Deutsche unter Türken, Portugiesen, Russen, Italienern. In der Mittagspause habe sie immer alleine gesessen. „Ich war da ausgegrenzt“, sagt sie, und auch die anderen hätten nichts miteinander anzufangen gewusst. „Jeder saß mit seinesgleichen.“ Sie macht eine kurze Pause, als hätte sie damit endgültig bewiesen, dass die multikulturelle Gesellschaft eine Utopie ist. „Ich meine, welchen Leuten steht man am nächsten? Erst mal den eigenen“, sagt Iris Niemeyer, „das ist einfach so.
    
Ihr Lebensgefährte kommt ins Wohnzimmer, er trägt einen schwarzen Kapuzenpulli, die Ärmel sind hochgeschoben, geben den Blick frei auf tätowierte Unterarme. Die Seiten seines Kopfes sind kahlrasiert, die Haare oben sind zu einem Bündel Dreadlocks gebunden. „Besuch“, sagt er, fast entschuldigend, drückt ihr das schreiende Baby in den Arm und verschwindet wieder in die Küche.
 
Liebe zu einem Punk

Iris Niemeyer und Gerrit Gerdes sind seit zehn Jahren zusammen. Kennengelernt haben sie sich auf einer Technoparty. Gerrit Gerdes ist ein Punk, bekannt in Rheine, weil er eine Zeit lang mit den Musikern der Band Muff Potter spielte, die später ein bisschen berühmt wurde. Auch weil er oft Stress macht. Einmal wartet er mit seinen Freunden vor einer Kneipe im benachbarten Neuenkirchen, mit Knüppeln in der Hand, drinnen trifft sich der Kreisverband der NPD. „Den Nazis auf die Klappe hauen“, nennen sie das.
    
Iris Niemeyer verliebt sich in ihn. Für sie ist er ein Freigeist. Nächtelang diskutieren sie über Philosophie, Literatur, Politik. Sie bewundert ihn, weil seine Gedanken oft klarer sind als ihre eigenen, wie sie findet, intellektuell statt emotional. Er sagt ihr nicht, was sie denken soll, er sorgt dafür, dass sie von selbst darauf kommt.
   
Wir waren auf der Suche“, sagt Iris Niemeyer, „es hat uns nicht mehr gereicht, irgendwie gegen das System zu sein.“ Sie lassen sich die Programme aller deutschen Parteien zuschicken, wollen dort Antworten finden auf ihre Fragen. Das Sozialsystem zum Beispiel: „Wie soll der Staat das bezahlen, wenn er immer mehr Ausländer ins Land lässt?“ Sie reden über die gleichen Themen, die auch an Stammtischen dieses Landes besprochen werden, aber Stammtische sind ihnen zu wenig. Sie treten in die CDU ein, aber bald wieder aus. „Wir wurden dort gar nicht wahrgenommen“, sagt Iris Niemeyer, niemand habe sich bei ihnen gemeldet.
  
„Warum tut die sich das an?“
   
Wir sind eine große Partei“, sagt Norbert Kahle, heute Vorsitzender des CDU-Ortsverbandes in Rheine. Seit über dreißig Jahren ist er hier in der CDU. Dass Iris Niemeyer bei ihnen einmal Mitglied war, daran erinnert er sich nicht. Er sollte sie erst später kennenlernen, als Lokalpolitiker, der auf einmal eine aktive NPD-Frau in seiner kleinen Stadt hatte, und auch als Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Rheine. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus ist seine Sache, sagt Kahle, und bei Iris Niemeyer habe er sich gefragt: „Warum tut die sich das an?
     
Rheine, sagt CDU-Mann Kahle, sei stolz darauf dass es die Rechten hier schon immer schwer gehabt hätten. Bei Wahlen kämen sie nicht einmal auf ein Prozent der Stimmen. „Sie hätte sich keine unpassendere Stadt aussuchen können.
      
Doch Iris Niemeyer muss sich erst mal selbst verstehen. Es sei schon „ein enormer Sprung“ gewesen, sagt sie, von ganz links nach ganz rechts, aber eigentlich sei es auch sehr einfach: „Das Soziale kann man links und rechts finden.“ Nur, dass das Soziale rechts nur für Deutsche gilt.
    
Wachsende Gruppe extrem rechter Frauen
    
Iris Niemeyer gehört zu einer wachsenden Gruppe von jungen Frauen in Deutschland, die sich von extrem Rechten angezogen fühlen. Unter den Neuzugängen bei der NPD sind 50 Prozent Frauen, darunter Hausfrauen, Studentinnen, Büroangestellte, junge Mütter. Sie tragen keine Springerstiefel, keine Ledermäntel, ihre Gesinnung sieht man ihnen nicht an. Der NPD kommt das recht. Es ist Teil des Konzepts. Die Partei muss ihr Image aufbessern.
      
Kurz nachdem Iris Niemeyer und ihr Freund den Antrag gestellt haben, meldet sich Matthias Pohl bei ihnen. Pohl ist Vorsitzender der NPD im Kreis Steinfurt, ein ehemaliger „Kameradschaftler“, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, weil er 1999 mit einer Gruppe Neonazis drei türkische Männer verprügelte.
      
An einem Wintertag 2004 trifft er sich mit ihnen in der Kneipe am Rheiner Bahnhof, Pohl, ein gedrungener Mann mit Bürstenschnitt, Iris Niemeyer, die mit ihrer Schwermut eher an eine DDR-Bürgerrechtlerin erinnert als an eine Eva Braun, und Gerrit Gerdes, der Punk. Pohl sagt, er hatte damals schnell den Eindruck, die beiden hätten sich sehr genau damit auseinandergesetzt, wofür die NPD steht. Das habe ihn überzeugt. „Der Partei ist es egal, wo jemand herkommt“, sagt er, „wichtig ist, was er jetzt für Deutschland tun will.
    
„Ihr seid die NSDAP!“
   
Jeden Samstag stehen Iris Niemeyer und ihr Freund nun in der Fußgängerzone und verteilen Flugblätter. Zum Anfang ist es hart. Einmal bleibt eine alte Frau vor Gerrit Gerdes stehen, schreit immer wieder: „Ihr seid die NSDAP!“ Gerdes tippt auf das Parteiplakat: „Lesen Sie doch. Da steht NPD. N-P-D!“ Alte Freunde wenden sich ab. Iris Niemeyers Tante, verheiratet mit einem Türken, fragt, ob sie nun Ausländer hasse. Natürlich nicht, sagt Iris Niemeyer. Sie verweist gerne darauf, dass sie sich um Bildungspolitik kümmere. Sie sei gegen die Einführung der Ganztagsschule und dafür, dass Mütter ein Gehalt bekommen, die deutschen, selbstverständlich. Sie ist auch dafür, dass Migrantenkinder in der Schule getrennt unterrichtet werden, wegen der sprachlichen Defizite.
    
Die ersten Sommerfeste, die ersten Kreisverbandstreffen, die ersten Kundgebungen. Auf einer spricht Axel Reitz vom Kampfbund Deutscher Sozialisten, eine Neonaziorganisation, die ein paar Jahre später verboten wird. Reitz trägt die Haare hart gescheitelt, dazu einen schwarzen Ledermantel, der aussieht, als habe ihn sich der milchgesichtige Mann von seinem Großvater geliehen. Er schreit seine Rede. Klein Goebbels, habe sie gedacht, sagt Iris Niemeyer und sich fremd gefühlt zwischen den grölenden Glatzen.
    
Ausländer „zurückführen“
    
Sie gewöhnt sich auch nicht daran, dass die NPD alle Ausländer „zurückführen“ will. Sie findet es nicht gut, dass ihr Onkel nie gut Deutsch gelernt hat, will ihn aber noch lange nicht zurückschicken in die Türkei. Sie will auch den Nationalsozialismus nicht zurück. Aber sie sagt: „Es war nicht alles schlecht.“ Sie findet sich wieder in den Büchern von Eva Herman, die die Familienpolitik im Dritten Reich lobt, und Thilo Sarrazin, der Multikulti für gescheitert erklärt.
    
Als Iris Niemeyer eine Stelle in einem katholischen Jugendzentrum bekommt, ist sie bereits drei Jahre aktives NPD-Mitglied. Vier Nachmittage in der Woche betreut sie die Kinder, zwischen sieben und dreizehn Jahren, arbeitet völlig selbstständig, hat einen eigenen Schlüssel.
    
Wusste das Jugendzentrum, dass sie Mitglied in der NPD war?
     
Nein, wieso denn?“ sagt sie, „wer stellt sich denn schon mit seinem Parteibuch bei seinem Arbeitgeber vor?
     
Eines Tages bittet ihr Chef sie, um 18 Uhr ins Jugendzentrum zu kommen. Die Tische im Besprechungsraum sind umgestellt. Sie sitzt alleine, ihr gegenüber das ganze Team. Zwei Fotos liegen auf dem Tisch, stumme Vorwürfe. Iris Niemeyer zwischen Neonazis der Freien Kameradschaften auf einer Demonstration der NPD. Iris Niemeyer an einem Stand des Rings Nationaler Frauen auf einem Sommerfest der NPD.
     
Sie soll etwas dazu sagen, sie soll sich distanzieren. „Du arbeitest doch hier auch mit ausländischen Kindern, Iris, wie soll das gehen?“ Sie denkt, dass sie es doch war, die sich dafür eingesetzt hat, dass die muslimischen Kinder im Jugendzentrum kein Schweinefleisch zu essen bekommen. Sie sagt, dass sie das doch trennen kann. Die NPD und ihre Arbeit. Was denn das eine mit dem anderen zu tun habe? Die NPD sei doch nicht verboten, und in einer Demokratie könne man doch denken, was man wolle. Sie redet und redet und versteht nicht, dass man diese Dinge eben nicht trennen kann. Am Ende muss sie gehen.
     
Verstoßen und ausgegrenzt
     
Ihr Chef habe ihr zum Abschied noch gesagt, sie habe gute Arbeit geleistet, sagt sie. Und dass sie in diesem Moment wie vor einer Wand gestanden habe. Sie fühlt sich verstoßen und ausgegrenzt, als Opfer eines Systems, das sie zu einer politisch Verfolgten macht wie einst ihren Großvater. Nur, wer verfolgt sie eigentlich? Die Mitarbeiter des Jugendzentrums wollen heute nicht mal mehr über den Fall reden, man wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben, sagt der ehemalige Leiter am Telefon.
     
Für mich war die Kündigung eine Bestätigung“, sagt Iris Niemeyer, „ein Zeichen, wie umerzogen die Menschen sind.“ Als sie nach der Entlassung mit Gerrit Gerdes zusammensitzt, fassungslos erst, dann hilflos, dann wütend, sagt er: „Wir müssen das politisch nutzbar machen.“ Noch am selben Abend schreiben sie eine E-Mail an die NPD. Und die Partei besorgt ihr einen Anwalt. Vor dem Arbeitsgericht stimmt Iris Niemeyer einem Vergleich zu. Ein Urteil gibt es nicht. Das Jugendzentrum zahlt ihr noch ein Monatsgehalt. Die Rechten werden ihr später vorwerfen, sie habe sich kaufen lassen.
      
Das hier ist ihr Kampf
    
Durch die Ritzen der Wohnzimmertür dringt kaltgewordener Rauch. Gerrit Gerdes sitzt in der Küche zusammen mit Freunden. Sie hat vorher mit ihm besprochen, ob sie überhaupt noch einmal öffentlich ihre Geschichte erzählen soll. Erst als er sagte, mach das, willigte sie in dieses Gespräch ein. Er kommt hin und wieder kurz hinzu, gibt Stichworte, füllt Erinnerungslücken. Das hier ist ihr Kampf. Das Baby schreit, Iris Niemeyer öffnet die oberen Knöpfe ihrer Bluse. Das Baby verstummt, trinkt.
       
Das Rheiner Volksblatt titelt: „NPD-Aktivistin vor die Tür gesetzt“. Iris Niemeyer gründet wenig später mit Gerrit Gerdes einen Ortsverband in Rheine. Die NPD in Rheine hat jetzt ein Gesicht. Die Antifa druckt es auf Plakate und klebt es an die Mauern der Stadt, besprüht es schließlich vor dem Supermarkt mit Pfefferspray. Für Iris Niemeyer ein Grund mehr, sich in ihre Opferrolle hineinzusteigern. „Ich habe nie Ausländer verprügelt“, sagt sie, „aber mit mir macht man das jetzt.
       
Angebot der sächsischen NPD-Fraktion
      
In der NPD hingegen hat Iris Niemeyer endlich die Glaubwürdigkeit, die ihr als ehemaliger Linker bisher gefehlt hat. Sie telefoniert viel mit Peter Naumann, der parlamentarischer Berater der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag ist. Er hat vor dreißig Jahren Fernsehsendemasten in die Luft gesprengt, als die Fernsehserie „Holocaust“ ausgestrahlt werden sollte. Bei 100 000 Menschen war danach der Bildschirm schwarz. Er will Iris Niemeyer als wissenschaftliche Mitarbeiterin nach Sachsen holen. Aber sie will in Rheine bleiben. Sie wird zur Vorsitzenden des Ortsverbandes gewählt.
       
Peter Naumann ist es, der Iris Niemeyer schließlich Sigrid Schüßler vorstellt, eine Schauspielerin, die als „Hexe Ragna“ durch Kindergärten und Grundschulen zog, bis die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft vor ihr warnte: NPD-Mitglied, verheiratet mit einem wegen Waffenbesitz verurteilten Rechtsradikalen. Auch sie fühlt sich verfolgt. Zusammen gründen sie eine Selbsthilfegruppe: Jeanne D., nach der französischen Freiheitskämpferin Jeanne d’Arc. Das „D.“ steht für Deutschland.
      
Organisation für „politisch Verfolgte in der BRD“
      
Iris Niemeyer will, dass Jeanne D. eine Gruppe für „politisch Verfolgte in der BRD“ ist, das gefällt ihr nicht. „Ich bin durchaus offen“, sagt sie, „wenn ein Migrant zu mir kommen würde, der politisch verfolgt wird, würde ich dem auch helfen. Die wenden sich aber nicht an mich.“ Sigrid Schüßler steigt bald wieder aus. Jeanne D. gehört jetzt nur noch Iris Niemeyer.
     
Sie und ihr Freund glauben immer weniger daran, dass die NPD die richtige Partei für sie ist, wenn es doch so viele V-Leute in der Partei gibt, wie es immer heißt, oder wenn Landtagsabgeordnete Parlamente mit Waffen betreten. „So kommt die NPD niemals aus der Schublade“, sagt ihr Freund Gerrit, als er wiedermal ins Zimmer kommt. Er tritt zuerst aus. Ein paar Monate später gibt Iris Niemeyer ihre Austrittserklärung ab. Sie ist jetzt ihre eigene Partei: Jeanne D..
    
Hilfe für inhaftierten Horst Mahler
    
Sie sucht nach anderen Fällen von politischer Verfolgung und findet: Sylvia Stolz, Holocaustleugnerin, 2008 verurteilt wegen Volksverhetzung. Ursula Haverbeck, Holocaustleugnerin, 2009 verurteilt für die Beleidigung der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch. Horst Mahler, Holocaustleugner, mehrfach verurteilt wegen Volksverhetzung zu insgesamt zwölf Jahren Haft. Hier ist sie gelandet, die Enkeltochter eines Antifaschisten, und zuckt mit den Achseln. Mahler sei eben ein Provokateur, sagt Iris Niemeyer und schmunzelt. Vielleicht erinnert der ehemalige RAF-Anwalt sie an sich selbst. Im Internet ruft sie dazu auf, eine Petition für Mahlers Freilassung zu unterschreiben.
    
Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, auf ihrer Website dann auch selbst das Wort "Holo-story" benutzt zu haben, mit dem der Holocaust zu einer bloßen Geschichtenerzählung gemacht wird.
    
War sie nie in einem Konzentrationslager, hat sie nie die Bilder aus Auschwitz gesehen?
    
Bilder von den Bergen von Schuhen und Haaren
   
Sicher, auch sie habe in der Schule die Bilder von den Bergen von Schuhen und Haaren gesehen, die die Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager fanden. „Das war schon emotional“, sagt sie. Sie behaupte ja gar nicht, dass es die Judenermordung nicht gegeben habe. Sie wolle nur Dinge infrage stellen dürfen. „Jeder Mord, jeder Krieg ist unmenschlich, aber da darf man drüber reden, da darf man auch zweifeln, warum dann nicht auch über den Holocaust? Das ist dieser Schuldkult, der uns Deutschen auferlegt ist.
     
Sie hat inzwischen die Argumente der Holocaustleugner übernommen. Relativieren, Pseudowissenschaftler zitieren. Und ist schlau genug, das nicht selbst aufzuschreiben. Sie setzt Links zu den Schriften anderer auf die Website von Jeanne D.
       
Nur einmal zieht sie in Erwägung, ihren Weg zu verlassen, den Eltern zuliebe habe sie bei der Aussteigerorganisation Exit angerufen. Es war ein kurzes Gespräch. Sie müsse als Erstes ihre Gesinnung hinter sich lassen, wurde ihr gesagt „Das wäre für mich Hochverrat“, sagt Iris Niemeyer.
    
Besuch vom Staatsschutz
       
An einem Morgen im Hochsommer stehen sie dann im Flur. Vier Männer vom Staatsschutz. Durchsuchungsbeschluss. Iris Niemeyer rennt von einem Zimmer ins andere, sie ist hochschwanger, endlich, nach zwei Fehlgeburten. Sie schreit die Beamten an: „Was soll das? Leben wir in einem totalitären Regime?“ Gerrit Gerdes beruhigt sie. Es gibt nicht viel zu sehen für die Staatsschützer, keine Hakenkreuze, keine Reichsflagge. Einer zeigt auf Rudi Dutschkes Buch „Mein langer Marsch“, das im Regal steht, fragt, ob er das auch fotografieren soll. Sie nehmen den Laptop und gehen wieder.
   
Ein halbes Jahr ist das jetzt her. Seit vier Jahren ist Iris Niemeyer arbeitslos, auf Bewerbungen erhielt sie nur Absagen. Seit Kurzem verdient sie selbstständig als Familienhelferin ein bisschen Geld. Wenn sie verurteilt würde, könnte man ihr die beiden Diplome aberkennen. Dann geht auch das nicht mehr. „Ich habe ein Berufsverbot“, sagt sie, „wie mein Großvater.“ Dass der dieses Berufsverbot von den Nationalsozialisten bekam, die sie nun verteidigt, scheint keine Rolle zu spielen. Sie sieht sich als Opfer eines Staates, dessen Grundrechte sie dennoch für sich beansprucht. Sie will ihre Meinung sagen können und erkennt nicht, dass Meinungsfreiheit dort endet, wo die Lüge beginnt.
      
Das Baby ist eingeschlafen. Iris Niemeyer sitzt ganz still da. In letzter Zeit habe sie hin und wieder gedacht, ob sie „das alles sein lasse“, denn es ginge ja jetzt nicht mehr nur um sie. Über ihr hängt ein vergilbtes Gemälde mit einer Mariendarstellung. Mutter mit Kind. Sie hat es aufgehängt, weil es ihr so gut gefällt. „Ich habe ja keinem Menschen was getan“, sagt sie. „Ich bin ja sehr“, sie macht eine Pause, sucht nach einem Wort, dann sagt sie: „menschlich.
 
Anne Lena Möskens Artikel ist zuerst erschienen auf www.berliner-zeitung.de

Iris Niemeyer, 37 Jahre alt, in Rheine; Foto: Benjamin Pritzkuleit, c