Die Verkleidungstheorie geht davon aus, dass es gute Ideologien oder positive, symbolische Kleidungsstile gibt, die von Nazis benutzt und so gewissermaßen auch "geschändet" werden. Die unterstellte Absicht der Nazis ist demnach die Camouflage, durch die Unwissende und Unschuldige ahnungslos in eine Falle gelockt und dann heimtückisch mit vermeintlich "guten", aber von den Nazis "missbrauchten" Themen manipuliert werden.
Solche Themen sind beispielsweise Kapitalismus, Imperialismus, Globalisierung, Migration, Umweltverschmutzung, aber auch Armut, soziale Schere, Arbeitslosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Politik. Richtig, werden Sie denken, das sind die Probleme unserer Zeit. Aber stimmt es auch, dass die Nazis diese Dinge lediglich zum Schein auf ihre Agenda setzen, in Wirklichkeit aber ... Ja, was? Was ist die Wirklichkeit der Nazi-Ideologie? Meinen sie eigentlich etwas anderes? Können sich Nazis links anziehen? Können sie linke Ideen stehlen, wie oft behauptet wird? Nur um damit am sozialen Gewissen, am Gerechtigkeitssinn der Menschen anzudocken? Wird hier das Gute für etwas Böses missbraucht? Ist dies der Grund, weshalb sich so viele gegenüber den Darlegungsstrategien der Nazis hilflos fühlen, trotz des vielleicht bereits absolvierten Argumentationstrainings? Die Medien sind doch voll von diesen Themen und viele Kommentare sind heutzutage voller Kritik gegenüber Kapitalismus, Globalisierung, Migration und Umweltfragen. Was früher als ausschließlich links galt, wird heute im Mainstream diskutiert. Was also sind "echte" rechtsextreme Themen? Und wie sieht der "wahre" Nazi aus? Ich denke, die Suche nach dem Wahren und Echten ist vergebliche Augenauswischerei. Es gibt sie nicht, die reinen, unverstellten Nazis. Sie sind, wie sie eben sind: Kleinbürger in Nadelstreifen oder Autonome, Dummköpfe und Intellektuelle, Naturfreunde und Heimatschützer - und sie verstellen sich nicht. Auch die Nazis haben ein breites Spektrum entwickelt und auch sie haben ihre Lieblingsthemen und ganz speziellen Ausdrucksformen. Konservativ oder revolutionär, sozialistisch allemal und natürlich national, ernähren sie sich von den aktuellen Theorien unserer Zeit und dem Glauben an Ideologien schlechthin.
Nichts ist falsch daran, sich gegen soziale Missstände zu wenden oder sich Gedanken zu machen über die Folgen der Globalisierung. Doch wird allzu oft gerade bei denjenigen, die darüber klagen, dass ihre Ideen von den Nazis in Betrugsabsicht gestohlen wurden, nicht auch Ideologie betrieben? Die Besitzer von Ideologien wähnen sich immer besser und mehr im Recht als andere. Und der Schritt von dort hin zu einer Haltung, die sich über andere Menschen hinwegsetzt oder sie ausgrenzt, ist nicht so furchtbar weit. Gewiss macht es einen Unterschied, ob die jeweilige Ideologie von vorn herein Menschen wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion als minderwertig betrachtet oder als ungleichwertig, und genau das tun alle Nazis, ganz unabhängig von ihrem jeweiligen Hobby oder Lieblingsthema. Und dennoch ist ihnen das Herumhopsen auf verschiedenen Ideologien deshalb möglich, weil Ideologien immer und zu jedem Gegenstand generalisierend, missionarisch, herablassend, abwertend und ausgrenzend sind. Deshalb übersehen Anhänger von Ideologien auch oft, wenn sich ihnen Nazis anschließen, denn der ideologische Gegner scheint allemal bedrohlicher, also wichtiger als ein Rassist oder Antisemit in den eigenen Reihen. Nein, die Nazis schleichen sich nicht ein; vielmehr leben sie von ideologischer Borniertheit, von Bigotterie und von der Idee, etwas Besseres zu sein, und das finden wir heute bedauerlicherweise an vielen Stellen.
Haltungen sind etwas ganz anderes als Ideologien, vor allem solche, die sich ganz selbstverständlich gegen Abwertungen anderer wenden. Man kann sie nicht erzwingen, aber man kann Menschen ermutigen, sie zu zeigen. Mir kommt beispielsweise selbst der malerischste Ort hässlich vor, wenn ich weiß, dass ich dorthin mit meinen schwarzen Freunden nicht gehen kann, und selbst der netteste Gesprächspartner wird mir in dem Moment zuwider, wenn er diese Freunde mies oder taktlos behandelt. Oder wenn er generell über Kapitalisten herzieht oder über alle Politiker oder Journalisten, über Schwule oder Frauen, über Arbeitslose oder über Amerikaner, über Atheisten oder Religiöse, weil irgendetwas davon meine Freunde genauso gut ausschließen könnte. Die Wissenschaftler nennen das gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Bald sind wieder Wahlen: Kommunalwahlen in Brandenburg und nächstes Jahr Landtagswahlen in Thüringen. Die Amadeu Antonio Stiftung wird sich im Vorfeld der Wahlen besonders in diesen Regionen bemühen, mit ihren vielen kleinen und größeren Projekten zu jener Art von Haltung zu ermutigen, die bei aller Verschiedenheit der Ansichten in den Fragen unserer Zeit eines sonnenklar macht: Hier und mit uns wird niemand und unter keinen Umständen als minderwertig behandelt. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir uns bewegen und der wichtigste und menschlichste Kern unserer Arbeit. Und genau dies ist das ganze Geheimnis der verschiedenen Strömungen des modernen Rechtsextremismus: Er mag sich um viele Themen der Zeit kümmern und meint es auch so, doch sein Menschenbild schließt am Ende eine Haltung der Gleichwertigkeit aller grundsätzlich aus. Achten Sie also darauf, denn hier Haltung zu zeigen ist ansteckend.
Quelle: Newsletter der Amadeu Antonio Stiftung Juli/2008
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Foto: Kulick