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Hoyerswerda: Die Ideenagentur

Wenn es um Konzepte gegen Rechtsextremismus sucht, ist die RAA Sachsen, Geschäftsstelle Hoyerswerda, die kreative Schnittstelle in ihrer Stadt. Sie betreit demokratische Basisarbeit, um Jugendliche und junge Erwachsene so stark zu machen, dass sie Neonazismus erst gar nicht interessiert. Die Erfolge lassen sich sehen.

1991 war Helga Nickich Lehrerin in Hoyerswerda. Sie lebte in der sächsischen Stadt, seit sie mit 13 Jahren mit ihren Eltern aus Tschechien in die DDR eingewandert war, weil es hier Arbeit gab. Hoyerswerda war zu DDR-Zeiten berühmt für seinen Braunkohlenbergbau. Davon war allerdings Anfang der 1990er Jahre nicht mehr viel zu spüren. Die Existenzangst ging um, Arbeitsplätze wurden allenthalben abgebaut. Im September 1991 entlud sich zwischen den Plattenbauten der Neutstadt der mit Zukunftsangst angereicherte Rassismus auf brutalste Weise: Neonazis machten tagelang Jagd auf vietnamesische Händler, auf mosambikanische Vertragsarbeiter und die Bewohner eines Asylbewerberheims. Die Anwohner standen auf den Straßen Spalier und applaudierten den Rechtsextremen. Innerhalb von drei Tagen „erwarb“ sich die Stadt Symbolcharakter als prototypische rechtsextreme ostdeutsche Stadt.

„Keiner möchte, dass sich das wiederholt“
Helga Nickich hat der Rechtsextremismus damals nicht überrascht – „es gab Anzeichen, die aber allzu gern von allen übersehen wurden“ –, dafür aber die Heftigkeit des Pogroms. „Ich selbst war vorher nie in diesem Wohngebiet, habe von den Spannungen vor Ort nichts mitbekommen“, sagt sie heute, „es waren nicht alle Rechtsextreme am Straßenrand, aber es waren Menschen, die sich nicht zu helfen wussten.“ Sie macht eine Pause und sagt: „Aber die Menschen hier haben eine Lehre daraus gezogen. Keiner möchte, dass sich das wiederholt.“


Helga Nickich, RAA Sachsen,
Geschäftsstelle Hoyerswerda


Das liegt auch an Helga Nickich. Sie ist eine zupackende Person. Deshalb war ihr sofort klar, dass sie handeln wollte gegen den Rechtsextremismus in ihrer Stadt und den Rassismus, der offenbar in so vielen Köpfen steckte. Sie machte sich auf die Suche nach Konzepten gegen Rechtsextremismus und für Demokratie und fand sie im Netzwerk der Regionalen Arbeitsstellen RAA, die deutschlandweit Konzepte an Schulen bringen, die ein Gefühl vermitteln von Mitbestimmung, demokratischer Kultur, vom Schutz von Minderheiten. Nickich suchte sich Mitstreiter und gründete 1993 die RAA Hoyerswerda, die Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Demokratie und Lebensperspektiven.

„Man braucht ein positives Motto“
Heute ist die RAA Hoyerswerda, die nach einer Zusammenlegung RAA Sachsen heißt, eines der Vorzeigeprojekte gegen Rechtsextremismus der Stadt, gerade weil ihre Akteure oft den „Umweg“ über Demokratiearbeit wählen, um Neonazismus und Rassismus aus den Köpfen zu vertreiben. „Es ist absurd, aber in Hoyerswerda – und auch in ganz Sachsen – ist es immer noch schwierig, etwas explizit ‚gegen Rechtsextremismus’ zu tun. Man braucht ein positives Motto“, sagt sie. Darin sind Nickich und ihre Kollegen inzwischen allerdings so geübt, dass es ihnen kein Kopfzerbrechen mehr bereitet. Außerdem ist die präventive Arbeit auch ihr erklärtes Ziel. Inzwischen ist die RAA der Mittelpunkt eines großen Netzwerks von Engagierten vor Ort, die Erfahrungen austauschen, zusammen arbeiten und sich gegenseitig stützen, wenn es hart wird. Die Stadt gehört genauso dazu wie die örtlichen Jugendsozialarbeiter und Mitgranteninitiativen.

Mitsprache und neue Erfahrungen
Wenn Helga Nickich, die heute Leiterin der RAA Sachsen - Geschäftstelle Hoyerswerda, ist, in ihrem kleinen Büro in einem Gymnasium im Meer der Plattenbauten der Neustadt über ihre Projekte spricht, beeindruckt nicht nur ihr Enthusiasmus, sondern vor allem die Fülle an Ideen und Aktionen, mit denen die RAA Hoyerswerda ihre Arbeitsbereiche wie Demokratie und Toleranz, historisch-politische Bildung oder Jugendliche zwischen Schule und Beruf umsetzt. Als Peer Leader werden jugendliche Meinungsführer in Schulen fit gemacht, um rechtsextremen Umtrieben entgegen treten zu können. In Schülerclubs und Schülerfirmen können Jugendliche praktisch erproben, was Mitsprache und Verantwortung für Vorteile mit sich bringen können. Begegnungsprojekte mit Menschen aus Tschechien, Polen und Ungarn tragen auf verschiedensten Ebenen dazu bei, Vorurteile abzubauen – als Spiel bei den kleineren Kindern, als multikulturelle Studienwochen bei den Oberschülern, oder als gemeinsame Arbeitsprojekte, wenn es um Azubis geht.

Am Beginn steht demokratische Basisarbeit
Im benachbarten Bernsdorf betreibt die RAA ein Mehrgenerationenhaus, seit dort ein Vietnamese einen deutschen Jugendlichen erstach und daraufhin rechtes Gedankengut offen nach außen getragen wurde. Es beinhaltet Basisangebote für die 12.000-Einwohner-Gemeinde. Hier haben ein Jugendtreff, der Jugendsenat und der Spätaussiedlerverein ihr Zuhause, es gibt Angebote des Jobcenters für junge Frauen mit Kindern („Wir haben erst mal eine Kinderbetreuung eingerichtet, wie soll sich denn eine Frau mit Krabbe am Bein in Ruhe über Arbeitsangebote informieren?“), außerdem ein Café mit Gesprächsangebot für Lehrlinge („Eine schwierige Altersgruppe, an die man sonst kaum noch rankommt“) und PC-Kurse für Senioren. Und manchmal kommen die Generationen auch zusammen, wenn Senioren in Schulen gehen, um in Workshops rechtsextreme Stammtischparolen zu entkräften.


Die Neustadt in Hoyerswerda

Fit sein für’s Leben will trainiert sein
Ein Thema, dass die RAA bei alle dem umtreibt, ist es Jugendliche demokratisch fit zu machen, ihnen Lebensperspektiven zu eröffnen, ihnen Achtung und Respekt gegenüber anderen zu vermitteln, überhaupt Normen und Werte, außerdem Selbstvertrauen und soziale Kompetenz und sie so stark zu machen gegenüber Rechtsextremismus, Alkohol und Drogen. Das es nicht mehr selbstverständlich ist, dass die Kinder diese Werte von zu Hause mitbekommen, hat die Stadt Hoyerswerda zum Handeln bewogen: Es gibt hier jetzt ein einzigartiges Konzept, dass „Fit für’s Leben“ heißt und ein „Handlungs- und Entwicklungskonzept für den Übergang von der Jugend in das Erwachsenenleben“ sein möchte, in dem alle Institutionen und Stellen zusammen arbeiten sollen, die mit jungen Erwachsenen zu tun haben. Arbeitsbereiche heißen hier etwa „Lernstoff als lebenswichtig erfahren und erwerben“, „schwierige Probleme bewältigen können“, „sich praxisorientiert mit der (Arbeits-) Welt auseinandersetzen“, „Eigenverantwortung erproben“, „sozialen Zusammenhalt als positiv erleben, Zielgruppe sind Kinder vom Vorschulalter bis zu Jugendlichen in der Berufsausbildung. Die RAA fungiert als Koordinierungsstelle der zahlreichen Aktivitäten, die darunter fallen.
„Lernstoff als lebenswichtig erfahren und erwerben“ können die Kinder und Jugendlichen dann etwa in der Kinderuniversität der RAA, beim Zooschulen-Unterricht der Kinder- und Jugendfarm, in der Kinder- und Jugendgalerie der Kulturfabrik Hoyerswerda, durch Projektarbeit von Caritas oder des Diakonischem Werk oder Berufsvorbereitung im Jugendclub „Laden“ des Internationalen Bundes.

„Breit machen“
Die „Ideenagentur“ RAA hat in Hoyerswerda die Kreativität einer ganze Stadt und ihrer Initiativen beflügelt. Aber wie sieht es mit der rechtsextremen Szene aus? Die, sagt Helga Nickich, ist in der Defensive. Statt offenen Ballungen rechtsextremer Gruppen agitieren noch rund 20, 30 Rechtextreme im Verborgenen. Die örtliche Kameradschaft umfasst nur noch 13 Mitglieder. Leider beeindrucken diese paar Mann viele Bürgern in Hoyerswerda immer noch, „die zwar zu multikulturellen ‚Weltenfesten’ kommen, aber sich nicht trauen, sich offen gegen Rechtsextremismus zu positionieren“. Helga Nickich ärgert das, aber sie arbeitet dran. Sie sagt: „Ich werde das Problem Rechtsextremismus hier nicht lösen, da gebe ich mich keiner Illusion mehr hin. Aber wenn wir uns breitmachen, haben die weniger Platz. Wir haben schon viel erreicht, wenn die Jugendlichen jetzt zu uns kommen, nicht zu denen.“

Kontakt:
RAA Sachsen e.V.
Geschäftsstelle Hoyerswerda
Straße des Friedens 27
02977 Hoyerswerda
Tel.: 03571 / 416072
Email: kontakt@raa-hoyerswerda.com
www.raa-hoyerswerda.com

© www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 23.07.2007

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Eingang zur RAA Sachsen mit Schüler-Graffito: \"Good Night White Pride\"