Jugendszenen sind Erwachsenen oft fremd. Noch fremder müssen dann die Jugendszenen junger Muslime in Deutschland erscheinen. Dieser Eindruck soll sich für Schüler mit Hilfe einer neuen Broschüre von "Schule ohne Rassismus" ändern: „Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus“ gewährt Einblick in diese fremden Welten.
Von
Sarah Köneke
Das Themenheft über "Lifestyle, Medien, Musik“ islamisch geprägter Jugendkulturen,beschäftigt sich vor allem mit muslimischen Jugendszenen in Deutschland. Die Autoren, Jochen Müller, Götz Nordbruch und Berke Tataroglu, konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf explizit religiöse, konservative und islamistische Jugendkulturen und lassen die Mehrheit der säkularen Muslime außen vor. Sie betonen in ihrem Vorwort, dass auch in diesen religiöseren Szenen vieles unproblematisch ist. Dennoch müsse man entschieden dagegen vorgehen, wenn Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Frau und Mann oder die sexuelle Selbstbestimmung verletzt, Andersgläubige diskriminiert werden oder Antisemitismus propagiert wird.
Einige dieser muslimischen Jugendkulturen, die sich bewusst und deutlich dem Islam zuwenden, werden in der Broschüre näher vorgestellt. Die Jugendlichen, die diesen Kulturen angehören, räumen dem Islam einen sehr hohen Stellenwert in ihrem Leben ein. Dies ist völlig unproblematisch, solange demokratische Grundsätze gewahrt werden. Zwischen den verschiedenen Jugendkulturen gibt es erhebliche Unterschiede und Abstufungen. Die Autoren stellen drei dieser Gruppen vor. Das sind zum einen die „Pop-Muslime“, die als tiefreligiös und gleichzeitig doch trendbewusst charakterisiert werden. Eine weitere Gruppe sind die „Salafis“. Sie sind schon deutlich konservativer als die „Pop-Muslime“ und orientieren sich an einer sehr engen Auslegung des Korans. Für viele verwunderlich ist, dass die meisten Konvertiten und Neueinsteiger gerade von dieser Jugendkultur beeindruckt sind. Allerdings muss auch gesagt werden, dass die meisten sich weiterentwickeln und erkennen, dass diese strengen und konservativen Auslegungen nicht zu ihnen passen. Sie bleiben dem Islam treu, doch wechseln sie nach einiger Zeit oft in gemäßigtere Bewegungen. Die dritte Gruppe nennen die Autoren „Dschihadis“. Es ist wichtig zu betonen, dass sie nur eine Minderheit unter den jungen Muslimen darstellen. Dennoch muss auch gesagt werden, dass diese Gruppe tatsächlich gefährlich sein kann. Die „Dschihadis“ befürworten Gewalt im Namen des Islam und zur Durchsetzung islamistischer Ziele. Man darf aber keineswegs allen gläubigen Muslimen unterstellen, gewaltbereit zu sein.
Vielseitigkeit des islamischen Lebens in Deutschland
Glaube und Mode kommen immer öfter zusammen. Dies fängt schon bei modernen Modelabels an, die sich auf junge Muslime spezialisiert haben und Kleidung mit bekennenden Sprüchen zum Islam verkaufen. Es werden aber auch andere Symbole verwendet, die teilweise schon sehr viel älter sind. Das „Palituch“ ist bei vielen Jugendlichen, auch nicht-muslimischen Glaubens, als Modeaccessoire sehr beliebt. Doch im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen kennen muslimische Jugendliche die politische Bedeutung des weiß-schwarzen Tuchs sehr gut: Es steht für die Unabhängigkeit Palästinas und macht somit eben auch oft eine Opposition gegen Israel deutlich.
Es gibt jedoch kaum ein anderes islamisches Merkmal, das so viele kontroverse Debatten ausgelöst hat wie das Kopftuch. Es dient zum Einen konservativen Muslimen als Symbol für den Islam, das unter allen Umständen behalten werden muss. Gleichzeitig wird es aber auch von vielen Frauenrechtlern, Islam- und Religionskritikern als Symbol der Unterdrückung der Frau gesehen. Bei den Frauen, den eigentlich Betroffenen, sind die Motive für das Tragen des Kopftuchs völlig unterschiedlich. Vor allem die älteren tragen es aus Tradition, weil es sich so gehört und sie es gar nicht anders kennen. Jüngere Frauen benutzen das Tuch auch gerne als modisches Accessoire. Allerdings gibt es auch viele Frauen und Mädchen, die es tatsächlich nur wegen des Drucks der Familie und der Nachbarschaft tragen. Ebenso viele Mädchen entscheiden sich aber auch ganz bewusst für ein Kopftuch und tun dies oft sogar gegen den Willen der Eltern. Viele der Mädchen und Frauen mit Kopftuch fühlen sich nicht durch den Islam und die Familie unterdrückt, sondern durch Deutsche, die das Kopftuch nicht verstehen und nicht akzeptieren und ihnen deshalb oft Schwierigkeiten bereiten.
Neben diesen äußerlichen Merkmalen beschäftigt sich die Broschüre auch mit weiteren, besonders für Jugendszenen relevanten, Merkmalen junger Muslime in Deutschland. Sehr wichtig für die Identifikation einer Jugendszene ist heutzutage auch die dazugehörige Musikszene. In der Broschüre werden deshalb verschiedene Interpreten dieser Szene vorgestellt, die alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Islam in ihren Liedern und Texten umgehen.
Junge Muslime nutzen natürlich wie alle anderen Jugendlichen auch moderne Medien. Und dabei spielt das Internet eine sehr wichtige Rolle. Besonders belieb, wie bei allen Jugendlichen, ist das 2.0 Web, zu dem soziale Netzwerke wie SchülerVZ, StudiVZ, Lokalisten oder MySpace gehören. Im Gegensatz zu anderen jungen Leuten geht es in den Beiträgen muslimischer Jugendlicher aber oft um Fragen der Herkunft und der Identität. Deswegen wurden spezielle Angebote für junge Muslime geschaffen, wie zum Beispiel „vaybee!“. In dieser türkisch-deutschen Community wird angefangen von politischen Themen wie den Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei bis hin zu Ausgehtipps oder Tipps zu sexuellen Praktiken über sämtliche Themen diskutiert, die Jugendliche interessieren. Der Vorteil gegenüber anderen Communities ist, dass die meisten Mitglieder einen ähnlichen Hintergrund haben und nicht immer wieder ihre Herkunft und Identität erklären müssen. Inhaltlich strenger geht es bei waymo.de zu. Dieses Forum richtet sich an junge deutsche religiöse Muslime und stellt eine Art Mischung aus StudiVZ und YouTube dar. Doch auch über die 2.0 Web Gemeinschaften hinaus spielt das Internet eine wichtige Rolle. Viele junge Muslime informieren sich beispielsweise gezielt über Foren im Internet, etwa wenn sie Fragen zu ihrer Religion haben. Neben dem Internet gibt es in Deutschland eine Reihe türkischsprachiger Zeitungen, die bei den Jugendlichen allerdings weit weniger Einfluss haben als das Internet. Ein weiteres wichtiges Medium der Information ist neben dem Internet das Fernsehen.
Zum Abschluss der Broschüre stellen die Autoren islamische und islamistische Organisationen vor. In Deutschland gibt es dutzende solcher Organisationen, die Autoren beschränken sich auf eine kleine beispielhafte Auswahl wichtiger Organisationen, die auch unter Jugendlichen in Deutschland um Mitglieder werben. Neben verschiedenen Vereinen wie zum Beispiel der Muslimischen Jugend in Deutschland (MJD), oder Parteien wie der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und den Grauen Wölfe werden auch die muslimischen Dachorganisationen in Deutschland vorgestellt.
Islam oder Islamismus
Der Unterschied zwischen Islam und Islamismus ist in der Broschüre ständig Thema. Die Autoren erklären, dass es nicht immer einfach ist, eine deutliche Trennlinie zwischen Islam und Islamismus zu ziehen. Sie betonen, dass solange religiöse Überzeugungen keine antidemokratischen Formen annehmen, sie ganz allein persönliche Entscheidungen sind und niemanden etwas angehen außer der betreffenden Person selbst. Dieser Grundsatz der Religionsfreiheit muss immer wieder betont werden, vor allem dann, wenn es sich um religiöse Vorstellungen und Überzeugungen handelt, die die Mehrheitsgesellschaft nicht verstehen will oder kann.
Genau wie auch in anderen Religionen beschränkt sich das Religionsbekenntnis im Islam aber nicht nur auf die einzelne Person, sondern auf eine Glaubensgemeinschaft. Ziel eines Gläubigen sollte es demnach also auch sein, auf eine solche religiöse Gesellschaft hinzuarbeiten und das bedeutet gleichzeitig, Nicht-Gläubige vom Islam zu überzeugen. Entsprechend großer Wert wird in der Jugendarbeit auf die „Dawa“, die „Einladung zum Islam“ gelegt. Dieses Werben ist an sich natürlich kein Problem und völlig legitim. Problematisch wird es erst dann, wenn Andersdenkende als unmoralisch und ungläubig abgestempelt werden.
Die islamistische Denkweise vertritt im Gegensatz zur islamischen den Anspruch auf Alleingültigkeit. Gleichzeitig gehen Islamisten auch innerhalb des Islams davon aus, die alleinrichtige Auffassung zu vertreten. Die Überzeugungen und Lebensweisen anderer werden abgewertet, denn der Islam wird als einziger Maßstab in sämtlichen Beziehungen, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich, eingesetzt. Von diesen Diskriminierungen sind meist zunächst einmal andere Muslime betroffen, die nicht nach der islamistischen Ideologie leben. Die Autoren verwenden zur Definition von „Islamismus“ eine Variante des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen: „Der Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich einer religiösen Sprache bedient und dabei gleichzeitig den Anspruch erhebt, die einzig wahre Auslegung des Glaubens darzustellen. Der Islamismus ist ein Gegenentwurf zu westlichen Ordnungs- und Demokratievorstellungen.“
Einblick in die Welt junger Muslime
Die Broschüre gibt einen guten Einblick in die Welt jugendlicher Muslime in Deutschland. Es ist allerdings nur ein Ausschnitt, der gezeigt wird. Die Autoren weisen in ihrem Vorwort auch darauf hin, dass in dieser Broschüre bewusst säkularisierte Muslime vernachlässigt wurden. Dies muss bei der Arbeit mit der Broschüre immer wieder bedacht werden, da es sonst zu Missverständnissen kommen und die Broschüre den Anschein erwecken könnte, dass alle Jugendlichen mit Migrationshintergrund tief religiös seien. Etwas oberflächlich und deshalb problematisch erscheint auch die Einteilung der jungen Muslime in drei Gruppen, die von den Autoren vorgenommen wird. Von diesen beiden Punkten abgesehen, ist die Broschüre tatsächlich sehr hilfreich, da sie einen recht guten Überblick über junge Muslime in Deutschland liefert. Gleichzeitig wird immer wieder, sehr gelungen und dennoch einfach nachzuvollziehen, der Unterschied zwischen Islam und Islamismus thematisiert. Diese Broschüre eignet sich demnach vor allem für den Einstieg in diesen sehr komplexen Themenbereich.
Das Heft kann bestellt werden unter: www.schule-ohne-rassismus.orgwww.mut-gegen-rechte-gewalt.de / sk