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Neustadt/Orla: Mit Kreativität gegen kahle Köpfe

Der Marktplatz voller Rechtsextremer, die Erwachsenen schauen weg - für die demokratischen Jugendlichen in Neustadt / Orla war die Situation 2000 nicht mehr zu ertragen. Inzwischen haben sie nicht nur die Stadtmitte zurückerobert: Mit Kreativität machen sie Rassismus wie Demokratie erfahrbar.

Glatze? Naja, macht nix... Schlimm ist aber, wenn jemand sein Denken rasiert hat. Und aus dem kahlen Rest eine „nationale“ Ideologie macht. Um dann eine Kahl-Kopf-Hegemonie durchprügeln zu wollen. Und zum Haare raufen ist ebenso: Viele sehen weg. – Wir wollten das nicht mehr hinnehmen. Uns hat es irgendwann gereicht. Kreativität rein ins schöne Orlatal!

Die Angebote der Initiative „N.O. – für ein gewaltfreies Miteinander“ im Rahmen der Jugendprojektwerkstätten (kurz: Prowe) wenden sich vornehmlich an Jugendliche. Der Ansatz lautet: Partizipation, das Einbringen eigener Interessen, Entwickeln eigener Praxis-Ansätze durch die Mitwirkenden. Schwerpunkte sind neben der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Vorfällen die Bemühungen um aktive Prävention: Arbeit an und mit Schulen, interkulturelle Begegnungen, regionale Netzwerkbestrebungen und die Etablierung einer humanen Gegenkultur: „Lieber bunt und rund - statt rechter Winkel!“


Der Marktplatz wird für die Demokratie
zurückerobert


Begonnen hat die Jugend-Initiative im November 2000 mit einem Aktionstag, der Podiumsdiskussion, Friedensgebet und eine Menschenkette auf dem Marktplatz umfasste. Symbolisch wurde der Marktplatz, der damals als „national befreite Zone“ galt, in die Stadt zurückgeholt. Es folgten eine Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen, unter anderem mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Die Eröffnung der Hip-Hop-Tour gegen rechte Gewalt in Kooperation mit der Aktion „Mut gegen rechte Gewalt“ des stern und der Amadeu Antonio Stiftung war Anfang 2001 zugleich der Start für eine Reihe von Veranstaltungen einer Gegenkultur – mit Autoren-Lesungen, Konzerten, Filmen und Live-Events.

Um viele Menschen in das Projekt miteinzubinden, steht der kreative Mitmachaspekt im Vordergrund. Hier wurden viele verschiedenen Formen auspropiert: Kunstprojekte, Aktionsnächte, Politico Sportivo und Jugendforen wurden von und mit Schülern und Jugendlichen organisiert. Wesentlicher Bestandteil der Arbeit ist die Unterstützung von Migrantinnen und Asylbewerbern vor Ort. 


Im Prowe-Café werden Ideen entwickelt

Das Projekt
Die Initiative „N.O. – für ein gewaltfreies Miteinander“ arbeitet in Neustadt an der Orla, einer Stadt in Südostthüringen mit 9.000 Einwohnern, und in der Region. „N.O.“ wirde Mitte 2000 gegründet. Damals waren die meisten Mitglieder zwischen 15 und 18 Jahren alt. 2001 wurden von „N.O.“ die „Jugendprojektwerkstätten ‚Prowe’“ initiiert, welche die „Initiative für ein gewaltfreies Triptis“ mit einschließen. Die Prowe wird durch das Bundesprogramm „CIVITAS – Initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“ gefördert. Die Jugendprojektwerkstätten bilden den Rahmen für Einzelprojekte, in denen weitere Personen ehrenamtlich arbeiten. Was alle verbindet, ist der Anspruch: „Informieren, argumentieren, zum Mitmachen bewegen!

Warum?
Begründet wurde „N.O. – für ein gewaltfreies Miteinander“, als es in kürzester Zeit vermehrt zu Vorfällen rechtsextremer Gewalt kam, welche einige der Jugendlichen am eigenen Leibe erfahren mussten, und ein Klima der zunehmenden Bedrohung im öffentlichen Raum entstand. Einmischen, durchhalten, weiterkommen – so lassen sich die bisherigen Jahre der Initiativarbeit zusammenfassen.

Die Region
Im Orlatal in Thüringen ist der Rechtsextremismus latent immer vorhanden, auch gewaltsame Angriffe passieren. Es gibt einen festen Stamm organisierter Neonazis - Kameradschaftler, NPD-Kader, Jungsturmkinder. Periodisch fällt „vagabundierendes Nazitum“ ein, Dutzende von Personen rotten sich zusammen. Mehrfach fanden Übergriffe und Ausschreitungen am Rande von Konzerten rechter Bands statt. Nazigegröle und Bedrohungssituationen sind an bestimmten Orten an der Tagesordnung. Auch Rassismus findet man oft - dassAsylbewerber an der Ladenkasse ans Ende der Warteschlange beordert werden, ein dunkelhäutiger Schüler zum Hitlergruß gezwungen wird, Migranten die Scheiben eingeworfen werden. Jüngst zeigte sich im Verlaufe der von „N.O.“ initiierten Ausstellung “Demokratie als Prozess”,  wie wichtig und zugleich mühsam es nach wie vor ist, gegen rechtsextremistisch motivierte Gewalt Zeichen zu setzen: die Hälfte der Kunstwerke wurde verwüstet, eines völlig zerstört, der Ausstellungsladen in Neustadt/O. wurde mehrfach angegriffen. Hakenkreuze und SS-Runen ließen keinen Zweifel am Täterkreis. Andererseits ist es „N.O.“ gelungen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf rechtsextreme Umtriebe zu lenken und in der Jugendarbeit Problemwahrnehmungen und Handlungsansätze zu verankern. „N.O.“ und die Prowe sind wichtige Anlaufstellen für engagierte Menschen.


Aus der Ausstellung "Demokratie als Prozess":
Ulrich Gebert ließ AutofahrerInnen mit Werten
dieser Gesellschaft auf der Heckscheibe herum-
fahren: Leistung, Wohlstand, Karriere.


Ziele
Sozialcourage! Dass heißt, problematische Situationen nicht einfach hinzunehmen, sondern Fragen zu stellen und Antworten zu suchen, die Aktivität freisetzen. Werkstattarbeit ist dabei mehr als „Sitzen und Reden“: Am Ende soll ein „Werk“ stehen, eine öffentliche Positionierung, ein sichtbares Ergebnis.
Engagement! Die Prowe setzt auf Ideenketten, auf Ansätze, die Lust darauf machen, produktiv zu werden. Gemeinsam werden Präsentationen erdacht und gebaut, dann Durchführung oder Moderation geübt, schließlich das Konzept miteinander in öffentlichen Veranstaltungen umgesetzt.
Mitmachen! Demokratische und tolerante Kultur muss sich immer wieder im Alltag entwickeln. Dafür bietet die Prowe Projekte in Schulclubs, in Jugendhäusern, im Musikcafe und in Vereinshäusern an. So können kooperative Netzwerke etabliert werden.

Das Ziel: Die Engagierten stärken, die Unentschlossenen gewinnen und den „rechten Rand“ auflockern!


Misch Dich ein!

Beispielhafte Erfolge
- Argumente gegen Stammtischparolen plastisch präsentiert: Im Projekt „Doors – Schlag die Tür nicht zu“ zur Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus an Schulen haben die Jugendlichen gespendete Türen bunt bemalt, die Aussagen angebracht und die Türen auf Schulhöfen aufgestellt, ergänzt durch Ad-Hoc-Aktionen zum Mitmachen. Das Projekt konnte viele Diskussionen in Gang setzten.

- Die Alltagswelt von Asylbewerbern begreifen und verändern: Im Jahr 2002 hat die Initiative „N.O.“ein Stationenspiel entwickelt, das den Mitspielern und Mitspielerinnen „Alltagssituationen von `Asylanten´“ aus deren Perspektive annäherungsweise erleben ließ. Ein Jahr später bauten die Jugendlichen ein Kinderspielhauses an der örtlichen Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber und –bewerberinnen: Zumindest eine kleine positive Veränderung der Lebensbedingungen für die betroffenen Kinder.


Ich bau Dir ein Schloss: Die "Prowe Tool Time"
baut ein Spielhaus für die Kinder im Asylbewerberheim

- Im kommunalen Raum am Thema Rechtsextremismus arbeiten: Sehr erfolgreich gelang das Mitte 2003 in Neustadt/O. und Triptis mit dem Projekt „Demokratie als Prozess“. In Kooperation mit Studierenden der HGB in Leipzig entstanden sechs künstlerische Arbeiten im öffentlichen Raum, begleitet von einem dreiwöchigen Rahmenprogramm. „Demokratie als Prozess“ wurde unterstützt von den Städten, vielen Instutionen und mehr als einem Dutzend Unternehmen in der Region, die z.T. Patenschaften für einzelne Werke übernommen hatten.

Anerkennung
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz hat im Jahr 2001 die Initiative N.O. als „Botschafter der Toleranz“ für ihre Bemühungen um Demokratie, Toleranz und die praktizierte Sozialcourage ausgezeichnet.

Die Zukunft
Derzeit baut die Initiative „N.O.“ einen Freundes- und Unterstützerkreis für Asylbewerberinnen und Migranten, der helfen soll, vor Ort die Lebensbedingungen praktisch zu verbessern. Die Resonanz ist gut. Es bedarf jedoch noch der Unterstützung, um Sprachkurse und kostenfreie rechtliche Beratungsmöglichkeiten anbieten zu können.

Außerdem geplant ist ein "Prowe Info Café mobil",  ein mobiler Info-Café-Stand, mit dem direkter auf Zielgruppen zugegangen werden kann und der Informationen, Kurzworkshops und eine gute Atmosphäre bieten soll.

Ein „HOT-Spots“-Netzwerk soll die Arbeit an und mit Jugendeinrichtungen durch einen dezentralen Info-Pool mit Kontaktbörse und Veranstaltungen verstärken.



Die Initiative N.O. - für eine gewaltfreiese Miteinander erreichen:
info@gewaltfreimiteinander.de

Mehr im Internet:
www.gewaltfreimiteinander.de

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