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Über die Jugend und andere Krankheiten

Seit 10 Jahren gibt es das Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg. Aus diesem Anlass ist von ihrem Initiator, Klaus Farin, ein neues Buch erschienen: Vergleichsweise unkonventionelle Reden und Denkanstöße „Über die Jugend und andere Krankheiten“ aus den Jahren 1994 bis 2008.

Von Leon Freude


Klaus Farin ist Gründer, Autor und Lektor des Berliner Archivs der Jugendkulturen, das sich zur Aufgabe gemacht hat Zeugnisse über Jugendkulturen zu sammeln, auszuwerten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Auch die rechte Jugendszene wird vom Archiv sehr intensiv beobachtet, das seit nunmehr 10 Jahren besteht.

Wer sich auf die Realität einlasse, müsse die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben, warnt Farin schon auf der ersten Seite seine Leserinnen und Leser. Er kann diese Vorraussagung ohne weiteres halten, die Beiträge strotzen vor Kritik an der mit Scheuklappen versehenen Mehrheitsgesellschaft, die die gesäte Gewalt nicht ernten will. Gewalt ist bei Farin ein spannendes Thema, legitimiert er doch die Gewalt auf den Chaostagen der Punks in Hannover, als Offenlegung der Ungerechtigkeit und Verlogenheit, die tagtäglich gelebt wird.
Verlogen! Verlogen sind auch die Antifaschistinnen und Antifaschisten, die nicht bereit sind sich denjenigen zu öffnen, die nicht schon immer „auf der Seite des Guten waren“. Man lernt, schon 1994 kursierten „Fahndungslisten“ einiger Rechter – alles PR, alles Panikmache entwarnt der Autor, der fast schon enttäuscht feststellt, nicht auf einer dieser dilettantisch erstellten Listen zu finden zu sein.
Sicherlich appellativen Charakter hat auch seine Rede auf dem ersten sächsischen Streetworker-Treffen: „D i e Jugend gibt es nicht“, sagt er dort, um klar zu machen, dass Jugend ungeheuer vielschichtig und nicht verallgemeinerbar ist. Noch etwas gibt der Praktikern auf den Weg: „Also auch in ureigenem Interesse beinhaltet eine engagierte Jugendarbeit mit ausgegrenzten Jugendlichen stets auch politische Arbeit.“ Kinder und Jugendliche bleiben eine starke Lobby – Jugendsozialarbeiter sind ihnen diese im besonderen Maße schuldig.
In einem anderen Kapitel fragt sich Farin, ob Jugendkulturen eigentlich Jungenkulturen seien. Ja, schon, aber immer weniger – interessant ist hier vor allem die Vorstellung der verschiedenen Jugendkulturen: Gothics, Hooligans und Neonazis werden exemplarisch unter die Genderlupe genommen. Viele junge Frauen lassen sich vor allem in der Gothic-Szene finden – rein männlich ist die Szene, der der Gewalt frönenden Hooligans. Einerseits hätten Jugendkulturen, unabhängig von ihrer Genderperspektive, für die Gesellschaft einen sehr bedeutenden, belebenden Wert (große Kreativität, Jugendliche agieren selbst, Identitätsfindung), andererseits würden sie von der Erwachsenen bestenfalls ignoriert.
Doch Farin übt nicht nur begründete Erwachsenenschelte, sondern kritisiert auch die etablierten deutschen Jugendforscher massiv. Die Forschung sei nicht wirklich an Jugend orientiert, zu partiell, zu kleinkariert.

Jugendverdrossen, das sind nicht nur die Wissenschaftler, die Forscher, nein Jugendverdrossen ist wohl auch die Politik. Zumindest liest sich das im Buch so – zwar gäbe es, z.B. durch die Shell-Studie belegt, viele an politischem Engagement interessierte junge Menschen, doch seien die Strukturen zu verkorkst. Es lasse sich sogar erkennen, dass ehemals Engagierte eigenes politisches Engagement am vehementesten ablehnten – die Vermutung ist: Enttäuschung. Politik müsse, wenn sie für Jugend attraktiv sein will, schnellstens abschreckende Hierarchien abbauen und altbackene Strukturen aufbrechen.

Alles in Allem bietet Klaus Farins Buch sehr informative Einblicke in die verschiedenen Jugendkulturen, viel, durchaus auch unterhaltsame, Kritik gegenüber dem Establishment in Wissenschaft, Politik in Gesellschaft. Absolut lesenswert für Lehrer wie Schüler, alte und junge Menschen, Weltverbesserer und Gesellschaftskritiker…


ÜBER DIE JUGEND UND ANDERE KRANKHEITEN
(Essays und Reden 1994 - 2008)
Klaus Farin
Archiv der Jugendkulturen e.V.
ISBN: 978-3-94021-3426


Mehr unter: www.jugendkulturen.de


www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Foto: Kulick

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