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Im Oktober des Jahres 2010 wurde ein junger Iraker in Leipzig ermordet. Zwei Neonazis sind die mutmaßlichen Täter. Das Echo bei Medien, Zivilgesellschaft und antirassistischen Linken war hoch. Die Auseinandersetzung kreist um die Frage, ob der Mord rassistisch motiviert war, oder nicht.
Von Chronik.LE
Aus Zeugenaussagen ließ sich der Tathergang bisher so rekonstruieren: In der Nacht zum 24. Oktober 2010 war das spätere Opfer Kamal K. mit seiner Freundin und einem Freund in Diskotheken in der Leipziger Innenstadt unterwegs. Im Laufe des Abends kam es zu einem Streit zwischen Kamal und seiner Freundin, die deswegen den Heimweg antreten wollte. Alle drei begaben sich Richtung Hauptbahnhof, doch kurz vor dem Ziel flammte der Streit des Paares erneut auf. Der Begleiter der beiden setzte sich auf eine Bank im Park vor dem Hauptbahnhof, um abzuwarten, bis sich die Wogen geglättet haben.
"Wir haben ein Problem – Mit dir!“
In diesem Moment tauchten die Tatverdächtigen Marcus E. und Daniel K. auf, setzten sich zum Freund des Opfers und versuchten, ein Gespräch über das streitende Paar zu beginnen. Als Kamal K. dies bemerkte, unterbrach er seinen Disput, ging auf die Männer zu und fragte, ob es Probleme gebe. Die Antwort von Marcus E. und Daniel K. lautete: „Ja, wir haben ein Problem – Mit dir!“ Schnell kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung, schließlich zu Handgreiflichkeiten: Marcus E. und Daniel K. schlugen auf Kamal K. ein. Letzterer besprühte den 19-jährigen mit Pfefferspray, der dadurch die Sicht verlor und sich nicht weiter verteidigen konnte. In der direkten Folge kam es zu der tödlichen Messerattacke, ausgeführt mutmaßlich von Marcus E.
Nachdem Kamals Freund erfolglos versucht hatte, in die Situation einzugreifen, lief er zurück zu einer Diskothek, in der sich Kamals Bruder aufhielt. Die beiden Täter nutzten die Zwischenzeit zur Flucht, wurden jedoch noch in Tatortnähe von der Polizei gestellt. Ein Passant hatte die Situation von der Straßenbahnhaltestelle aus beobachtet und die Polizei gerufen. Unterdessen versuchte Kamal, sich ebenfalls in Richtung besagter Diskothek zu schleppen, brach jedoch nach wenigen Metern zusammen. Trotz Notoperation starb er am nächsten Tag an seinen schweren Verletzungen.
Knastkumpel mit Neonazi-Vergangenheit
Auch wenn sich die Leipziger Staatsanwaltschaft sowie die Polizei von Anfang an mit Vermutungen über den Hintergrund der Tat zurückhielten, wurde schnell klar, dass es sich bei beiden Tätern um einschlägig vorbestrafte Neonazis handelt.
Daniel K. war ein „Mann fürs Grobe“ in der neonazistischen „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL). 2006 stand er wegen Volksverhetzung vor Gericht, ab 2003 hat es in seiner Wohnung regelmäßig größere Nazi-Feiern gegeben. Nachbarn beschwerten sich über laute Musik, in der zum Mord an Juden und Türken aufgerufen wurde. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung wurden Hakenkreuzfahnen und Baseballschläger beschlagnahmt.
Daneben nahm Daniel K. regelmäßig an Naziaufmärschen teil. Fotos zeigen ihn in Marschblöcken vor einem NPD-Plakat mit der Aufschrift „Todesstrafe für Kinderschänder“, ein anderes Mal trug er in vorderster Reihe das KAL-Transparent „Die Wehrmacht kämpfte tapfer und anständig“. Szenekenner beschreiben ihn als „ideologisch außerordentlich gefestigt“. Ein Mitläufer ist er nicht, auch kein Aussteiger, wie sein Verteidiger verlauten ließ. Ein Indiz ist auch der Pullover, den er am 24. Oktober 2010 während der Tat getragen hat. Auf diesem stand der Spruch „Kick off Antifascism“ geschrieben.
Mitte 2007 hatte das Landgericht Aachen Daniel K. zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er an einer Geiselnahme und Körperverletzung in Stolberg beteiligt gewesen war: Er hatte mit seinen Kameraden aus der KAL zwei Frauen gekidnappt und mit Waffen bedroht. In der Haftanstalt Waldheim, wo er seine Strafe absaß, lernte er wohl auch Marcus E. kennen. Während seiner Haftzeit wurde er von der neonazistischen „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG) unterstützt. Funktion dieser Gruppierung ist es, Neonazis auch innerhalb des Gefängnisses an die Szene zu binden.
Marcus E. kommt aus Thüringen und wurde 2002 wegen Vergewaltigung und Körperverletzung verurteilt. Erst im Oktober 2010, also wenige Wochen vor der Tat, war er aus der Haft entlassen worden.
„Fremdenfeindlichkeit" als Motivation oder Hass als Lebensinhalt
Die Haftbefehle, die das Leipziger Amtsgericht am darauffolgenden Tag auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ, lauteten auf gemeinschaftlichen Mord. Die eindeutige nationalsozialistische Orientierung der Täter, sowie die nichtdeutsche Herkunft des Opfers ließen für das Gericht kaum einen Zweifel an der Motivation der Täter aufkommen. Als im Februar die Anklage erhoben wurde war davon keine Rede mehr. Offenbar weil die Zeugen keine rassistischen Sprüche von den Tätern vernommen hatten, wollte die Staatsanwaltschaft nicht mehr von einem ausländerfeindlichen Motiv der Tat ausgehen. Auch die Anklage wegen Mordes wurde nun als unhaltbar bezeichnet. Die Anklage gegen Marcus E. lautet stattdessen auf Totschlag, die gegen Daniel K. nunmehr auf gefährliche Körperverletzung. Er war schon im Dezember aus der Untersuchungshaft entlassen worden – obwohl er zur Tatzeit noch unter Bewährung stand.
Die Argumentation der Staatsanwaltschaft läuft darauf hinaus, dass die stark alkoholisierten Täter und ihr Opfer aufeinandertrafen, unvermittelt und „ohne erkennbaren Grund" in Streit gerieten, in dessen gewalttätiger Eskalation es dann zur Messerattacke kam. Weil die Täter ihr Opfer nicht wahrnehmbar rassistisch adressierten, könne auch keine rassistische bzw. fremdenfeindliche Motivation angenommen werden.
Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Tat und dem nationalsozialistischen Weltbild der Täter besteht, wird dabei auf „Ausländerfeindlichkeit", also die Wahl des Opfers aufgrund seiner nicht-deutschen Herkunft, beschränkt. Gestellt wird die Frage, ob Kamal K. noch leben würde, wenn er eine andere Hautfarbe gehabt hätte. Diese Frage lässt sich in der Tat schwer beantworten, und vielleicht tatsächlich nicht mit der Beweisstärke, die für eine entsprechende Verurteilung nötig wäre. Für den Verlauf der Tat, und damit auch für die Frage nach den Gründen, aus denen Kamal K. sterben musste, ist aber nicht nur die „Ausländerfeindlichkeit" der Täter von Bedeutung.
Die nationalsozialistische Ideologie beschreibt eine Welt, in der Menschen als Exponenten unterschiedlicher „Rassen" einen Existenzkampf, also einen Kampf auf Leben und Tod führen. Während innerhalb der Welt unter deutscher bzw. „arischer" Vorherrschaft, wie sie der NS anstrebt, vielen dieser „Rassen" eine Diener- bzw. Sklavenrolle zugedacht wird, ist in ihr für bestimmte Gruppen von Menschen, vor allem Juden aber auch Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung u.a. keinen Platz vorgesehen. Propagiert wird mehr oder weniger offen deren Vernichtung.
Die Konzentration der Debatte, die von den Medien, dem Leipziger Bündnis „Initiativkreis Antirassismus" und der Leipziger Staatsanwaltschaft geführt wird, auf bloße „Ausländerfeindlichkeit“, verschleiert den Fakt, dass das Bekenntnis zum Nationalsozialismus mehr ist, als der in der Gesellschaft weit verbreitete Rassismus. Das nationalsozialistische Projekt lässt sich auch heute nur mit groß angelegter Inhaftierung, Ausweisung und Tötung von Menschen umsetzen. Darüber machen sich die meisten Neonazis wenig Illusionen, wie die Texte von populären Bands wie „Landser" beweisen. Wer diesem Weltbild anhängt und aktiv an einer Gemeinschaft partizipiert, baut durch Lektüre, bei Nazikonzerten, bei Vorträgen, bei Aufmärschen und bei – in Sachsen (zum Beispiel Mügeln oder Limbach-Oberfrohna) fast täglich stattfindenden – Jagden auf Andersdenkende sukzessive Verletzungs- und Tötungshemmungen ab. Der auf die Brust von Daniel K. tätowierte SS-Wahlspruch „Meine Ehre heißt Treue" ist nicht weniger als eine Absage an jedwede moralischen Verbindlichkeiten, wie das Tötungsverbot. Für die „Rasse" als Schicksalsgemeinschaft kämpft ein Nationalsozialist nicht ehrenvoll, sondern mit allen Mitteln in einem Kampf auf Leben und Tod.
Kamal K. hatte das Pech, auf zwei Nazis zu treffen, also Menschen die gelernt haben, anderen Menschen ihr Menschsein und ihr Recht auf Leben abzusprechen. Verbale Herabwürdigungen wie „du Zecke" oder „Kanacke", die in diesem Fall zur gewünschten Eindeutigkeit geführt hätten, dienen Täterinnen und Tätern in Gewaltsituationen zur eigenen psychischen Vorbereitung auf die physische Entmenschlichung ihrer Gegenüber. Wenn die Mörder von Kamal so eine Einstimmung tatsächlich nicht mehr nötig hatten, ist das kein Hinweis auf die Abwesenheit niederer Beweggründe.
Foto: Leipziger Hauptbahnhof, von Darren Wilkinson via Flickr, cc