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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
"In der DDR herrschte große Ignoranz gegenüber der Geschichte der Judenvernichtung": die Historikerin Dr. Annette Leo. (Foto: J.S.)
Ein Schülerprojekt und eine anschließende Podiumsdiskussion haben in Strausberg eine spannende Debatte in Gang gebracht: Wie soll die Stadt mit der Geschichte des alten Jüdischen Friedhofs umgehen? Und wie kann es gelingen, dass auch die anderen Zeichen jüdischer Kultur stärker ins Bewusstsein der Bürger gerückt werden?
Von Jan Schwab
Der Mittsechziger ist sichtbar bewegt, als er in Anwesenheit von mehr als 40 Menschen im Ballsaal zu sprechen beginnt. In der DDR habe er als Lehrer und Hochschullehrer gearbeitet und unter anderem gelehrt, dass die DDR ein durch und durch antifaschistischer Staat sei, in dem Antisemitismus nicht existiere. "Heute", so der nachdenklich wirkende Mann, "bin ich sehr verunsichert, ob ich das richtige getan habe". So etwas gibt es nicht allzu oft. Es gehört Mut dazu, sich einem Publikum zu stellen und seine Fehler und Irrtümer öffentlich zuzugeben – zumal als ehemaliger Dozent an einer Hochschule.
Zum Nachdenken angeregt hat den Strausberger eine Podiumsdiskussion über jüdische Geschichte mit dem Titel "Spur der Steine – vom Verschwinden der jüdischen Grabsteine in Strausberg". Die vom Verein MIKO Ende Mai 2009 organisierte Veranstaltung im Strausberger Ballsaal beschäftigte sich nicht allgemein mit dem Thema, sondern stellte ganz konkrete Fragen zu einem realen Ort in Strausberg, dem ehemaligen Jüdischen Friedhof. Wie kommt es, dass das Friedhofsgelände bis heute von der Bevölkerung als solches kaum wahrgenommen wird? Wie kann es sein, dass dort, wo früher Grabsteine standen, in den fünfziger und sechziger Jahren kleine Jungs Fußball spielten?
Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse der Lise-Meitner-Gesamtschule beschäftigen sich seit einigen Monaten intensiv mit der jüngsten Geschichte des Jüdischen Friedhofs in ihrer Stadt. Die Idee dazu kam den Jugendlichen im November 2008, als im Rahmen einer Aktionswoche zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht ein Film mit Zeitzeugeninterviews präsentiert wurde: "9-11-38 – an einem Tag in Strausberg". Eigentlich war geplant, dass die Schülerinnen und Schüler bei der Erstellung dieses Films mitarbeiten, aber die Kooperation kam am Ende nicht zustande. Stattdessen beschlossen die Jugendlichen auf Initiative von MIKO, die Geschichte des Friedhofs zu einem Thema im Rahmen der Schulprojekttage zu machen. Denn der Zeitzeugenfilm hatte in der Stadt eine kontroverse Diskussion in Gang gesetzt, die zeigte, dass unter den Bürgern Strausbergs große Unklarheiten zur jüngeren Stadtgeschichte existieren. "Insbesondere die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Strausberg und seiner Umgestaltung nach 1945 ist nicht lückenlos nachvollziehbar, da dieses Kapitel der Ortsgeschichte im Gegensatz zu vielen anderen Städten und Gemeinden im Landkreis weitestgehend tabuisiert wurde", erklärt Alexander Hofmann, der Vorsitzende von MIKO e.V.. Die Folge war, dass die jüngste Geschichte des Friedhofs aus dem Bewusstsein der Strausberger Bevölkerung fast vollständig verschwunden ist.
Eines der wenigen sichtbaren Zeichen: Gedenktafel zur Erinnerung an die am 9. November 1938 von den Nazis zerstörte Synagoge in Strausberg (Foto: J.S.)
Kaum noch sichtbare Spuren jüdischer Kultur
Wie groß der Nachholbedarf unter den Menschen ist, machte die Podiumsdiskussion deutlich, die unter anderem von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wurde. Erklärtes Ziel war es, ausgehend von den Nachforschungen der Schülerinnen und Schüler eine öffentliche Debatte in Gang zu bringen, die die stadtgeschichtlichen Unklarheiten und Lücken zum Jüdischen Friedhof schließt. Die Veranstaltung bezog sowohl die ältere als auch die jüngere Generation mit ein und machte vor allem eines deutlich: der Gesprächsbedarf ist enorm.
Die Jugendlichen präsentierten als Einstieg einen eigenen Film, in dem sie die Bürger der Stadt zu deren Wissen über Spuren jüdischen Lebens in Strausberg befragen. Denn außer einer noch zu DDR-Zeiten angebrachten Gedenktafel, die auf den ehemaligen Friedhof hinweist, gibt es keine sichtbaren Spuren mehr. Einige Stolpersteine erinnern an Jüdinnen und Juden, die in Strausberg ihre letzte Wohnung hatten, bevor sie von den Nazis deportiert und umgebracht wurden. Aber davon mal abgesehen? "Man könnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass es in Strausberg keine jüdische Kultur gab", so die Meinung eines kritischen Bürgers.
"Große Ignoranz und Achtlosigkeit"
Der Film bietet zwar keine umfassende, wissenschaftlich fundierte Umfrage; die Interviews präsentieren dennoch einen aufschlussreichen Querschnitt durch die Meinungen der Stadtbevölkerung. Da ist die alte Dame, die zwar den ehemaligen Standort der Synagoge nicht kennt, es gleichzeitig aber nicht für notwendig hält, dass die Stadt die Zeichen jüdischer Geschichte mehr ins Bewusstsein der Menschen rückt. Da ist die Frau mittleren Alters, der kein einziger Name eines ehemaligen jüdischen Bürgers aus Strausberg einfällt. Da sind aber auch Menschen, die es für wichtig erachten, dass die Stadt diese historische Lücke endlich schließt und beispielsweise den Standort des Friedhofs deutlicher kennzeichnet.
Doch Strausbergs unrühmlicher Umgang mit den Schattenseiten der eigenen Geschichte ist kein Einzelfall, sondern nur eines von vielen Elementen in einem Labyrinth der Geschichtsverdrängung. Dr. Annette Leo, Historikerin an der Universität Jena, erinnert sich noch gut an das Jahr 1988, als sie nach Halberstadt fuhr, um anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht zur Geschichte der deportierten Halberstädter Juden zu recherchieren. Die ehemalige Synagoge war nur noch als Ruine vorhanden, nach dem Krieg diente sie unter anderem als Fabrikgebäude und Wohnhaus. Ähnlich in Röbel in Mecklenburg-Vorpommern: in der DDR wurde das ehemalige jüdische Gotteshaus als Reparaturwerkstatt für Autos genutzt, erst nach der Wende richtete die Stadt dort eine Gedenkstätte ein. Diese Beispiele, so Leo, seien typisch gewesen für den Umgang des jüdischen Erbes in der DDR: "Das Verschwinden der jüdischen Kultur in Deutschland geht in allererster Linie auf das Konto der Nationalsozialisten", so die Historikerin, "aber in der DDR herrschte große Ignoranz und Achtlosigkeit gegenüber der Geschichte der Judenvernichtung."
Diskutierten über den Umgang mit jüdischer Geschichte und Kultur in Strausberg: Dr. Horst Klein, Monika Schmidt und Dr. Annette Leo. (Foto: J.S.)
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Dies bestätigt auch Monika Schmidt, die am Zentrum für Antisemitismusforschung der Berliner TU eine Arbeit über Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR geschrieben hat. Entgegen der immer noch weit verbreiteten Meinung, in der DDR habe es keinen Antisemitismus gegeben, existierte dieser sehr wohl – nur wurde auf offizieller Seite nie darüber gesprochen. Wie in der alten Bundesrepublik wurden auch in der DDR zahlreiche jüdische Friedhöfe geschändet, Grabsteine umgeworfen, Hakenkreuze auf die Steine geschmiert. Das antifaschistische Selbstverständnis der DDR duldete allerdings nicht, dass die Bevölkerung von diesen Schändungen erfährt. Aus diesem Grund, so Schmidt, habe eine aktive Verleugnung antisemitischer Vorfälle stattgefunden. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Bei der anschließenden Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern der Stadt, mit Vertretern von Initiativen und mit zwei Lokalforschern wurde klar, dass noch viel passieren muss, damit die Stadt den jüdischen Aspekten ihrer Geschichte gerecht wird. Der Strausberger Erinnerungsforscher Dr. Horst Klein formulierte es so: "Den Lernprozess, den wir momentan durchlaufen, müssen wir stärker in die Lokalpolitik einbringen, damit sich die gesamte Stadt Strausberg mehr mit dem Thema befasst."
Den Schülerinnen und Schülern der Lise-Meitner-Schule und dem Verein MIKO ist es zumindest gelungen, den Stein ins Rollen zu bringen. Sie haben eine längst überfällige Diskussion in Gang gebracht. Wenn sie dabei sogar schaffen, ehemals überzeugte DDR-Bürger zum kritischen Nachdenken über das eigene Verhalten zu bringen, haben sie enorm viel bewegt.
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(c) www.mut-gegen-rechte-gewalt.de, 10.06.2009 / js