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Lehrreiches Kompendium

Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU in Berlin, erfüllte sich mit dem 'Handbuch des Antisemitismus' einen lange gehegten Wunsch: das vorhandene Wissen über Judenfeindlichkeit ohne zeitliche und räumliche Begrenzung zu bündeln, um dieses älteste religiöse, kulturelle, soziale und politische Vorurteil in allen Erscheinungsformen zu ergründen. Dazu sind fünf Bände geplant. Ein lehrreiches Kompendium über Vorurteils- und Sündenbockforschung, das dazu beitragen kann, Rezepte gegen Antisemitismus zu entwickeln.

Von Christopher Egenberger

Der seit kurzem vorliegende erste Band bildet den Auftakt mit einer Betrachtung des Antisemitismus in den unterschiedlichen Teilen der Welt und bezieht dabei auch die Entwicklung jüdischen Lebens in den entsprechenden Ländern sowie seines Wechselverhältnisses mit der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft mit ein. Obwohl der Blick in das Inhaltsverzeichnis zahlreiche in Bezug auf das Thema Antisemitismus exotisch erscheinende Länder wie Barbados oder Äthiopien bereithält, liegt der Schwerpunk des Buches doch eindeutig und aus verständlichen Gründen auf dem modernen Europa. Dennoch wurde die Entwicklung beispielsweise in Indien oder Neuseeland keineswegs nur am Rande behandelt und auch solche Länder oder Regionen in die Betrachtung einbezogen, die keine staatlichen Gebilde (mehr) darstellen, wie Bessarabien oder das Osmanische Reich. Dies erklärt, warum „Länder und Regionen“ trotz des nicht gerade geringen Umfangs von 443 Seiten - einschließlich Glossar und Register – für jeden der 85 Einzelbeiträge nur wenige Seiten bereithält.

Manches kommt zu kurz

Die Artikel zu Deutschland, Frankreich oder Russland bieten dem mit dem Thema bereits vertrauten Leser daher auch kaum etwas wirklich Neues, aber eine knappe und kompetente Zusammenfassung auf dem derzeitigen Stand der Forschung. Dagegen lässt sich in den Beiträge zu den weniger im Fokus der Auseinandersetzung mit Antisemitismus stehenden Ländern wie Japan oder Südafrika viel Unbekanntes und teilweise auch Überraschendes finden. Sollte dann das Interesse geweckt worden sein, erhält man am Ende jedes Beitrages ein halbes Dutzend weiterführende Literaturhinweise womit insgesamt ein schneller Einstieg in die Materie ermöglicht wird.

Aber nicht jedem Autor gelingt es gleich gut, mit dem Problem des begrenzten Platzes umzugehen. Dass es dabei notwendig ist, Schwerpunkte zu setzen, ist nachvollziehbar, dass aber der sechsseitige Beitrag zu Österreich lediglich zwei Absätze zu der Zeit nach den Anschluss 1938 enthält dagegen kaum verständlich. Abgesehen von der NS-Zeit wäre es doch angemessen, den Umgang mit den „Displaced People“ nach dem Krieg, die Kontroverse um Kurt Waldheim oder den Aufstieg des Rechtspopulisten Jörg Haider etwas detaillierter als in einer bloßen Aufzählung zu behandeln.

Ein weiteres Beispiel bietet der Artikel zu Ägypten. Nachdem zu Beginn erklärt wird, dass bis in die 30er Jahre ein hohes Maß an Toleranz gegenüber den Juden in dem nordafrikanischen Land herrschte, erwähnt die Autorin den Wandel durch das Erstarken nationalistischer und islamistischer Bewegungen. Während des Krieges sei dann die Schuld an einer Lebensmittelknappheit auf die für die britischen Behörden arbeitenden Juden geschoben worden. Aber der Hintergrund solcher Beschuldigungen bleibt unklar. Hier bleiben doch einige wichtige Fragen offen, da derartige Anschuldigungen kaum aus dem Nichts heraus entstanden sind. Ohne eine Erklärung, auf welche latenten Vorurteile zurückgriffen werden konnte, wird das Buch seinem eigenen Anspruch an dieser Stelle nicht gerecht, „ohne zeitliche und räumliche Begrenzung […] dieses älteste religiöse, kulturelle, soziale und politische Vorurteil in allen Erscheinungsformen darzustellen und zu erläutern“.


Hier haben wir es sicherlich mit einem üblichen Problem von Handbüchern zu tun. Manchmal ist Konzentriertes einfach zu knapp. Aber es kann nicht jeder Artikel, der ein muslimisches Land behandelt, ausführlich das Verhältnis von Judentum und Islam abhandeln. Letztendlich hängt es vom jeweiligen Autor ab, in welchen Maße in die Materie einführt und Basiswissen vermittelt wird. Während einige Autoren nun mit knappen Worten auf die Stellung als „Schutzbefohlene“ im islamischen Herrschaftsgebiet hinweisen, fehlt dies in anderen Beiträgen vollständig. An keiner Stelle wird aber wirklich in die Tiefe gegangen und so wiederholen sich lediglich oberflächliche Hinweise, die es kaum vermögen, die äußerst komplexen Zusammenhänge ausreichend und verständlich darzustellen. Zudem ist es so auch oftmals dem Zufall geschuldet, ob man auf eine Erklärung oder Einführung stößt, wenn ich den Band seiner Bestimmung entsprechend als Handbuch benutze, also einzelne Einträge nachschlägt. Die Unterscheidung von religiös geprägter Judenfeindschaft und modernen Antisemitismus versteckt sich z.B. im Beitrag zu Österreich.

Falsche Reihenfolge?

Vielleicht wäre es besser gewesen, das als dritten Band geplante „Begriffe, Ereignisse und Theorien“ vorzuschicken, um das Grundwissen für „Länder und Regionen“ oder „Personen“ (Band 2) zu vermitteln. Oder man hätte dem Buchtitel konsequent folgend, Beiträge zu verschiedenen Großräumen erarbeiten können, welche überregionale Entwicklungen und grenzüberschreitende Besonderheiten behandeln, und so auch in die benannten Problematiken einführen könnten. In den einzelnen Länderbeiträgen ist dazu verständlicherweise kaum ausreichend Raum. Wie bedauerlich dies ist, wird in dem Beitrag zur Schweiz deutlich. Der Autor erklärt darin, dass die Anerkennung der Prinzipien Freiheit, Demokratie und Recht keineswegs eine Verminderung von Diskriminierung für die Juden bedeuten müsse, da diese nicht individuell, sondern in erster Linie kollektiv verstanden werden und so letztendlich gar ein erhöhten Ausgrenzungspotenzial Minderheiten gegenüber in sich trage.

Derartige Erklärungen sind nicht unbedingt einfach nachzuvollziehen und hätten nach meinem Dafürhalten einer grundlegenderen Darstellung bedurft. Letztendlich wird hier aber auch deutlich, dass sich das Handbuch nicht an Laien, sondern an Forschung, Schulen, Medien und Politik wendet, denen ein Hilfsmittel für die soziale, administrative und juristische Praxis an die Hand gegeben werden soll. In viele Buchhandlungen wird das Handbuch aber auch schon deshalb nicht gelangen, da es mit stattlichen hundert Euro zu Buche schlägt und somit für viele Interessierte kaum erschwinglich bleibt.


Knapp, kompetent und systematisch

Dies ist bedauerlich, da es trotz seiner Schwächen ein praktisches Hilfsmittel ist, welches den aktuellen Stand der Antisemitismusforschung knapp und kompetent und erstmals in diesen Umfang systematisch aufbereitet hat. Seinem Zweck als Nachschlagewerk kann das Handbuch im Großen und Ganzen gerecht werden, auch wenn eine etwas sensiblere und differenziertere abschließende Beurteilung der momentanen Intensität von Judenfeindschaft in den einzelnen Ländern und Regionen wünschenswert gewesen wäre. Eine oftmals zu vage Einschätzung, die grob antisemitische Tendenzen einräumt, diese aber nicht zu einem Massenphänomen erklärt, bietet dabei nur wenig Erkenntnisgewinn.

Was einem durch dieses Handbuch aber deutlich vor Augen geführt wird, ist das globale Ausmaß des Phänomens Antisemitismus, dass sich eben auch auf Regionen erstreckt, in der kaum je ein Jude gelebt hat (Antisemitismus ohne Juden). Es wird deutlich, wie ähnlich sich dieses Phänomen entwickelt hat und wie verschieden dies Entwicklung doch gleichzeitig verlaufen konnte, aufgrund von Modernisierungsrückständen oder weil andere Feindbilder zeitweise einen stärkeren Einfluss ausübten, wie etwa die Griechen in Bulgarien.

Zudem erhält man auch einen Eindruck davon, welchen starken Einfluss die NS-Zeit auch in weit entfernten Regionen ausübte. Sei es durch eine erhöhte Einwanderung von Juden, die vor dem Holocaust flüchteten oder durch das Einsickern nationalsozialistischer Ideologie über deutsche Emigranten oder Diplomaten. Wo sympathisierten auswärtige Despoten mit dem Dritten Reich und welchen Einfluss hatte die deutsche Besatzung? Denn diese brachte nicht nur den Völkermord in die besetzten Gebiete, sondern wirkte auch durch Propaganda und die erzwungene Isolierung der Juden dahingehend, dass die Vorstellung der Andersartigkeit der Juden zunehmen konnte. In den Niederlanden war das Maß antijüdischer Ressentiments so nach dem Krieg höher als vor der deutschen Besatzung. Letztendlich wirken sich in zahlreichen Ländern auch die Verdrängung der eigenen Beteiligung am Holocaust oder eine „recht unproduktive Opferkonkurrenz“ (Seite 112) nachteilig auf das Verhältnis zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den Juden aus.

Auswege?

Lösungsvorschläge, wie Antisemitismus entgegengetreten werden kann, gibt dieser erste Band des 5-teiligen Handbuchs Handbuch nicht, als Hilfsmittel für diejenigen, die sich in Forschung, Lehre und Politik mit dieser Problematik beschäftigen, wird es aber dennoch einem wertvollen Beitrag in diese Richtung leisten können. Die Autoren sind international renommierte Historiker, Politologen, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Literaturwissenschaftler. Die nachfolgenden Bände sollen nach Hoffnung der Herausgeber im Abstand jeweils eines Jahres folgen. Geplant sind „Personen“ (Band 2)‚ „Begriffe, Ereignisse und Theorien“ (Band 3)‚ „Organisationen und Periodika“ (Band 4) und „Film, Theater, Literatur und Kunst“ (Band 5). 

 

Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 1, Länder und Regionen, München 2008. ISBN 978-3-598-24071-3.

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