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Vom autoritären Staat zur Demokratie


1999 hat Sighard Neckel mit "Waldleben: eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989" ein Buch veröffentlicht, dass den "Untergang eines autoritären Staates und den darauf folgenden Aufbau einer Demokratie" nachzeichnet.


Als Ort seiner Untersuchung wählte Sighard Neckel eine "typische Alltagsstadt der DDR" in Brandenburg. In seinem 1999 erschienen Buch „Waldleben: eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989“ anonymisierte er - aus Gründen der Wissenschaftlichkeit – die Stadt als "Waldleben". Dennoch dürfte den Einigen in Eberswalde die verblüffende Ähnlichkeit zur eigenen Geschichte auffallen. Exemplarisch steht Waldleben für gesellschaftliche Entwicklungen, die sich fast überall in Ostdeutschland nach 1989, abseits der Weltöffentlichkeit, vollzogen. Denn "Waldleben" ist der Ort, in dem im Dezember 1990 ein angolanischer Vertragsarbeiter von einem rassistischen Mob ermordet wurde.

Neckel, 1956 im niedersächsischen Gifhorn geboren, heute Professor für Allgemeine Soziologie in Wien, gehört dem Kollegium des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt an. Seine Studie versteht er als "soziologische Analyse einer kurzen, aber bedeutenden Phase der jüngeren deutschen Zeitgeschichte im ganzen, der im politischen Leben einer ostdeutschen Stadt nachgespürt wird." Auf 275 Seiten entstand dabei ein ausführlicher Bericht, der die politischen Akteure in Waldleben typisiert und deren Deutungsmuster offen legt. Die politischen Ereignisse werden von 1989 bis 1997 chronologisch dargelegt und gesellschaftlich eingeordnet. Das Buch verzichtet auf einen ausführlichen Fußnotenapparat und ist gut leserlich geschrieben – ist aber trotzdem wissenschaftlich fundiert. Neckel interviewte insgesamt 115 Personen aus Politik, Verwaltung, Journalismus, Wirtschaft und Kirche. Des Weiteren besuchte er politische Veranstaltungen und analysierte immer wieder die lokale Berichterstattung.

"Bürgerbewegte" ergreifen die Macht und verlieren sie wieder

Am Ende seiner Studie kommt Neckel zu dem Schluss, dass Ostdeutschland "durch 'Sonderidentitäten', ökonomische Abhängigkeit, Minderheitenbewußtsein, spätsozialistische Lebensstile, Konfessionslosigkeit und eine eigene politische Kultur separiert" ist und bleibt. Die Übernahme der demokratischen Institutionen, sei zwar formal vollzogen, gewachsene Mentalitäten verhindern aber nach wie vor, dass sie mit Leben gefüllt werden. Moralische Werturteile werden überwiegend dort getroffen, wo die öffentliche Ordnung in Gefahr ist. Es fehle an einer ausgeprägten Streitkultur, der Akzeptanz von Interessengegensätzen und einer engagierten Zivilgesellschaft. Dies alles hat negative Folgen für diejenigen, die aus der breiten Masse herausfallen. "Gerade in den Kommunen der DDR wurden [...] traditionelle Mentalitäten konserviert, die im Wert der 'Gemeinschaft' ihren zentralen Bezugspunkt hatten."

Doch von vorn: Neckel beschreibt, wie sich der politische Umbruch in Waldleben vollzog. Am Anfang waren es die alten Eliten, deren Macht in den Wendemonaten an die "Bürgerbewegten" überging. Diese waren in der DDR zumeist politisch isolierte Außenseiterinnen und Außenseiter und unterschieden sich in ihren Wertvorstellungen von der breiten Masse der Bevölkerung. Dennoch bildeten sie die erste Nachwenderegierung. Mit einer gehörigen Portion Idealismus gingen sie ans Werk. Sie mussten sich als erste im neuen, aus der Bundesrepublik übernommenen politischen System behaupten. Auf der Verwaltungsebene wurden die alten Eliten ausgetauscht und zum Teil durch westliche Verwaltungsangestellte ersetzt. Diese brachten Know-how und Verwaltungserfahrung mit.

Demokratische Institutionen werden nicht angenommen

Bald zeigte sich jedoch, dass die enormen Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllt werden konnten. Die politischen Newcomerinnen und Newcomer sahen sich mit den grassierenden Problemen einer flächendeckenden Deindustrialisierung, hoher Arbeitslosigkeit, einem Bevölkerungsrückgang und ungeklärten Eigentumsfragen konfrontiert. "Strategisch betrachtet, hatten die neuen Stadtväter schließlich notgedrungen gelernt, daß sie auf das Milieu der früheren Funktionselite angewiesen blieben, sollte es nur irgend voran gehen in der Gemeinde."

Die alten Eliten hatten zwar in der kommunalen Verwaltung an Boden verloren, waren aber weiterhin in der lokalen Wirtschaft in Führungsverantwortung. Während der Planwirtschaft hatten sie sich gesellschaftlich gut verankert und ein persönliches Netzwerk durch Gefälligkeiten geschaffen. Von hier aus nahmen sie Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung und konnten so politische Macht zurück gewinnen. Die alten Eliten standen den neuen politischen Institutionen skeptisch gegenüber. Normativ hatten sie dieses weder verinnerlicht noch anerkannt. In ihrem Machtkampf mit der Nachwenderegierung scheuten sie nicht davor zurück, auch die aus dem "Westen" importierten demokratischen Institutionen zu diskreditieren. Der "Westen" wurde zum Sinnbild für alles, was zu dieser Zeit schief lief. Dieser Glaube wurde "durch ein Bewahren all jener traditionellen politischen Grundmuster bekräftigt, die sich von den vermuteten Einstellungen im Westen möglichst deutlich und weitgehend unterschieden." Dieses Defizit bildet die Grundlage auf dem sich der aufkommende Rechtsextremismus, der sich in Waldleben keineswegs in der Ermordung Amadeu Antonio Kiowas erschöpft, vollzog.

Neonazismus in der DDR

Feste rassistische und antisemitische Einstellungen gab es bereits vor der Wende. Neckel verweist auf das Jahr 1984, in dem Anwohnerinnen und Anwohner versuchten, das Wohnheim afrikanischer Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter zu stürmen. Auch die Schändung des alten jüdischen Friedhofs und einer Gedenkstätte für die Toten der Roten Armee führt er als Beispiele auf. Diese Ideologien hatten damals jedoch keinen öffentlichen Raum. Nach der Wende konnte sich dieses Milieu zunächst frei entfalten: "In den ersten Sommern, die dem Herbst '89 folgten, zogen rechte Jugendliche wie Banden von Landsknechten durch die Stadt. Ein Zeltplatz wurde überfallen, ein Gasthof geplündert; Passanten, auch deutsche, wurden willkürlich auf der Straße zusammengetreten, Reisende aus Polen über den Bahnhof gejagt. Imbißbuden gingen in Flammen auf, und mehrmals wurde das Wohnheim der noch verbliebenen Vertragsarbeiter attackiert, später auch das Haus, in dem Aslybewerber untergebracht waren." Und dann folgte im Dezember die tödlich endende Hetzjagd auf Amadeu Antonio.

In einem eigenen Kapitel zeigt Neckel am Beispiel des lokalen Jugendclubs, wie die menschenfeindlichen Einstellungen gedeihen konnten. Zunächst tauchten gelegentlich Neonazis im örtlichen Jugendclub auf. Nachdem sie einmal Fuß gefasst hatten, erweiterten sie ihren Einflusskreis. Sie kontrollieren bald den Zutritt, bestimmten das Programm, spielten ihre Musik und begannen den Jugendclub nach ihren Vorstellungen umzudekorieren. Das Straftaten von hier geplant wurden und offensichtliche Symbole verwendet wurden, stieß nicht auf die Argwohn der Sozialarbeiterinnen vor Ort. Diese fühlten sich überfordert, klare antifaschistische Bekenntnisse unterblieben, Hilferufe an die öffentliche Verwaltung verhallten ungehört. Und auch in breiten Teilen der Bevölkerung fanden die Jugendlichen Rückhalt. Zwar wurden deren politischen Ansichten oft nicht geteilt und auch deren Gewalt stieß auf Ablehnung. Jedoch verband sie eine Reihe von Lebensprobleme miteinander. Ein gemeinsamer Vorrat von Wissen und Zeichen führt zu einem Einklang in der Wahrnehmung politischer Vorgänge. Ein falsch verstandenes Verständnis für die Jugendlichen ging mit der Tolerierung ihrer menschenverachtenden Ideologie einher.

Der Club erlangte als Treffpunkt der Szene überregionale Bekanntheit und wurde zu deren "logistischen Stützpunkt". "Seine Besetzung durch Rechtsradikale wurde stillschweigend akzeptiert. Solange Gewalt das Ordnungsbedürfnis nicht störte, fühlten sich die Verantwortlichen in ihren moralischen Maßstäben nicht betroffen." Mit der Zeit setzte ein Gewöhnungseffekt ein und bald war der Club fester Bestandteil der ortsüblichen Jugendkultur. Während die Erwachsenen wegsahen, sorgten die Jugendlichen für "Ruhe und Ordnung" im Viertel. Bald war das Viertel eine "ausländerfreie Zone".

Was bleibt?

Neckels Studie liefert überraschende Erkenntnisse. Gerade dadurch, dass der Fokus auf der politischen Kultur der Stadt liegt und nicht ausschließlich auf der Neonazi-Szene, hilft es die Zusammenhänge besser zu begreifen. Neckel räumt mit der Vorstellung auf, dass der Nachwende-Rechtsextremismus ein BRD-Export gewesen sei. Eigene Wurzeln lagen auch in der DDR. In der Bevölkerung weit verbreitete Vorstellungen verstärkten deren Wirkungsmacht. Zudem wird deutlich, dass Rechtsextremismus eben kein Jugendproblem ist und eng mit der nicht vorhandenen Akzeptanz für demokratische Werte zusammen hängt.

Seit Erscheinen des Buches sind über zehn Jahre vergangen. In dieser Zeit hat sich in Eberswalde einiges bewegt. Im Kampf gegen den Neonazis und die Ideologie ist man zwar noch nicht am Ziel. Vielen Bürgerinnen und Bürgern Eberswaldes ignorieren nach wie vor das Problem. Symbolisch steht dafür der "Army-Shop" am östlichen Ortsausgang von Eberswalde, seit fünf Jahren ist er ungestörter Teil der Neonazi-Infrastruktur in Brandenburg. Aber eine junge Zivilgesellschaft ist am entstehen. Initiativen, wie das Jugendbündnis Für Ein Tolerantes Eberswalde (F.E.T.E.) und engagierte Einzelpersonen thematisieren zunehmend die neonazistischen Strukturen. Die Stadt leistet sich einen eigenen Koordinator für Demokratie und Toleranz. Nicht zuletzt mit Mitteln aus den Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus, der mit einem Aktionsplan im Landkreis vertreten ist, hat es eine Professionalisierung in diesem Bereich gegeben, von dem auch die politische Kultur im Ganzen profitiert. Und so sind präventive Maßnahmen gegen Rechtsextremismus, wie zum Beispiel das Projekt der Bürgerstiftung Barnim Uckermark zur Stärkung der Kinderrechte, auch ein Beitrag zur Akzeptanz der Demokratie.

Von Christian Spiegelberg

 

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