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Mehr als 100 Menschen waren bei der Tagung „Gibt es Extremismus?“ in Dresden. Wird der Begriff „Rechtsextremismus“ den Phänomenen diverser nazistischer, gewalttätiger, antidemokratischer und verfassungs- und grundrechtefeindlicher Tendenzen gerecht, war die Frage um die sich alles drehte.
Am 29. Januar 2010 fand in der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung die Tagung „Gibt es Extremismus“ mit mehr als 100 Teilnehmenden aus Vereinen, Ministerien, Landtagsfraktionen, Kommunalverwaltungen und Forschungseinrichtungen in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin statt. Die Veranstalter der Tagung waren unmittelbar nach Ende der Veranstaltung hochzufrieden mit dem breiten Echo der Veranstaltung und der seit langem notwendigen Diskussion darüber, ob der Begriff des „Rechtsextremismus“ und der ihn stützende theoretische Ansatz einiger wissenschaftlicher Einrichtungen der Vielfalt und Breite diverser nazistischer, gewalttätiger, antidemokratischer und verfassungs- und grundrechtefeindlicher Phänomene gerecht wird.
„Arbeit für demokratische Kultur wirksamer machen“
„Es war ermutigend zu spüren, dass die vielen, sehr verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer offensichtlich das gemeinsame Anliegen haben, in der Arbeit an demokratischer Kultur genauer und wirksamer zu werden“, sagt Grit Hanneforth vom Kulturbüro Sachsen.
Stefan Schönfelder von Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen ergänzt: „Nur wer eine nazistische Organisation, wer eine revanchistische Hetzrede, völkische Gesellschaftsbilder, ein antisemitisches Vorurteil, eine rassistisch motivierte Gewalttat als das bezeichnet was es ist, wird die angemessenen Mittel finden, wirksamer dagegen zu arbeiten. Die sogenannte Extremismustheorie behindert uns dabei mehr als sie hilft. Wer eine lebendige und konfliktfähige Demokratie unterstützen will, sollte den Extremismusbegriff eher meiden.“
Was sagt die Wissenschaft?
Die vom Kulturbüro Sachsen, Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung und Referat für Politische Bildung des StuRa der TU Dresden organisierte Tagung fand vor dem Hintergrund des in Sachsen entwickelten und besonders wirksamen Extremismusansatzes statt, der hier von den Politikwissenschaftlern Uwe Backes und Werner Patzelt in Dresden und Eckhard Jesse in Chemnitz vertreten wird.
Während der Extremismusansatz in den Sozialwissenschaften wegen seiner Unterkomplexität und den Möglichkeiten einer relativistischen Werturteilsprägung stark kritisiert und überwiegend abgelehnt wird, dominiert er die sächsische Landschaft seit fast 20 Jahren. Der Begriff zieht sich durch die Berichterstattung in den Medien, durch die Diskussionen unter den Vereinen und Verbänden, durch Förderrichtlinien und Stammtische gleichermaßen. Er vereinfacht. Das erleichtert unter Umständen Verständigungen, zumeist verwischt er aber Probleme, überdeckt präzise Analysen, verhindert genaues Handeln, wird er zum Kampfbegriff instrumentalisiert.
Praktische Folgen
Um den «Extremisten» in Sachsen enge Grenzen zu setzen, vereinbarte bspw. die neue CDU-FDP-Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag das Versammlungsgesetz in Sachsen empfindlich einzuschränken. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung solle «gegen die Extremisten von links und rechts» verteidigt werden. Gemeint sind die nazistischen Demonstrationen in Leipzig (vor allem um den 1. Mai) und Dresden (vor allem um den 13. Februar) und die Gegenkundgebungen und Versuche, diese Naziaufmärsche zu behindern oder zu verhindern. Das neue sächsische Versammlungsgesetz ist dabei nur ein aktuelles Bespiel für die praktischen Folgen eines Extremismusbegriffes, der aus dem Vokabular staatlicher Verfolgungsbehörden eins zu eins in die politische Praxis übernommen wurde.
Von äußeren Rändern kann keine Rede sein
Extremismus, «das Äußerste», «das Entfernteste» oder «das Ärgste» - wenn wir den lateinischen Superlativ extremus wörtlich nehmen - soll eine Abgrenzung der Gesellschaft von denjenigen ermöglichen, die den demokratischen Verfassungsstaat fundamental ablehnen. Die Einteilungen der Welt in eine gute, demokratische Mitte, die von diesen - weit entfernten - rechten und linken Rändern bedroht wird, unterschlägt, dass die gewalttätigen und gewaltbereiten Nazis in Parteien und Organisationen auf Unterstützung und Zustimmung bauen können, die sich aus gruppenfeindlichen Einstellungen speist. Diese antidemokratischen, «fremden»feindlichen, rassistischen, antisemitischen, frauenfeindlichen, homophoben, sozialdarwinistischen, nationalistischen, geschichtsrevisionistischen Einstellungen stellen die eigentliche Gefährdung für die demokratische Kultur und Verfasstheit in der heutigen Bundesrepublik Deutschland dar und sie sind weit in der Gesellschaft verbreitet. Von äußeren Rändern kann keine Rede sein. Darüber hinaus ist der Extremismusansatz dazu geeignet, junge Menschen, die sich gegen neonazistische Strukturen z.B. in Form antifaschistischer Initiativen organisieren, pauschal zu kriminalisieren und mit den Neonazis gleichzusetzen, wie Miro Jennerjahn, Politikwissenschaftler und Landtagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen in seinem Statement aus politischer Sicht deutlich machte.
Von Friedemann Bringt
Foto: lotta@eu.de