Nach den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda Anfang der 90er Jahre verkündete die damalige Jugendministerin Angela Merkel ein Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, das dieses „Jugendproblem“ beseitigen sollte. Damals ging man von der Annahme aus, dass Jugendliche nach der Wende vor allem unter Orientierungslosigkeit leiden und deshalb möglichst viele Jugendclubs benötigen.Ein Kommentar von Anetta Kahane.
„Glatzenpflege auf Staatskosten“
Der Aufbau dieser Jugendeinrichtungen fand meist ohne Fachpersonal statt, das in der Lage gewesen wäre, den vielfach rechtsextremen Charakter der Jugendkultur zu erkennen. So kam es in vielen Orten zu dem, was Kritiker „Glatzenpflege auf Staatskosten“ nannten: Rechtsextreme nutzten mit wachsendem Erfolg die Gelegenheit, sich dort einzurichten und zu organisieren. Dennoch wurde dieser Kurs nicht korrigiert, denn das Konzept der offenen Jugendarbeit aus dem Westen galt als heilig und heilsam für „verwirrte“ Jugendliche. Dass viele Jugendliche dabei erst den extrem rechten Weg fanden, wurde verleugnet. Erst als es mit der Jahrtausendwende zu einigen Aufsehen erregenden Morden kam, konnte unter erheblichem Druck ein Paradigmenwechsel unter rot-grün vollzogen werden. Die neuen Programme benannten das Problem Rechtsextremismus und wandten sich nun denjenigen vor Ort zu, die für eine Demokratisierung der Alltagskultur sorgen konnten.
Extremismus ist immer ideologisch
Nun gibt es eine neue Regierung, die gegen alle Formen von Extremismus antreten will. Politisch wäre dagegen nichts zu sagen, wenn es sich dabei um den Kern des Problems handeln würde. Doch das ist es nicht, sondern eine eher oberflächliche Beschreibung unterschiedlicher Phänomene, deren Bekämpfung auch unterschiedlicher Methodik und Formen bedarf. Dabei geht es um die Frage, was Extremismus eigentlich impliziert. Die Antwort: Extremismus ist immer ideologisch und leugnet je nach seiner Art die Gleichwertigkeit der Individuen. Er ist immer verbunden mit Hass auf Gruppen, er stellt die eigene „Wahrheit“ als das unanfechtbar Bessere, Höhere, Wertvollere dar, das somit die Abwertung anderer einer Auseinandersetzung von Inhalten und Haltungen vorzieht. Das, in der Tat, gilt für alle Extremisten, sonst wären sie ja keine.
Paradigmenwechsel zur Gleichwertigkeit
Also sollte die Reaktion auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eine Landschaft von Ideen und Projekten zu Gleichwertigkeit sein, die für alle zu gelten hat. Auch für Extremisten. Danach dürften durch Islamisten Frauen oder Juden ebenso wenig abgewertet werden, wie Einwanderer oder schwarze Deutsche durch Nazis oder aber auch Israelis und „Bonzen“ durch Linksradikale. Die Überschneidungsmengen der Feindgruppen sind dabei hoch und Ziel bleibt die Abschaffung des demokratischen Rechtsstaates. Hier liegt der Kern des Extremismus: Er bestreitet die Grundlage der Demokratie, nach der jeder einzelne Mensch gleich viel wert ist. Will die Regierung neue Programme, kann sie hier den Paradigmenwechsel ansetzen: Alle sind gleichwertig. Auch Migranten, auch Frauen, auch Homosexuelle, selbst Obdachlose. Die Amadeu Antonio Stiftung hat Dank der Spenden und Zuwendungen aus privaten Mitteln hier schon erfolgreich Modelle entwickelt und angewendet. Ein Beispiel dafür ist der Verbund „Living Equality“. Die Bundesregierung sollte die Förderung der demokratischen Kultur aufrechterhalten und sie nicht nach totalitarismustheoretischen Kriterien sortieren, sondern mit tatsächlichen Gleichwertigkeitsmodellen anreichern. Das wäre demokratisch, angemessen und für die Bundesrepublik revolutionär zugleich.
Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung