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"Bildung gegen Extremismus muss proaktiv sein"

Der Aussteiger aus der Neonaziszene, Jörg Fischer-Aharon, leitet in Berlin einen neuen Bildungsverein: "haKadima - Bildungswerk für Demokratie und Kultur e.V." Der Name ist ein Kunstwort und lehnt sich an an das hebräische Wort Kadima an, das "Vorwärts" bzw. "Fortschritt" bedeutet. MUT sprach mit Fischer-Aharon über die Ziele des Vereins, der Bildungsarbeit gegen Extremismus und Fundamentalismus betreiben und gezielt mit Aussteigern aus extremistischen Szenen arbeiten will.

Das Gespräch führte Juri Eber


Mit haKadima e.V. gibt es einen relativ neuen, weiteren Bildungsverein im Bereich der politischen Bildung. Wo ist die Notwendigkeit dessen?


Zunächst: haKadima e.V. sieht sich nicht als Konkurrenz zu den bestehenden Bildungsvereinen, Initiativen oder Stiftungen, die in der Bildungsarbeit gegen Extremismus aktiv sind - und er ist auch keine Konkurrenz, ganz im Gegenteil. Wir sehen uns als Ergänzung und als Partner für bereits bestehende Initiativen der demokratischen Zivilgesellschaft. Allerdings sehen wir die Notwendigkeit, in der Bildungsarbeit neue Impulse einzubringen. Extremistische und fundamentalistische Ideologien, die ganz offen im Kampf gegen unsere Demokratie stehen, formieren sich immer wieder neu, versuchen mit immer neueren Strategien vor allem Jugendliche anzuwerben und erarbeiten Gegenstrategien gegen die herkömmliche Aufklärungsarbeit. Wir stehen also immer wieder vor neuen Herausforderungen, auf die wir - egal ob engagierte Einzelpersonen, Multiplikatoren, Pädagogen oder in der Jugendarbeit tätige - Antworten finden müssen.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?


Neben dem Rechtsextremismus stellt vor allem der radikale bzw. fundamentalistische Islamismus eine ernste Herausforderung an unsere demokratische Gesellschaft dar. In der inhaltlichen Betrachtung zeigt sich, dass hier auch etwas "zusammenwächst", was eine explosive Mischung darstellt. Der gemeinsame Nenner, das verbindende Amalgam, für Rechtsextremisten, radikale Islamisten und Teile der extremen Linken ist, neben einem immer aggressiver werdenden Antisemitismus, eine antimodernistische Haltung, eine gemeinsame Ablehnung unserer westlichen Wertegemeinschaft mit den Prinzipien der Emanzipation und Aufklärung.

Können Sie das konkretisieren?

Ja, ich habe in den letzten beiden Jahren bei zahlreichen Gesprächen und Veranstaltungen, beispielsweise mit Lehrerinnen und Lehrern in Berlin, immer wieder das gleiche Phänomen geschildert bekommen: Schüler mit einem muslimischen Hintergrund wenden der Lehrkraft im Unterricht den Rücken zu, weil es eine Frau, also eine Lehrerin ist oder verlassen den Unterrichtsraum, wenn im Geschichtsunterricht der Holocaust behandelt wird - oftmals fallen dabei sehr eindeutige, antisemitische Hassparolen. Viele Lehrer fühlen sich dann mit dieser Situation überfordert, auch alleine gelassen, weil sie darauf nicht vorbereitet wurden. Hier ist ein wichtiger Punkt, an dem die demokratische Zivilgesellschaft gefragt und gefordert ist, die Auseinandersetzung beispielsweise mit Antisemitismus oder Homophobie in ihren teilweise sehr unterschiedlichen Facetten. In Fortbildungen -nicht nur für Lehrer, sondern auch für andere Berufsgruppen in der Jugendarbeit- muss die Auseinandersetzung mit antisemitischen, antidemokratischen Ideologien und deren Propaganda, auch aus dem Bereich fundamentalistischer Hassprediger und ihre Medien, eine fachlich qualifizierte und an der Praxis orientierte Rolle spielen, müssen Handreichungen und Hilfestellungen erarbeitet und vermittelt werden.

Bei Ihrem Projekt fällt auf, dass auch Aussteiger aus der Neonaziszene daran beteiligt sind, angefangen mit Ihnen als Vereinsvorsitzendem. Sind Ihnen daher solche Mitstreiter willkommen?


Ein Präventions- und Aussteigerprojekt muss gerade Jugendliche nicht nur auf der abstrakt-wissenschaftlichen Ebene erreichen, sondern auch auf der praktischen Ebene, mit Menschen, die besonders authentisch berichten und aufklären können, die die Situationen aus persönlichen Erleben kennen und so natürlich einen ganz besonderen Zugang zu Jugendlichen, aber auch zu deren Eltern haben. Das gilt ebenso auch für unsere Arbeit im Rahmen dieses Projektes hinsichtlich der radikal-islamistischen Szene. Wir sind auch offen für Aussteiger aus solchen Kreisen, erste Kontakte gibt es bereits.

Jörg Fischer-Aharon
Jörg Fischer-Aharon

Auf dem Bild: Jörg Fischer-Aharon, Sylvia Bretschneider (Präsidentin des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern), Ingelore Hoffmann (Schulsozialpädagogin) bei einem Bildungsseminar am 20.04.09 in Sassnitz/Rügen. (Foto: Landtag MV)

Was heißt eigentlich "proaktive" Bildungsarbeit - was meinen Sie damit?

Proaktiv ist das Gegenteil von reaktiv. Reaktiv heißt, man reagiert auf Vorfälle und Ereignisse, also vergangenes. In Fortbildungen wird beispielsweise vermittelt, wie reagiere ich als Lehrer, Elternteil, Jugend- oder Sozialarbeiter, wenn ich mit rechtsextremistischen, radikal-islamistischen oder anderen extremistischen Einstellungen und Verhaltensweisen konfrontiert werde. Das ist wichtig und auch ein Teil unserer Arbeit, aber das genügt nicht. Es reicht nicht aus, das Kind aus dem Brunnen zu holen, wenn es reingefallen ist. Wir müssen verhindern, dass das Kind in den Brunnen fällt. Das heißt konkret: Wie verschiedene Studien belegen, sind Kinder und Jugendliche weniger für extremistisches Gedankengut anfällig, wenn sie bereits frühzeitig Demokratie ganz praktisch erleben und wenn sie Erfahrungen in der interkulturellen Lebenswelt machen können. Wir wollen Bildungsangebote für Lehrer, Eltern, Sozial- und Jugendarbeiter, aber auch für Mitarbeiter beispielsweise von Kitas schaffen, sodass diese in der Lage sind, auch jungen Kindern altersgerecht und praktikabel demokratische Praxis näher zu bringen, ihnen zu vermitteln, warum unsere demokratische Kultur tatsächlich die Kultur und Gesellschaft ist, die ihnen die besten Möglichkeiten zu einem guten Leben bietet. Proaktiv heißt also, Präventionsarbeit und Immunisierung gegen Extremismus möglichst frühzeitig zu beginnen. Denn die jetzt verbotene neonazistische HDJ (Heimattreue Deutsche Jugend) war und ist nicht die einzige Organisation, die versucht, selbst Kinder im Kindergarten-Alter für extremistische Ziele zu gewinnen und in extremistische Strukturen einzubinden.

Gibt es diesbezüglich schon praktische Pläne?

Wir streben verschiedene Projekte an, bei denen es beispielsweise um die interkulturelle Zusammenarbeit von Israelis und Deutschen geht, gemeinsame Einrichtungen, kulturelle und aufklärende Veranstaltungen, Workshops und weiteres. Das gleiche gilt auch in Bezug auf Migrantenvereine oder auch auf Homosexuellen-Gruppen. Hier sollen Möglichkeiten des Austauschs, des Begegnens und des gemeinsamen Lernen und Handelns geboten werden. Daneben arbeiten wir auch an einem umfassenden Beratungs- und Betreuungsgebot zu dem Themenbereichen Prävention/Immunisierung Jugendlicher gegen Extremismus und Fundamentalismus, sowie Angebote der Hilfestellung, wenn Menschen, gerade Jugendliche aus solchen Strukturen wieder herauswollen. Näheres werden wir in kürze auf unserer Website vorstellen, auch wie dieses und andere Angebote bundesweit genutzt werden können.

Gibt es schon Erfahrungen, wie dieses Angebot aufgenommen werden könnte?

Insgesamt sehen wir eine positive Resonanz auf unseren Ansatz und unsere geplanten Angebote. Das wurde auch bei einer Informationsveranstaltung zum Thema "Antisemitismus und Antiamerikanismus im Deutsch-Rap" deutlich, das wir bei der Amadeu-Antonio-Stiftung durchgeführt haben.


Mehr zum Thema:


Was junge Leute zu Extremisten und Terroristen macht - ein stern-Gespräch mit dem Pschychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer (stern.de, 22.4.2009)

"Bildung, Bildung, Bildung" - was Bildungspolitik gegen Rechtsextremismus leisten müsste (bpb.de)

Zur Website des Vereins
hakadima.de

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Titelfoto: Schülergrafiken aus einem Schulworkshop in Neuruppin 2008 (Kulick)


 

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