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Salzgitter: Verbindungen zur Vergangenheit

In Salzgitter recherchiert eine Gruppe Jugendlicher über die nationalsozialistische Vergangenheit der Stadt und den Umgang mit dieser Vergangenheit, um einen Film über das Thema zu machen. Das von der Amadeu Antonio Stiftung betreute Projekt ist Teil des Projektverbundes Living Equality, der sich für die Stärkung der Gleichwertigkeit aller Menschen im Alltag einsetzt.

Von Stella Hindemith

In Salzgitter gibt es eine Schule, auf deren Außenwänden zwei von Runen flankierte Inschriften prangen: „Nur wer gehorchen gelernt hat, kann später auch befehlen“, heißt die eine, „Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein, als scheinen“ lautet die Andere. Die Schule wurde 1940 fertiggestellt; in Salzgitter brauchte man damals Schulen, da die gerade errichteten „Hermann-Göring-Werke“ zehntausende Arbeiter mit ihren Familien in die Gegend zogen. Auch heute noch ist das Gebäude eine Schule. Jeden Tag laufen ihre Schüler an besagten Sprüchen auf den Häuserwänden vorbei.

Am 26. April begab sich die Gruppe Jugendlicher, die einen Film über die Stadtgeschichte Salzgitters machen wird, als Einstieg in die Thematik auf eine Stadtrundfahrt, während der die Truppe auch an der Schule mit den Inschriften vorbei kam. Initiiert vom Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V. und angeleitet von Maike Weth werden die Jugendlichen in den nächsten Monaten zur Geschichte Salzgitters und der örtlichen Erinnerungskultur recherchieren und mit Hilfe des lokalen Fernsehsenders TV 38 einen Film über das Thema drehen. Vielleicht wird es auch um die Sprüche auf den Wänden gehen oder darum, warum es keine Tafeln gibt, die sie kommentieren. Wie der Film am Ende genau aussieht, weiß im Moment noch niemand- die genaue Auswahl der Themen und die Gestaltung des Films ist den Jugendlichen überlassen.

1942 wurde aus vielen kleinen Dörfern die Stadt Salzgitter gebildet. Noch heute liegen zwischen den ehemaligen Dörfern, die heute die einzelnen Stadtteile Salzgitters sind, Kilometer grüner Wiesen und Wälder, so dass die Stadt eher einer von Kleinstädten durchzogenen Landschaft als einer einheitlichen Stadt gleicht. Fünf Jahre vor der Gründung der Stadt, im Jahr 1937, wurden wegen des großen Eisenerzvorkommens in der Region die „Hermann- Göring- Werke“ gegründet - „Denn“, so erklärt Elke Zacharias vom Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V. den Jugendlichen, „aus Eisenerz macht man Stahl- und Stahl wird in der Rüstungsindustrie gebraucht. 1936 hat man beschlossen, in der Rüstungsindustrie unabhängig vom Ausland zu werden.“ Nach der Gründung der „Hermann- Göring- Werke“ wurden Arbeitskräfte benötigt, die mit guten Löhnen und Wohnungen aus anderen Regionen angeworben wurden. So entstanden um die historischen Ortskerne der einzelnen Dörfer riesige Wohnanlagen für die Arbeiterschaft. Fährt man heute durch Salzgitter, kann man diese Wohnanlagen gut erkennen, denn sie sehen alle gleich aus- im gesamten Gebiet Salzgitters wurde immer wieder derselbe Bauplan verwirklicht. Allein schon architektonisch ist die Geschichte des Nationalsozialismus geradezu überpräsent.

 

Zwangsarbeiter unmittelbar nach Kriegsbeginn eingesetzt

Nach Kriegsbeginn wurden Zwangsarbeiter zur Arbeit in den Werken eingesetzt, ab 1942 entstanden in Salgitter drei Außenlager des KZ Neuengamme. Von zwei der drei Lager ist heute nichts mehr zu sehen, seit einigen Jahren erinnern an den Orten, an denen sie errichtet wurden, Mahnmale an ihre Existenz. Auch von der Entstehung der Mahnmale erzählt Elke Zacharias den Jugendlichen auf der Stadtrundfahrt. Da ist die Geschichte der ehemaligen französischen Häftlinge, die Anfang der 1990er Jahre Geld auf das Konto der Stadt überwiesen- mit der Bitte, doch endlich ein Mahnmal oder eine Gedenkstätte zu errichten. Bis dahin erinnerte nämlich nichts an das Konzentrationslager neben der Schnellstraße. Und auf Grund der Initiative der Stadtgeschichte e.V. gibt es seit 1985 eine Gedenktafel, die an die Überlebenden und Ermordeten des mitten auf dem Gelände der heutigen Salgitter AG (frühere Hermann- Göring- Werke) liegenden Konzentrationslagers Drütte erinnert. Seit 1992 stellt die Salzgitter AG einen der ehemaligen Unterkunftsräume der Häftlinge außerdem als Gedenkstätte zur Verfügung. Auch an das dritte Konzentrationslager, ein Frauenlager, erinnert ein Gedenkstein. Wieso es erst ab den 1980er Jahren dazu kam, dass an die ehemaligen Konzentrationslager erinnert wird- auch das könnte ein Thema des Films werden.

Der Film, den die Jugendlichen erarbeiten werden, gehört zum Projekt „Antisemitismus in Ost und West: lokale Geschichte sichtbar machen“ der Amadeu Antonio Stiftung, welches im Rahmen von Living Equality gefördert wird und sich mit dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Niedersachsen und Sachsen- Anhalt beschäftigt. Die Ausgangsüberlegung des Projektes ist, dass Nationalsozialismus und Holocaust oft nicht mit dem eigenen Herkunfts- oder Wohnort in Verbindung gebracht werden. So hören Schüler im Unterricht beispielsweise oft von Nazigrößen wie Hitler, Goebbels und Himmler und lesen Texte über die Wannseekonferenz in Berlin oder Konzentrationslager in Polen - selten aber reden sie darüber, was in ihrer eigenen Umgebung (wie beispielsweise Salzgitter) passiert ist. Das Resultat ist, dass über Nationalsozialismus und Holocaust insgesamt informiert wird, ohne Bezüge zur eigenen Umgebung herzustellen.

Die nationalsozialistische Vergangenheit wird gedanklich und emotional vom Wissen über die eigene Kommune und der Einstellung gegenüber der eigenen Nationalität und Gesellschaft abgespalten. Letztendlich führt dies zu einem ungenügenden Verständnis der Geschichte. Wird der Nationalsozialismus jedoch nicht aufgearbeitet und die Erinnerungskultur vor Ort nicht reflektiert, gedeiht Antisemitismus auf altem Nährboden. Hier ergibt sich der Zusammenhang zwischen den Projekten, die lokale Geschichte aufarbeiten und dem Projektverbund Living Equality: In Deutschland ist die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust für den Kampf gegen Antisemitismus grundlegend.

Parallel zu der Arbeit am Film wird eine zweite Gruppe Jugendlicher Rap- Songs zum Thema produzieren. Jan Karadas, der die entsprechenden Workshops mit den Jugendlichen leiten wird, erklärt, das Ziel sei, „die Vergangenheit zu beleuchten und mit der eigenen Lebenssituation in Verbindung zu bringen.“

Die Stadt Salzgitter hat das Geld, welches sie von den ehemaligen Häftlingen erhielt, übrigens wieder zurück überwiesen und selbst ein Mahnmal finanziert. „Vielleicht war es der Stadt ja peinlich, ein Mahnmal von ehemaligen Opfern bezahlen zu lassen“, sagt Elke Zacharias.

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de

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Jugendgruppe in Salzgitter