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Wie lässt sich Gleichwertigkeit etablieren?

Living Equality - Interventionen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickeln

Von Simone Rafael

Seit Jahren belegt ein Wissenschaftsteam der Universität Bielefeld um Professor Wilhelm Heitmeyer, dass Feindseligkeiten gegen schwache Gruppen und Minderheiten wie Rassismus, Homophobie oder das Beharren auf Etabliertenvorrechten miteinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig verstärken. Aber heißt das im Umkehrschluss auch, dass sich alle Aspekte der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF)“ bekämpfen lassen, wenn Projekte eine Facette des Syndroms bearbeiten? Das will jetzt das Projektenetzwerk „Living Equality“ herausfinden. Und hat dazu viele Ideen.
 
Living Equality - Gleichwertigkeit (er)leben
Unter dem Motto „Interventionen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickeln“ haben jetzt Praktiker der koordinierenden Amadeu Antonio Stiftung, der Bundesarbeitsgemeinschaft der RAA (Regionale Arbeitsstellen für interkulturelle Bildung, Jugendarbeit und Schule), des Zentrums Demokratische Kultur und des Landesverband der Sinti und Roma in Baden-Württemberg mögliche Methoden gegen Facetten der GMF erdacht, die im kommenden Jahr erprobt werden sollen. Wissenschaftlich begleitet wird „Living Equality“ von Dr. Andreas Zick und Dr. Beate Küpper vom Bielefelder Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.
 
Wissenschafts-Tipps für die Praxis
Die Wissenschaftler interessieren sich besonders für die Frage, wie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse den Praktikern helfen und deren Arbeit präzisieren können. Sie ermutigten bei einer Praxistagung Mitte November 2007 in Berlin die Projektpartner, sich genaue Ziele zu definieren und verschiedene Zugänge zu suchen, um effektiv zu arbeiten. „Projekte, die Verhaltensänderungen erreichen wollen, können drei Ebenen ansprechen“, führte Beate Küpper aus, „Affekte, Kognition und Verhaltensintentionen.“ Kampagnen gegen Antisemitismus arbeiteten etwa oft mit Wissensvermittlung und Werten und sprächen so die Kognition an – um aber tatsächlich das Handeln zu verändern, dürfe auch die emotionale Ebene nicht vergessen werden.

Gruppen bilden, ohne abzuwerten
Die Forscher präzisierten auch das Ziel der Arbeit gegen GMF. „Ja, Menschen funktionieren biologisch so, dass sie in Gruppen einteilen, sich Urteile und Kategorien schaffen“, erläutert Küppers, „aber die Frage ist: Wie gehe ich damit um?“ Ziel müsse es sein, gegen abwertende (Vor-)Urteile vorzugehen, eine ethische Position zu verankern, dass Hass gegen Gruppen gesellschaftlich nicht akzeptiert wird.

Verunsicherung auffangen
Dazu müssten die Funktionen von Vorurteilen im Blick behalten werde: Ihre (scheinbare) Wissensvermittlung, die Aufwertung des Selbstwerts, wenn man die eigene Gruppe als positiv erlebt, die Belohnung, wenn man sich an vorherrschende Meinungen anpasst, die Legitimierung der eigenen Position in der Welt. „Wer etwa am Wissensaspekt ansetzt, neues Wissen anbietet, darf nicht vergessen, dass dadurch das Selbstwertgefühl verunsichert wird. Deshalb müssen Projekte Alternativen zur bisherigen Überzeugung bieten, um dauerhaft zu wirken“, so Küpper.

Ideologie der Ungleichwertigkeit bekämpfen
Im Kern ist allen Abwertungsmechanismen die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ innewohnend, also das bestimmte Gruppen oben und stark, andere unten und schwach sind. Deshalb, so die Wissenschaftler, müsse es die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ sein, die vor allem durch Projektarbeit bearbeitet werden müsse, um dauerhafte Veränderungen für das GMF-Gesamtsyndrom zu erreichen. „Im Endeffekt“, so Beate Küpper, „geht es um die Frage: Könnte es sein, dass alle Facetten des Syndroms gemindert werden, wenn man an der Ideologie der Ungleichwertigkeit an sich ansetzt und daran arbeitet?“ Zugleich ermutigte sie die Praktiker, beim Intervenieren Standpunkte zu entwickeln: Was ist unser Fokus, unser Angriffspunkt, unsere Methode? Denn bei einem derart komplexen Problem könne niemand alles machen!
 
Vorurteile schreiten voran
Dass Handeln dringend nötig ist, erkennen die Forscher in jeder neuen Runde ihrer Langzeitstudie „Deutsche Zustände“: Persönliche Desintegrationsgefühle nähmen zu, ebenso Misstrauen in die Demokratie und  persönliche Orientierungslosigkeit – das alles verstärkt die Neigung zum Vorurteil auch immer stärker in der Mitte der Gesellschaft, die bisher als Garant für Demokratie galt.

Entsprechend facettenreich ist die beteiligte Projektelandschaft des „Living Equality“-Verbundes.

Die Projekte:

Antisemitismus

Lokale Geschichte und Erinnerungskultur
Die Amadeu Antonio Stiftung beschäftigt sich schon seit Jahren intensiv mit dem Thema Arbeit gegen Antisemitismus. Details finden sich unter www.projekte-gegen-antisemitismus.de. Im Rahmen von "Living Equality" erprobt die Stiftung mit lokalen Kooperationspartnern Formen einer neuen Auseinandersetzung mit lokaler Geschichte und Erinnerungskultur mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Grundlagen von Rechtsextremismus heute aufzuzeigen. Praktisch geschieht die Erprobung in Sachsen-Anhalt (Partner: Landeszentrale für Politische Bildung in Sachsen-Anhalt) und Niedersachsen (Partner: DGB und Verfassungsschutz), was zudem einen Ost-West-Vergleich ermöglicht. Praktisch werden zunächst in Fortbildungen Projektleiter ausgebildet, die dann vor Ort mit Jugendlichen ein längerfristiges Projekt gestalten sollen. Dabei soll es um die lokale Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus und lokale Formen der Judenverfolgung gehen, aber auch um die lokale Erinnerungskultur: Wie wurde nach 1945 an die NS-Zeit erinnert? Wie wurde so etwa die Grundlage für heutigen sekundären Antisemitismus und Schlussstrich-Forderungen gelegt? Ziel ist es, das oft verdrängte Thema Antisemitismus zunächst auf die Agenda zu heben und im weiteren Schritt Lösungen zu exemplarischen Handlungssituationen zu erarbeiten und zu veröffentlichen.

Umgang mit migrantischem Antisemitismus
Ein zweites Projekt wird sich mit migrantischem Antisemitismus auseinandersetzen, wie er besonders in komplexen Schülerschaften zu Tage tritt und Lehrer unvorbereitet oft überfordert. Weil es keine Gruppe der "Muslime" gibt, sondern auch innerhalb der Migrantencommunities verschiedenste Ausprägungen von rechts- und linksextrem oder islamistisch motiviertem Antisemitismus und zudem von Gewalt betroffene Palästinenser und Libanesen, bedarf der Umgang mit antisemitischen Ressentiments in diesem Feld entsprechend unterschiedliche Handlungsoptionen. Mit dem Zielpublikum Kinder- und Jugendbildung werden zunächst bisherige Ansätze der Arbeit zusammengetragen und in einer Handreichung zusammen gefasst. Daraus folgend sollen Konzepte für pädagogische Module entwickelt werden.

Rechtsextremismus

Demokratische Communities stärken

Das Zentrum Demokratische Kultur, eine der zentralen Anlaufstellen für Demokratiecoaching in Deutschland, will mit seinem neuen Konzept "Demokratische Communities stärken" hinaus aus der defensiven Rolle, in der sich Arbeit gegen Rechtsextremismus befindet, wenn sie nur auf die Aktionen der Neonazis reagiert. Die offensive Arbeit setzt in der Kommune an. In den zwei exemplarischen Kommunen Pretzien und Fürstenwalde werden die neuen Konzepte erprobt. Beide Kommunen sind ökonomisch prosperierend, ringen aber nach gravierenden rechtsextremen Negativereignissen um ihre Identität. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Notwendigkeit zum Handeln sehen, aber noch nicht den richtigen Weg. Mittels Analyse, Coaching und Konfliktmoderation will das Zentrum Demokratische Kultur interne Konfliktfelder aufspüren, historische Irrwege sichtbar machen und als inspirativer Akteur eine öffentliche Diskussion zu gemeinsamen Werten anregen: Was ist unsere Werteheimat? Was ist uns heilig, was ist schlecht? Sind Rechtsextremisten böse - wo sie doch zugleich unserer Kinder sind? Wie kommt man aus der Stigmatisierung als rechtsextremes Nest wieder heraus? Zugleich werden Methoden erprobt, die durch verschiedene Strategien erreichten Effekt zu stabilisieren. Ziel ist die Aktivierung der Kommune zu stärkerer demokratischer Selbstwirksamkeit.


Antiziganismus

Der Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden Württemberg erarbeitet zusammen mit der jüdischen Gemeinde in Mannheim Schulprojekttage, um Antiziganismus entgegen zu treten. Dieses Unterfangen ist umso schwieriger, als dass die Arbeit bei Null anfängt. Es gibt an den Schulen kein Interesse am Thema, kein Wissen unter den Lehrern, keine Materialien, um es zu bearbeiten - und das, obwohl nicht wenige Schüler auch in Mannheim einen Sinti-Hintergrund haben, der ihnen aber oft selbst kaum bewusst ist. Deshalb soll es Aufgabe der Schulprojekttage sein, Wissen über die Lebenswirklichkeiten von Sinti und Roma zu vermitteln und Argumentationshilfen gegen Antiziganismus und Antisemitismus zu bieten. Methodisch vielfältig soll mit szenischen Interventionen, Rollenspielen, Plakatgestaltung und Gruppenarbeiten gegen Vorurteile für die Situation der Sinti und Roma sensibilisiert werden. Dazu gehört auch, Sinti-Kinder an die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit in Deutschland heranzuführen, von der sie oft selbst nichts wissen. Nach dem Schulprojekttag sollen die Jugendlichen so viel über Vorurteile und haltlose Projektionen auf Gruppen gelernt haben, um befähigt zu sein, in Zukunft selbst anders zu denken.


Gleichwertigkeit erleben in Schule und Kommune

Das von den RAAs Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen und der Amadeu Antonio Stiftun erarbeitete Gleichwertigkeits-Audit zum Thema Gleichwertigkeit wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft der RAA (Regionale Arbeitsstellen für interkulturelle Bildung, Jugendarbeit und Schule) im Rahmen von "Living Equality" in verschiedenen Praxissituationen ausprobiert, verfeinert und implementiert. Das Audit ist ein Instrument, mit dem die Teilnehmer feststellen können, wieviel Gleichwertigkeit (oder Ungleichwertigkeit) sie in ihrem Alltag erleben und wo welche Veränderungen wünschenswert und notwendig sind. Praktisch wird es im brandenburgischen Bernau von Jugendlichen für den Einsatz in ihrem jugendkulturellen Stadtteilzentrum umgearbeitet, in Schwedt in der Dreiklang-Schule implementiert, im mecklenburg-vorpommerschen Waren im Umfeld des Christlichen Jugenddorfs auf den Stadtteil Papenburg angewandt und im Bergischen Land (Nordrhein-Westfalen) an Schulen zum Einsatz kommen, die sich als "Schulen ohne Rassismus" verstehen. Hier sollen zum einen Schülerinnen und Schüler als "Gleichwertigkeits-Coaches" ausgebildet werden, zum anderen sollen die Audit-Ergebnisse Lehrerinnen und Lehrern bei der Schulentwicklung und Schulprogrammarbeit auf dem Weg zu einer demokratischen Schulkultur sensibilisieren und unterstützen. Das Gleichwertigkeits-Audit setzt nach bisheriger Erfahrung schon während seiner Durchführung demokratische Kräfte frei, sensibilisiert und befördert so den Abbau von Ungleichwertigkeiten. Sein Ziel ist die Durchsetzung einer Anerkennungskultur und fusst auf der Annahme, dass dort, wo alle mehr Anerkennung erfahren, auch mehr Gleichwertigkeit entsteht.

Geförderte Kleinprojekte

Außerdem gehört zu "Living Equality - Gleichwertigkeit erleben" auch die Förderung von Kleinprojekten, von denen sich die Initiatoren einen besonderen Erkenntisgewinn oder ein demokratisches Plus vor Ort erhoffen.  Ein Antrag auf Förderung ist weiterhin möglich. Antragsschluss für die zweite Förderrunde ist der 31.12.2007. Informationen hierzu gibt es hier bei der Amadeu Antonio Stiftung.

Bisher werden gefördert:

Conne Island, Leipzig: Veranstaltungsreihe, Was tun gegen Rassismus und Antisemitismus? Ziel: Diskussion in die Projekteszene Leipzigs tragen.
Bon Courage, Borna: Ausstellungsprojekt  „Pfui, wie sieht das denn aus“ zu  gesellschaftlich nicht akzeptierten Gruppen, z.B. Homosexuellen, Obdachlosen, Punks. Dazu befragen die Mitglieder von "Bon Courage" Betroffene in Borna zu ihren Erfahrungen und testen damit, wie man das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der Kommune anwenden kann.

Kreuzberger Musikalische Aktion, Berlin: Nach entsprechenden Vorfällen in der eigenen Organisation beschäftigt sich die Kreuzberger Musikalische Aktion mit Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Unter anderem werden Jugendliche eine eigene Radiosendung machen zum Thema Mediennutzungsverhalten und Nahost-Konflikt; es gibt Fortbildungen für Mitarbeiter und es sollen ein jugendgerechtes Medium entwickelt werden, um auf das Thema aufmerksam zu machen, zum Beispiel ein Rapsong.

Rroma Aether Theater Berlin-Neukölln: Theaterstück zum Thema Sinti udn Roma in Berlin, das in Zusammenarbeit mit Jugendlichen des Bezirks entsteht.

NPD-Blog, Hamburg: Die Partnerwebsite von mut-gegen-rechte-gewalt.de widmet sich in diesem Zusammenhang besonders der Frage: Mit welchen Themen aus dem Bereich GMF beschäftigt sich die NPD? Wie tauchen GMF-Themen im organisiereten Rechtsextremismus auf?

RAA Nordrhein-Westfalen: Fortbildungen für Multiplikatoren und Schüler zu den Thmen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit und was man genau in der Schule dagegen tun kann; außerdem soll es schulbezogene Maßnahmen gegen GMF an den Schulen geben, die sic h am Gleichwertigkeits-Audit beteiligen

Ufuq.de, Berlin: Das Team, dass sich hauptsächlich mit der Analyse arabischer Medien in Deutschland beschäftigt, entwickelt für dieses Projekt Möglichkeiten einer jugendkulturelle Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Islamfeindlichkeit  in Neukölln und Essen. Außerdem soll ein Lehrernetzwerk gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ins Leben gerufen werden.

Dem Ball is egal, wer ihn tritt:, Gelsenkirchen: Die Fußball-Initiative widmet sich dem Thema Rassismus und Antisemitismus in der Fankultur und will für dieses Projekt mit Fans verschiedener Vereine eine Fahrt ins Konzentrationslager Auschwitz machen und diese in den Vereinen nachbereiten.

Netzwerk Demokratische Kultur, Wurzen: Das NDK will das Thema GMF an Schulen ins Gespräch bringen, indem es einen Comic-Workshop gegen Vorurteile organisiert.


Mehr im Internet:

www.living-equality.org

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Projekt-Teilnehmer beim "Living Equality"-Treffen in Berlin