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Berlin: Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen

Was hieß das eigentlich praktisch, Antisemitismus in der Nazizeit? Das Projekt Miphgasch/Begegnung e.V. aus Berlin regt Jugendliche an, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen und Stellung zu beziehen. Foto: Fahrende Ausstellung in der Berliner S-Bahn.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ (Wilhelm von Humboldt)
Gemäß diesem Ausspruch gehört es zu den wichtigsten Zielen des Vereins Miphgasch/Begegnung e.V., junge Menschen in Deutschland anzuregen, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen und dabei die Geschichte des Landes nicht aus den Augen zu verlieren.

Was macht Miphgasch?
Die Jugendgeschichtswerkstatt des gemeinnützigen Vereins Miphgasch / Begegnung e.V. initiiert Projekte und Aktionen an zentralen Straßen und öffentlichen Plätzen sowie in der Berliner S-Bahn. In diesen Projekten setzen sich Jugendliche eigenverantwortlich mit der Diskriminierung von Juden zwischen 1933 und 1945 sowie mit aktuellen Formen von Diskriminierung auseinandersetzen.


Sieht aus wie ein normaler Berliner S-Bahn-Waggon...

Die Jugendgeschichtswerkstatt bietet außerdem Projekttage zu den Themen Nationalsozialismus, Rassismus, Toleranz und Zivilcourage an. Anhand einer von Jugendlichen erstellten Wanderausstellung und weiterer Materialien werden die Themen mit Schulklassen oder Gruppen behandelt. Dadurch wird gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht nur eine Sache für Historiker ist, sondern dass jeder sich in das Thema einarbeiten kann – Jugendliche wie Erwachsene.


...ist ja auch einer. Nur diesmal ist noch eine Ausstellung drin.

Ein besonders wichtiger Bestandteil der Arbeit der Jugendgeschichtswerkstatt sind außerdem Begegnungen mit Zeitzeugen. Exemplarisch sei hier über zwei Wochen im Juni 2003 berichtet: Die Jugendgeschichtswerkstatt hatte den in Haifa / Israel lebenden Zeitzeugen Thomas Geve eingeladen, Berliner Schülerinnen und Schülern seine Geschichte zu erzählen. Thomas Geve war vor sechzig Jahren zusammen mit seiner Mutter als 13-jähriger Junge aus Berlin nach Auschwitz deportiert worden und hatte nach seiner Befreiung aus dem Lager Buchenwald Bilder gemalt, die die Schrecken des Lageralltags dokumentieren. Während des Besuchs konnten Repliken der Zeichnungen in einer Kirche in Berlin gezeigt werden. Thomas Geve führte täglich mehrere Schulklassen durch diese Ausstellung und erklärte seine Bilder. In den 14 Tagen seines Aufenthaltes in Berlin erreichte die Jugendgeschichtswerkstatt so ca. 510 Zuhörerinnen und Zuhörer, überwiegend Jugendliche zwischen 13 und19 Jahren. Für die Schüler war es besonders spannend, mehr über den Alltag in den Lagern zu erfahren. Bemerkenswert war, dass Thomas Geve sehr wenig über seine persönlichen Gefühle sprach. Dies sagt viel darüber aus, wie schwer es ihm auch heute noch fällt, über seine Erfahrungen zu reden, und wie anerkennenswert es um so mehr ist, dass er dennoch hierher kam, um mit Jugendlichen zu reden.

Das Projekt
Die Jugendgeschichtswerkstatt ist ein Projekt des gemeinnützigen Vereins Miphgasch/Begegnung e.V. und existiert seit nunmehr sechs Jahren. Hier engagieren sich Jugendliche und Erwachsene ehrenamtlich in der politischen Bildungsarbeit im Freizeitbereich. Das Team von Miphgasch e.V. kümmert sich um die Durchführung von Projekttagen an Schulen und Bildungseinrichtungen.

Die Region
Bei den Aktionen im öffentlichen Raum sowie bei den Projekttagen in den Schulen werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendgeschichtswerkstatt immer wieder mit Vorurteilen gegenüber Ausländern und Juden konfrontiert. Nicht selten wird dabei die moralische, manchmal auch die aktive Unterstützung rechtsextremer Gruppierungen oder Ideologien zum Ausdruck gebracht. Diesen Vorurteilen begegnen die Aktiven in sämtlichen Bevölkerungsschichten und Generationen, oft auch an Orten oder bei Gruppen, bei denen man das nicht erwartet. Der klassische Satz: „Ich habe ja nichts gegen..., aber...“ gehört in weiten Kreisen zum festen Repertoire.

Die Ziele
Mit ihren Projekten möchte die Jugendgeschichtswerkstatt einen Beitrag dazu leisten, weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber Ausländern und Juden entgegenzuwirken. Sie ist also vorwiegend im präventiven Bereich tätig. Den Aktiven ist es wichtig, verhärtete Vorurteilsmuster argumentativ aufzubrechen, zum Nach- und Überdenken alteingesessener Standpunkte anzuregen und Menschen dazu zu bringen, andere als Menschen mit ihrem jeweils individuellen Recht auf Schwächen und Stärken wahrzunehmen.


Manche Leute befassen sich mit der
fahrenden Ausstellung , andere lesen
Zeitung wie immer

Beispielhafte Erfolge
Die „Fahrende Ausstellung“ in der Berliner S-Bahn
Die „Fahrenden Ausstellung“ wurde von den Jugendlichen der Jugendgeschichtswerkstatt erarbeitet und informiert über ein Gesetz, das Juden ab 1942 die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel untersagte sowie über weitere Gesetze, die dazu dienten, die Bewegungsfreiheit von Juden einzuschränken.

Entscheidend für die Wirksamkeit dieser Ausstellung ist ihr Ausstellungsort: Sie ist einmal jährlich in einem regulären S-Bahn-Zug auf dem Berliner S-Bahn-Netz unterwegs und wird durch diverse Programmpunkte, die von den Jugendlichen gestaltet werden, zu einer Aktion. Teil des Programms sind Theaterszenen, die in Zusammenarbeit mit dem „Theater der Erfahrungen“, entwickelt wurden, Gespräche mit Zeitzeugen oder Prominenten und von den Jugendlichen gestaltete Beiträge in Form von Texten und Liedern.


Aktion im S-Bahn-Wagen

Die „Fahrende Ausstellung“ bietet die Möglichkeit, ein breites Publikum zu erreichen, auch viele, die sonst nicht in eine solche Ausstellung kommen würden. Entsprechend vielfältig sind die Reaktionen der Fahrgäste. Ein Teil sitzt in der Bahn und liest Zeitung, als sei alles wie immer. Viele würdigen die Aktion und sind dankbar für das Engagement und die Informationen. Aber es gibt auch Leute, die immer wieder betonen, man solle nun endlich einen Schlussstrich ziehen, die Juden seien ja auch Täter, und den Holocaust nutzten sie eh nur zu ihrem wirtschaftlichen Vorteil aus und so weiter. Besonders letztgenannte Reaktionen bestärken uns jedes Jahr aufs Neue, die Aktion immer wieder durchzuführen, um in den zahlreichen Gesprächen doch den einen oder anderen zum Nachdenken anzuregen oder wenigstens deutlich zu machen, dass wir nicht bereit sind, diese Behauptungen unwidersprochen gelten zu lassen.

Anerkennungen
Im Jahr 2001 ist die Jugendgeschichtswerkstatt vom Bundesinnen- und Bundesjustizministerium mit dem Titel „Botschafter für Toleranz“ ausgezeichnet worden – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die engagierten Jugendlichen auch nach einem Brandanschlag entmutigen ließen, der ihr ursprüngliches Domizil, einen ausrangierten S-Bahn-Wagen in Berlin – Kreuzberg zerstörte, sondern ihre Arbeit fortsetzten.

Mit einigen Kooperationspartnern arbeitet die Jugendgeschichtswerkstatt bereits seit mehreren Jahre zusammen – etwa dem Theater der Erfahrungen, der S-Bahn Berlin GmbH, dem AK-Stadterkundungen im Landesjugendring Berlin.

Im Jahr 2003 feierte die Jugendgeschichtswerkstatt ihr fünfjähriges Bestehen. Auch in Zukunft möchten die Engagierten sowohl die bewährten Formen, die S-Bahn-Aktion und die Projekttage, fortführen, wie auch immer neue Projekte mit Jugendlichen machen, die sich in ihrer Freizeit engagieren möchten. Die Themenschwerpunkte werden von den Jugendlichen selber bestimmt.

Besonders liegt den Engagierten die Fortsetzung und Weiterentwicklung der Projekttage und Zeitzeugenveranstaltungen am Herzen. Im Jahr 2003 wurde die Zielgruppe für die Projekttage auf jüngere Schüler aus der 5. und 6. Klasse erweitert. Künftig sollen z.B. Methoden der Vermittlung des Holocaust in Schulklassen mit hohem Anteil an Schülern arabischer bzw. islamischer Herkunft entwickelt werden. Der Bedarf hierfür ist nicht nur in Berlin groß, Lösungsansätze sind bisher kaum bekannt.

Auch bei der Vermittlung des Themas Holocaust ist eine Weiterentwicklung des Programms dringend erforderlich. Die jüdische Geschichte und Religion ist in ihrer Gesamtheit zu betrachten, um antisemitischen Stereotypen besser entgegenwirken zu können.

Außerdem soll es Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Schülerinnen und Schülern geben, die dazu beitragen, dass Flüchtlinge nicht als „Asylanten“, sondern als Menschen wahrgenommen werden.

Miphgasch / Begegnung e.V. wird gefördert durch das Bundesprogramm "CIVITAS – Initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländer“.


Miphgasch / Begegnung e.V. erreichen:
E-Mail: miphgasch@gmx.de

Mehr im Internet:
www.miphgasch.de

© mut-gegen-rechte-gewalt.de

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Fahrende Ausstellung von Miphgasch in der Berliner S-Bahn