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Rostock: NS-Geschichte fassbar machen

Die Geschichtswerkstatt Rostock regt Jugendliche in Mecklenburg-Vorpommern an, vor Ort über die NS-Zeit zu recherchieren – und vermittelt ihnen dabei, dass neonazistische Ideologie nie wieder Einfluss erlangen darf. Die Ergebnisse bilden die Ausstellung "Zwangsarbeit im Ostseeraum 1939-45".

Von Simone Rafael

Die Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke in Rostock gehörten zu den ersten Firmen, die zur NS-Zeit Zwangsarbeiter einsetzten, über zehntausend insgesamt. Wenn Rostocker heute darüber sprechen, fügen sie gern hinzu, dass aber die Heinkel-Werke die Zwangsarbeiter ja sogar besser versorgt hätten, als sie es gemusst hätten. Reno Stutz von der Geschichtswerkstatt Rostock weiß, dass Schüler das von ihren Großeltern oder Eltern hören. „Aber sie hören nichts über die Umstände – dass dies nicht aus Menschlichkeit geschah, sondern damit die Zahl der produzierten Bomber stimmte.“


Das Bürgerhaus der Geschichts-
werkstatt in der Kröpeliner-Tor-
Vorstadt in Rostock


Anregung gegen Pauschalisierung
Zu einer differenzierten Betrachtung von Geschichte will die Geschichtswerkstatt Rostock anregen. Die rund 25 Mitglieder des Vereins betreiben in Rostock ein Bürgerhaus und sind vor allem zur Regionalgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns aktiv – unter anderem mit Stadtrundgängen und einer eigenen Zeitschrift, Forschungsprojekten und Lehrerweiterbildungen.

Schüler stark machen
Mit dem Ausstellungsprojekt „Zwangsarbeit im Ostseeraum 1939-45“ wenden sich die Aktiven an Schülerinnen und Schüler. In Mecklenburg-Vorpommern sind in vielen Regionen rechtsextreme Einstellungen gerade unter Jugendlichen weit verbreitet, werden aber auch gesellschaftlich wenig geächtet. „Da ist es besonders wichtig, dass wir den Kindern zeigen: Es gibt andere Meinungen, andere Denkstrukturen, eine andere Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, als sie es im Umfeld erleben“, sagt Reno Stutz.

Stutz ist Germanist und Historiker und betreut das Projekt. Gestartet ist es im Jahr 2002 an fünf Schulen in Mecklenburg-Vorpommern. Pro Jahr kommen drei neue Schulen dazu. Die Idee hinter dem Projekt: Jugendlichen erforschen, was in ihrer Region während des Zweiten Weltkriegs geschah, erleben so Auswirkungen des Nationalsozialismus nach und entwickeln eine eigene, kritische Sichtweise. 


Reno Stutz leitet das Jugendprojekt
"Zwangsarbeit im Ostseeraum
1939-45"


Geschichte zum Anfassen
„Wir möchten Jugendliche begreifbar machen, dass Geschichte nichts Abstraktes ist, das irgendwo passiert“, erklärt Stutz. Zwangsarbeit gab es eben nicht nur bei der IG Farben oder bei Siemens, sondern deutschlandweit in Fabriken oder auf Bauernhöfen, in KZ-Außenlagern oder in wohlhabenden Familien als Hausmädchen. „Wenn die Jugendlichen in ihrer Stadt, in ihrem Dorf recherchieren, stellen sie schnell fest: Fast jeder hatte Kontakt mit Zwangsarbeitern“, sagt Stutz und fügt hinzu: „und sie sehen: Viele Zwangsarbeiter wurden sadistisch gequält und haben das oft noch schlimmer empfunden als die Behandlung im KZ, weil sie eben von Zivilisten misshandelt wurden. Andere wurden sehr anständig behandelt, zum Teil sind Kontakte entstanden, die bis heute gepflegt werden. Die Welt ist nicht eindimensional. Und die Menschen hatten eine Wahl, sich zu verhalten.“

Betonreste finden, Lebensgeschichten recherchieren
Praktisch läuft eine Projektstation so ab, dass die 14- bis 18-jährigen Schülerinnen und Schüler in Projekt- und Wahlpflichtkursen Informationen zu Zwangsarbeit in ihrer Region erarbeiten. Bei Kursen an Regionalschulen kommen praktische Recherchen gut an: Mit der Kamera unterwegs sein und Spuren suchen etwa, Betonreste oder Inschriften in den Sprachen der Zwangsarbeiter finden oder Produktionsanlagen lokalisieren und dann fotografieren, was dort heute steht. Gymnasiasten recherchieren auch im Stadtarchiv, sichten Briefe aus der NS-Zeit oder werten Erinnerungsberichte aus, die Zwangsarbeiter ihren Anträgen auf Entschädigung beilegten.

Die Mauer des Schweigens durchbrechen
Außerdem suchen die Jugendlichen Zeitzeugen aus ihrer Umgebung und befragen sie zu ihren Erinnerungen. „Oft stoßen sie natürlich auf eine Mauer des Schweigens“, berichtet Stutz, „aber trotzdem finden sie so viel heraus, dass die Menschen Historikern niemals erzählen würden.“ Manchmal ist es möglich, ehemalige Zwangsarbeiter ausfindig zu machen und einzuladen – eine besonders intensive Erfahrung, die jede pauschalisierte Sicht zunichte macht.


2005 wird die Geschichtswerk-
statt in ein Rostocker Wahr-
zeichen ziehen: Das mittelalter-
liche Kröpeliner Tor.

Aus den Erkenntnissen wird eine Ausstellung
Die Ergebnisse der Recherchen werden für Ausstellungstafeln aufgearbeitet. Inzwischen besteht „Zwangsarbeit im Ostseeraum 1939-45“  aus 31 Tafeln. „Das ist ein wesentlicher Teil des Projekterfolgs“, sagt Reno Stutz, „es gibt ein greifbares Ergebnis. Und die Jugendlichen erleben das Interesse an ihrer Arbeit.“ Seit 2002 tourt die Schau durch Schulen, Bibliotheken und Gedenkstätten. Und die Zahl der Anfragen – von Ausstellungsorten und Schulen - reißt nicht ab.

Und aus der Ausstellung ein Erfolg
Und was nehmen die Schülerinnen und Schüler aus der Arbeit mit? Reno Stutz lächelt bescheiden und sagt: „Messbar ist das natürlich nicht.“ Aber wenn er die Jugendlichen mit Feuereifer recherchieren sieht, wie sie Klingelzeichen überhören und Pausen durcharbeiten – eine Gruppe machte sogar in den großen Ferien weiter, obwohl das Projekt an ihrer Schule schon abgeschlossen war -, dann kann er es sehen: Bei diesen Jugendlichen hat das Projekt die Lust geweckt, sich ein eigenes Bild zu machen und sich nichts mehr pauschal erzählen lassen. Das sehen auch die Mitschüler, die nicht im Kurs waren. Und sie werden es hören, wenn Aussagen wie "Aber die Autobahnen waren doch in Ordnung" in Zukunft nicht mehr unhinterfragt bleiben.

Die Geschichtswerkstatt Rostock erreichen:
geschichtswerkstatt@buergerhaus-rostock.de
Geschichtswerkstatt Rostock e.V.
Im Kröppeliner Tor
18055 Rostock
Tel: 0381 / 121 64 15
Fax: 0381 / 121 64 13
www.geschichtswerkstatt-rostock.de

Die Ausstellung im Internet:
www.buergerhaus-rostock.de/seiten/start.html

© mut-gegen-rechte-gewalt.de - 25.11.2004