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„Die Polizeizahlen nicht verabsolutieren“

Die öffentliche Diskussion um politische Gewalt verdichtet sich stets bei den jährlichen Veröffentlichungen der Polizei oder des Verfassungsschutzes. Doch was verraten die Statistiken der Polizei? Und was nicht? Darüber sprach die Mut-Redaktion mit Dr. Michael Kohlstruck.

Mut: Sie bezeichnen die polizeistatistischen Kategorien als Konstruktion. Was genau meinen Sie damit?

Kohlstruck: Ich sehe, dass in der öffentlichen und medialen Debatte der Fokus vor allem auf den Kategorien „linke“ und „rechte Gewalt“ liegt. Leider werden sie unhinterfragt verwendet. Man muss sich aber genauer anschauen, was gemeint ist. Die polizeistatistischen Kategorien sind keine strafrechtlichen, sondern statistische. Sie sind so nicht im Strafgesetzbuch festgelegt. Sie geben für die Ermittlungen der Polizei gewisse Anhaltspunkte, bilden aber nicht die volle Wirklichkeit ab. Das nennt man dann in der Sozialwissenschaft „Konstruktion“. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass die Kategorien ihre Tücken haben und man deshalb aufpassen muss, wie man damit hantiert.

Mut: Was sagen die Kategorien „rechte“ und „linke Gewalt“ aus? Auf welcher Datenbasis werden Taten zugeordnet?

Kohlstruck: „Rechte“ und „linke Gewalt“ sind polizeistatistische Kategorien. Sie geben an, was der Polizei durch eigene Ermittlungen oder durch Anzeigen bekannt geworden ist. Damit bilden sie ein Hellfeld ab. Wo es ein Hellfeld gibt, gibt es aber auch ein Dunkelfeld. Das ist in dieser Statistik nicht dabei. Sie umfasst bestimmte Straftatbestände. Das sind verschiedene Delikte, vor allem Gewaltdelikte. Die Zuordnung von rechts und links unternimmt die Polizei auf Basis ihrer Ermittlung. Die Staatsanwaltschaft hat hier noch keine Anklage erhoben. Vor Gericht hat die Zuordnung der Polizei zu links oder rechts nicht unbedingt Bestand. Die gerichtliche Entscheidung ist aber das rechtsstaatlich Relevante. So wird zum Beispiel in der Broschüre des Berliner Verfassungsschutzes zu „linker Gewalt“ ein Fall angeführt, bei dem zwei junge Männer auf einer Demonstration einen Brandsatz geworfen haben sollen. In der erstinstanzlichen Gerichtsentscheidung sind die beiden aber freigesprochen worden. Es hätte in der Broschüre erwähnt werden müssen, dass der Fall noch nicht gerichtlich abgeschlossen ist.

Mut: Wo sollen die Unterschiede zu extremistischer Gewalt liegen?

Kohlstruck: Bisher sprach ich von den statistischen Daten der Polizei. „Extremistische Gewalt“ ist ein Begriff des Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz ist zuständig für extremistische Bestrebungen. Das sind Bestrebungen, die auf die Änderung der politisch-rechtlichen Grundordnung des Staates zielen – also auf den Kernbestand des Systems. „Extremistische Gewalt“ ist damit eine Unterkategorie der politischen Gewalt und die Zahlen naturgemäß kleiner. Der Verfassungsschutz trifft diese Zuordnung selbst. Auch diese muss man in Frage stellen – sind nicht immer klar. Zum Beispiel die Taten, die dem „Linksextremismus“ zugeordnet werden. Sie passieren oftmals aus Demonstrationen heraus, sind aber nicht darauf gerichtet, die politisch-rechtliche Grundordnung zu verändern. Gewalt braucht man deshalb nicht aus dem Blick geraten zu lassen. Themen dieser Demonstrationen sind aber Stadtumstrukturierung oder Umweltpolitik und Ähnliches. Sie fordern aber beispielsweise kein Rätesystem oder die Diktatur des Proletariats. Sie sind radikale Protestaktionen gegen eine bestimmte Politik, nicht gegen die demokratische Verfassung.

Mut: Lässt sich mit einem links-rechts-Schema eigentlich Realität erfassen?

Kohlstruck: In den Kategorien der Polizei, bei der „Politisch motivierten Kriminalität“, wird das links-rechts-Schema verwendet. Es ist das schlichteste Schema. Einfach entweder oder. Die Verwendung ist auch in Ordnung. In der Öffentlichkeit operieren viele damit. Diese Einteilung hat einen Erfahrungshintergrund und wird verstanden. Bei politischen Gewalttaten werden damit gruppenfeindliche Taten erfasst – also links gegen rechts. Das Problem ist nun, dass Gruppenfeindschaften viel heterogener sind, je differenzierter die Gesellschaft ist. In Berlin, im Ruhrgebiet oder in Hamburg bildet links-rechts kein erschöpfendes Schema. Da gibt es Antiantifa gegen Antifa oder Türken gegen Kurden und vieles mehr. Mein Einwand ist, dass mit dem schlichten Schema die Heterogenität nicht abgebildet werden kann. Oft gibt es auch nicht nur politische Motive. Es kann Aggression sein oder männliche Selbstdarstellung. Das ist keine Verharmlosung. Es muss politisch behandelt werden, wie man mit diesen Gruppenfeindschaften umgeht, aber sie selbst haben nicht unbedingt politische Motive. Links-rechts ist eben kein Generalschlüssel.

Mut: Wie aussagekräftig sind also die Polizeistatistiken?

Kohlstruck: Genau genommen zeigen sie eben nur die Ermittlungsarbeit der Polizei. Doch damit wird eine Deutungsrealität geschaffen. In der wissenschaftlichen Diskussion weiß man, dass die Polizeistatistik nicht ausreicht. Man muss sie mit sozialwissenschaftlichen Studien in Beziehung setzen. Man braucht die kriminologische Relation von Hell- und Dunkelfeld. Bei linker Gewalt gibt es wenige Studien. Es ist eine Wissenslücke. Vor allem aber sollte man die Zahlen der Polizei nicht verabsolutieren.

Mut: Welche Rolle übernehmen Verfassungsschutzbehörden bei gesellschaftlichen Diskussionen über „politisch motivierte Kriminalität“?

Kohlstruck: Der Berliner Verfassungsschutz hat sich um die Veröffentlichung der Polizeistatistik gekümmert. Das sind die Broschüren zu „linker“ und „rechter Gewalt“. Der Verfassungsschutz ist aber für Anderes zuständig. Einige Verfassungsschutzbehörden, zum Beispiel in Berlin und Nordrhein-Westfalen, bringen sich stärker in öffentliche Debatten ein. Das kollidiert mit ihrem gesetzlichen Auftrag. Sie sollen für die Exekutive, also für die Regierung, und auch für die Öffentlichkeit Informationen liefern. Doch nun machen sie beispielsweise Planspiele an Schulen oder auch Comics als Lehrmaterialien. Diese Jugendarbeit ist nicht Auftrag des Verfassungsschutzes und wurde nie öffentlich diskutiert. Man muss auch sagen, dass mehrere verantwortlich sind für diese Situation. Jahrelang informierte der Verfassungsschutz über Rechtsextremismus und zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer waren froh, wenn sie den Stoff nicht selbst vorbereiten mussten. Aber trotzdem bewegt sich diese Tätigkeit des Verfassungsschutzes über seine gesetzlich formulierte Aufgabe hinaus.

Mut: Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Nora Winter.
Foto: Dieter Weinelt via Flickr, cc
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Dr. Michael Kohlstruck leitet die 1999 eingerichtete Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus am Institut für Antisemitismusforschung in Berlin. Er publiziert zu den Themen Rechtsextremismus, Gewalt, Antisemitismus und Erinnerungspolitik.
 

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