Sie sind hier

Wie ein angeblich nicht vorhandenes Thema erforschen?

Wie ist es möglich, mit Schülerinnen und Schülern zum Thema Antisemitismus zu arbeiten und dabei gleich noch ganze Gemeinden zum Nachdenken zu bringen? Die Amadeu Antonio Stiftung erreicht genau dies mit dem Ausstellungsprojekt „Antisemitismus in der DDR“. Und die Ergebnisse zeigen: Das Thema bringt viel in Bewegung.

Von Simone Rafael

Erik grinst und sagt: „Ich habe grundsätzlich ein Faible für Terrorismus.“ Dann erklärt der Schüler aus Berlin: „Ich brauchte eine Thema für meine Facharbeit und fand grundsätzlich interessant, mich einmal mit Antisemitismus im Alltag auseinanderzusetzen. ‚Du Jude’ ist ja heute auf jedem Schulhof ein gängiges Schimpfwort.“ Dank des Themas „Terrorunterstützung durch die DDR“ entschied sich der 19-Jährige endgültig für ein ungewöhnliches Projekt, das die Amadeu Antonio Stiftung ins Leben gerufen hat. Die Berliner Stiftung, die sich seit Jahren gegen Antisemitismus engagiert, erstellt derzeit eine Ausstellung, die mehrere Aufgaben gleichzeitig erfüllt. Sie beschäftigt sich mit einem Thema, das selbst in Fachkreisen wenig diskutiert wird. Sie aktiviert Schülerinnen und Schüler, sich kompetent mit Antisemitismus und Lokalgeschichte auseinanderzusetzen. Und sie bringt dabei Leben in ein Thema, das erstaunlich viele Menschen verdrängen.

75 Schülerinnen und Schüler erarbeiten ein schwieriges Thema
Projektleiterin Heike Radvan erläutert: „In den neuen Bundesländern gab und gibt es wenig Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Stattdessen dominiert oft noch die DDR-Haltung zur deutschen Geschichte: Wir waren doch die Antifaschisten, also gab es bei uns auch keinen Antisemitismus.“ Deshalb suchte die Amadeu Antonio Stiftung einen Weg, um die Diskussion vor Ort in Gang zu bringen. Es entstand die Idee, mit Schülerinnen und Schülern zum Thema „Antisemitismus in der DDR“ zu arbeiten. Da viele Schüler zum Abitur eine Facharbeit schreiben müssen, bot es sich an, den Jugendlichen ein Coaching zum Thema anzubieten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Facharbeit über einen Teilaspekt schreiben zu lassen. Mit Hilfe von Projektpartnern und Koordinatoren vor Ort entstand in jedem der neuen Bundesländer eine Jugendgruppe, die Fallstudien zu Antisemitismus in der DDR bearbeiteten. Insgesamt 75 Jugendliche sind an dem Projekt beteiligt. Das Projekt wurde finanziert durch das Bundesprogramm „CIVITAS - initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“ und durch die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Begleitet wurde das Projekt von einem wissenschaftlichen Fachbeirat.

Nach einer Einführung ins Thema über Workshops, Zeitzeugengesprächen und Archivarbeit recherchierten die Jugendlichen vor Ort: Wie hat unsere Stadt aufgearbeitet, das hier das Todesgas der Konzentrationslager produziert wurde? Was geschah wann mit dem jüdischen Friedhof in unserer Stadt? „In Hagenow brachte das einen richtigen Prozess in Gang“, berichtet Heike Radvan. „Die Jugendlichen liefen von Tür zu Tür und fragten jeden: Könnt Ihr Euch erinnern? Sie fanden nicht nur heraus, dass der jüdische Friedhof 1959 verkauft und von der Stadt in eine Autowaschanlage umfunktioniert worden war. Sie fanden sogar einen Grabstein, den ein Nachbar als Türschwelle eingebaut hatte.“ Eine neue Erkenntnis, die sogar die Lokalzeitung berichten ließ.

Ungläubigkeit bei den Eltern
Schüler Erik gehört zur Berliner Gruppe, die sich unter anderem mit der Medienberichterstattung zum Nahost-Konflikt im DDR-Fernsehen, der Instrumentalisierung jüdischer Gemeinden durch die DDR-Führung und eben der Terrorunterstützung der DDR auseinandersetzte. Er erlebte – wie alle beteiligten Schüler -, das die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der DDR kein leicht zu bearbeitendes Feld ist. Erik stieß auf Widerstände: „Der Abitur-Koordinator an unserer Schule meinte, das Thema gäbe es doch gar nicht. Auch mein Vater wollte kaum glauben, was wir im Laufe der Zeit erarbeitet haben.“ Erik ließ sich davon allerdings nicht beirren: „Natürlich hätte ich auch eine Facharbeit über die Braunsche Röhre schreiben können, aber das würde keinem was bringen. Ich wollte etwas Sinnvolles machen.“

Und dies geschieht mit den Texten der Schülerinnen und Schüler. Die Amadeu Antonio Stiftung hat sie mit einer Ausstellungsmacherin überarbeitet und in eine Schau mit derzeit 31 Tafeln, einen Lesetisch und zwei Fernsehstationen umgesetzt. Die Wanderausstellung ist im April 2007 im Berliner Roten Rathaus eröffnet worden und tourt nun durch die Städte, in denen sie erarbeitet wurde – und alle Städte, die sich für das Thema interessieren und sie bei der Stiftung ausleihen. Perspektivisch soll außerdem ein Reader erarbeitet werden, der das erstellte Material für Lehrer und Pädagoginnen verfügbar machen soll. Außerdem ist ein Katalog geplant. Für Erik hat sich die Arbeit definitiv jetzt schon gelohnt: „Durch die Auseinandersetzung kann ich jetzt differenzieren, verstehe internationale Zusammenhänge besser und kann Leuten etwas entgegen setzen, die in Schubladen denken.“

Mehr zur Projektarbeit gegen Antisemitismus:
www.projekte-gegen-antisemitismus.de

Mehr zur Amadeu Antonio Stiftung:
www.amadeu-antonio-stiftung.de

© www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 25.01.2007