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Leipzig: Anpassen - oder Widerstand leisten?

Nominiert für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie: Schulmuseum, Leipzig

Von Jan Schwab

Gute Arbeit gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus hat viele Gesichter – wir stellen Ihnen 15 ausgewählte Projekte vor, die für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie nominiert sind. Projekt XII: Das Schulmuseum Leipzig ermöglicht durch Projekte eindringliche Lerneffekte. Etwa, wenn Jugendliche die Lebensläufe von Widerständlern zur Zeit der beiden deutschen Diktaturen erforschen.

Phillip ist wütend. Zum vierten Mal meldet er sich, die Lehrerin muss ihn doch bemerkt haben! Trotzdem nimmt sie ihn nicht dran. Seine Versuche, Aufmerksamkeit zu erlangen, bleiben vergeblich. Schließlich spricht die Lehrerin ihn doch an: Er solle aufhören, sich ständig zu melden, hört er sie mit ihrer strengen Stimme sagen, denn seine Antworten wolle sie nicht hören! Phillip weiß, warum die Lehrerin ihn anders behandelt als die anderen: Er ist der einzige in seiner Klasse, der nicht die blaue Uniform der Jungen Pioniere trägt. Als endlich die Pausenglocke läutet, ist Phillip erleichtert – und sehr enttäuscht. Warum haben sich seine Freunde nicht für ihn eingesetzt, als die Lehrerin ihn so ungerecht behandelt hat?


Für die einen retro, für die andern Grusel: DDR-Klassenzimmer
von 1975 - natürlich mit Honecker-Porträt


Zeitreise in undemokratische Vergangenheit
Ein Klassenzimmer in Leipzig. Blaue Hemden. Auf der Tafel neben dem Lehrerpult stehen in weißer Schrift die „Zehn Gebote der Jungen Pioniere“. Ein Porträt Erich Honeckers schmückt den Klassenraum. Die DDR der siebziger Jahre befindet sich heute im Schulmuseum Leipzig. Und das ist weit mehr als ein Museum von Ausstellungsstücken. Im Vordergrund steht das (inter)aktive Erleben. Dazu gehört die „Heimatkundestunde 1975“. Eine Schulstunde lang können Neunt- oder Zehntklässler eine Zeitreise in die Schule der DDR unternehmen – ohne jegliche Nostalgie: „Ein Besuch bei uns ist kein Wandertag“, betont Elke Urban, die engagierte Leiterin des Schulmuseums. „Die Besucher sollen zwar Spaß haben, aber vor allem sollen sie nachdenklich nach Hause gehen, mit dem Gefühl, etwas gelernt zu haben.“

Mutprobe im DDR-Klassenzimmer
Dann berichtet Elke Urban von einer neuen Ausstellung, „Gegen den Strom – Schule im Widerstand“, einem Projekt, das noch in den Kinderschuhen steckt. Anhand von Biographien sollen Parallelen und Unterschiede der Schule im Dritten Reich und in der DDR aufzeigt werden. Welche Schüler und Lehrer hatten den Mut, sich den Zwängen der Diktatur zu widersetzen? Wie sah ihr Widerstand aus? Und mit welchen Konsequenzen mussten sie rechnen? In der Auseinandersetzung sollen Jugendliche für die Gefahren jeglicher Form von Gleichschaltung sensibilisiert werden. Letztendlich geht es darum, jungen Menschen klar zu machen, dass die heutigen demokratischen Werte nicht selbstverständlich sind, sondern Tag für Tag gelebt und neu verteidigt werden müssen. „Die Besucher werden hier lernen, unter welch schwierigen und gefährlichen Bedingungen in der Nazi-Zeit oder in der DDR Widerstand geleistet wurde“, erzählt Elke Urban. Auf diese Weise sollen Jugendliche dazu ermutigt werden, Verantwortung und Zivilcourage im Alltag zu übernehmen.


Leitet das Schulmuseum: Elke Urban vor dem "Taschentuch-
Baum", mit dem heutige Leipziger an in der Nazizeit ermordete
Leipziger erinnern, die in ihrer Straße wohnten

Bei der Umsetzung von Projekten wie diesem stehen in erster Linie die jungen Menschen im Mittelpunkt. Zwar werden Schülerinnen und Schüler angeleitet von Historikern der Universität Leipzig, aber sie selbst untersuchen die Lebensläufe von Außenseitern und Widerständlern in der Diktatur - recherchieren in Archiven die Schulakten der Stasi und der Gestapo, befragen anschließend Zeitzeugen und deren Nachkommen. Wie das „Endprodukt“ aussehen wird, versteht sich im Schulmuseum von selbst. Die Besucher werden nicht an Schautafeln vorbeigeschleust, um hinterher mit Informationen gefüttert wieder zur Tagesordnung überzugehen. Elke Urban ist überzeugt davon, dass die Jugendlichen mehr lernen, wenn sie selbst aktiv werden. In verschiedenen Filmstationen, bei denen Zeitzeugen zu Wort kommen, werden die Besucher vor die Wahl gestellt: Anpassung oder Widerspruch? Und auf eine richtige Mutprobe werden sie bei den „Rollenspielen“ im DDR-Klassenzimmer gestellt – mit anschließender gemeinsamer Auswertung.


Selbst auf den Museumsfluren kann spielerisch entdeckt und
gelernt werden

Ein Neubeginn ohne Tabus
Ein Rundgang durch das Schulmuseum macht neugierig auf das neue Projekt, denn es basiert auf den Erkenntnissen der Ausstellungen „Schule unterm Hakenkreuz“ und „Fremde und Gleiche in der DDR-Schule“, die beide von Elke Urban geleitet und betreut wurden. Die Mittfünfzigerin bekommt leuchtende Augen, wenn sie von ihren Projektideen erzählt. Als sie im Jahr 2000 die Leitung des 1984 neu gegründeten Museums übernahm, hatte sie einen schweren Stand. Sie war umgeben von Kollegen, für die die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit tabu war. Doch genau diese Aufarbeitung war für Elke Urban eine Grundvoraussetzung, um überhaupt mit der Arbeit zu beginnen. Unter Rückendeckung eines von ihr gegründeten Beirats konnte sie ihre eigenen Vorstellungen für einen Neubeginn schließlich durchsetzen. Inzwischen ist das Schulmuseum sogar über Deutschland hinaus bekannt: „Wir bekommen regelmäßig Besuch aus dem Ausland, insbesondere aus England, Polen, Frankreich und Israel“, sagt die Museumsleiterin. Aus einem ihrer ersten Projekte sind Freundschaften mit Menschen aus der ganzen Welt entstanden. Vor sieben Jahren forschten Schüler nach Leipziger Juden, die als Kinder aus Deutschland fliehen mußten und im Ausland eine neue Heimat fanden.

 



Dieser Raum enthält Informationen über die in der Nazizeit
ermordeten Leipziger zumeist jüdischen Glaubens, über die
Jugendliche mit dem Schulmuseum geforscht haben.

 

So auch Thea Hurst, geborene Gersten, die 1925 als Kind polnischer Juden in Leipzig zur Welt kam. Sie war sieben, als Hitler die Macht übernahm, 1939 floh sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach England. Ihr Vater wurde 1943 in Treblinka von den Nazis ermordet. Die heute 82-Jährige lebt in Yorkshire, im Sommer 2000 kam sie erstmals seit ihrer Emigration wieder zurück nach Leipzig, wo sie an Schulen mit Jugendlichen sprach und über ihre Kindheit berichtete. An die Ausgrenzung während ihrer eigenen Schulzeit erinnert sich Thea noch gut: Freunde und Klassenkameradinnen wollten nicht mehr mit ihr spielen, weil sie „ein Judenkind“ war. Als sie ihre Mutter fragte, ob sie denn schlechte Leute wären, antwortete die: „Wir sind nicht schlecht. Aber viele Menschen denken, wir seien schlecht“. Ihre Erinnerungen schildert Thea Hurst in einem Tagebuch, das erstmals 2001 veröffentlicht wurde – und in einem Dokumentarfilm, der im Auftrag des Schulmuseums Leipzig entstand.

Wie fühlt man sich als Außenseiter?
Während das Stadtgeschichtliche Museum in Leipzig die beiden deutschen Diktaturen bestenfalls in zeitlich begrenzten Ausstellungen im Kellerbereich thematisiert, stellt Elke Urban immer wieder aufs Neue unbequeme Fragen. Wichtig ist ihr dabei der Bezug zum heutigen Leben. So hat sie beispielsweise gemeinsam mit Jugendlichen einen Film gemacht, der die schwierige Lebenssituation von in Leipzig wohnenden Flüchtlingen in den Blick nimmt. Die Museumsleiterin hat in ihrem früheren Leben mehrere Schulen gegründet, daher weiß sie, wovon sie spricht, wenn sie sagt: „Wir müssen uns mit unserem Angebot schon sehr vom normalen Schulunterricht abheben, sonst kommen die Schüler einmal und nie wieder“. Dass die allermeisten gerne wieder kommen, macht Mut für neue, innovative Projekte. „Innovativ“ kann auch bedeuten, dass man direkt und auf schmerzhafte Art und Weise erfährt, was es bedeutet, diskriminiert zu werden. Im Rollenspiel „Winterkinder“ werden alle im Januar geborenen Schüler einer Klasse eine Stunde lang von der Lehrerin als Außenseiter behandelt. Ein für alle Beteiligten ungewöhnliches Experiment mit Lerneffekt. Wie man sich beispielsweise fühlt, als jüdisches Kind in einer Klasse voller „Arier“ zu sitzen, kann kein Schulbuch vermitteln. Ein Rollenspiel dagegen schon eher.


Blick in die Ausstellung "Fremde & Gleiche in der DDR-Schule"

 

 

 

Besonders die Rolle der strengen, ungerechten Lehrerin in der „Heimatkundestunde 1975“ fällt Elke Urban nicht leicht. Erschreckend findet sie, wie selten die Jugendlichen von heute den Mut aufbringen, sich für ihre diskriminierten Mitschüler einzusetzen. Dabei wird in der Vorbesprechung ausdrücklich betont, dass sie eingreifen dürfen und sogar sollen. Leider, so das Resümee von Elke Urban, entscheiden sich die meisten im Zweifelsfall für Anpassung; Widerstand kommt eher selten vor. Dafür, glaubt sie, bleibt bei den Schülern die Erfahrung hängen. Vielleicht wird der eine oder andere in Zukunft im echten Leben außerhalb des Schulmuseums etwas mehr Zivilcourage zeigen, wenn es wirklich darauf ankommt. So viel Ideenreichtum und Einsatz, wie das Schulmuseum Leipzig bietet, wäre jedenfalls definitiv einen Sächsischen Förderpreis für Demokratie wert, der am 9. November gemeinsam von der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank, der Stiftung Frauenkirche Dresden, der Freudenberg Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung vergeben wird.
 

 

Mehr im Internet:
Sächsischer Förderpreis für Demokratie:
www.demokratiepreis-sachsen.de
Schulmuseum Leipzig
www.schulmuseum-leipzig.de

Mehr auf mut-gegen-rechte-gewalt.de:

80 x Mut in Sachsen

Nominiert für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie 2007:

  1) Aktion Zivilcourage Pirna
  2) arche noVa e.V., Dresden
  3) Bürgerbündnis für Menschenwürde, Mittweida
  4) Buntes Leben, Freiberg
  5) Hatikva e.V., Dresden
  6) Jugendforum Chemnitz
  7) Gruppe KLARA, Dresden
  8) Kreativhaus, Dresden
  9)  Landesjugendpfarramt Sachsen, Leipzig 
10)  Netzwerk für Demokratische Kultur, Wurzen
11) Oberlausitz - Neue Heimat e.V., Löbau
12) Schulmuseum, Leipzig
13) Sprungbrett e.V., Riesa
14) Stadtverwaltung Glauchau
15) Treibhaus e.V., Döbeln

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Eingang des Schulmuseums Leipzig