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Als der Attentäter von Hanau am 19. Februar erst zehn Menschen und anschließend sich selbst erschoss, wurde furchtbare Realität, wovor Expert*innen und Zivilgesellschaft lange warnten: Seit Jahren geht die Tendenz zum einzelnen Täter, der sich selbstständig über Online-Videos und Manifeste anderer radikalisiert. Und der selbst entscheidet, wann und wie er seine Tötungsabsicht in die Tat umsetzt.
Von Robert Lüdecke
Auch der Attentäter von Hanau wollte diese Reihe der gegenseitigen „Anfeuerung“ fortsetzen: Auf einer eigenen Internetseite veröffentlichte er verschwörungsideologische Videos und ein 24-seitiges Manifest – voll von Rassismus, islamfeindlicher Hetze, radikalen Vernichtungsfantasien. Gerahmt von wahnhaften Beschreibungen seines Lebensverlaufs, in dem er von Geheimdiensten seit Kindesbeinen an überwacht und unter Druck gesetzt worden sei. Wirre und paranoide Schilderungen, die schon unmittelbar nach der Tat von all jenen relativierend und verharmlosend ins Feld geführt wurden, deren alltägliche Hetze in Sozialen Netzwerken und Parlamenten ebensolchen Taten den Weg bereiten. Der Tenor: Bei dem Mann handele es sich um einen geistig verwirrten Einzeltäter, der sich außerdem allein im Internet radikalisiert hat. Mit Rechtsextremismus hätte das alles nichts zu tun.
Doch psychische Erkrankungen und menschenverachtende Ideologien schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Im Verschwörungsdenken treffen Wahn und Paranoia auf fruchtbaren Boden. „Die Angst, von einer angeblich furchtbaren Macht bis ins kleinste Detail des Lebens kontrolliert zu werden, geht mit dem Omnipotenzgefühl einher, sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaut zu haben, immer zu wissen, wer dahinter steckt und deshalb klüger als alle anderen zu sein“, erklärt Tom David Uhlig, Psychologe und Mitarbeiter in der Bildungsstätte Anne Frank.
In einer komplexen Welt liefern Verschwörungserzählungen einfache Antworten und verlässliche Gewissheiten: Der Lauf der Welt wird verständlich, es gibt für alle Probleme eine Lösung. Denn nun, da man sich nicht mehr täuschen und kontrollieren lässt, könne man endlich selbstbestimmt handeln und die „natürliche Ordnung“ wieder herstellen. Was für Außenstehende wirr klingt, ist für Verschwörungsideolog*innen eine klare und sinnhafte Erzählung. Solche Vorstellungen als Symptom einer psychischen Krankheit abzutun, ist eine gefährliche Verharmlosung. Denn neben einfachen Weltbildern schaffen Verschwörungserzählungen auch klare Rollen. Wo das „große Ganze“ – wie beispielsweise das „Volk“ – angegriffen wird, müssten die „Bösen“ und ihre Machenschaften aufgehalten werden. Durch die „Guten“, die Aufgeweckten – und mit allen Mitteln. Der Attentäter, der im Oktober 2019 in Halle eine Synagoge stürmen wollte, war überzeugt von der „Jüdischen Weltverschwörung“. Auch der Attentäter in Hanau wusste ganz genau, wer die Feinde sind – und wählte seine Opfer, allesamt mit Migrationshintergrund, gezielt aus.
Zu Verschwörungstheorien gehören Vernichtungsfantasien. Und sie sind ein Einfallstor für die immer weitere Radikalisierung menschenfeindlicher Einstellungen. Seit einigen Jahren geht die Tendenz hin zu einzelnen Tätern – die trotzdem keine „Einzeltäter“ sind. Sie ideologisieren sich selbstständig über Online-Videos, Chatgruppen und Manifeste anderer. Sie brauchen keine persönlichen Begegnungen, keine Kameradschaften mehr. Trotzdem gibt es über das Internet einen Austausch, deutschlandweit und auch international. Verschwörungsideologische Blogs, rechts-alternative Medien und Chatgruppen haben inzwischen eine enorme Deutungshoheit. Sie verzerren die Wahrnehmung von Realität, bis es zu einer alternativen Wirklichkeit kommt. Eine Wirklichkeit, in der rechtsextreme Gewalttäter das Gefühl haben: „Heute ist Tag X gekommen, die Mehrheit steht hinter mir, ich schreite zur Tat.“ Es muss damit gerechnet werden, dass in diesem Moment bereits das nächste Manifest verfasst wird.
In Gedenken an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nessar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen