Im Juli 2008 beschlagnahmtes Propagandamaterial bei nordhessischen Neonazis.
Der Sozialpädagoge Christopher Vogel hat in Kassel 2003 den Verein 'Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus' mitbegründet. Das MBT Hessen war damals die erste Initiative in Westdeutschland, die sich explizit auf den Ansatz mobiler Beratung bezog, wie er zuvor nur in Ostdeutschland praktiziert wurde. Wie wichtig es ist, von den Erfahrungen aus Ostdeutschland zu profitieren und Konzepte gegen Rechtsextremismus auf Westdeutschland zu übertragen, zeigen nicht zuletzt die Ereignisse vom 20. Juli 2008, als Neonazis aus Nordhessen ein alternatives Feriencamp überfielen und ein 13-jähriges Mädchen schwer verletzten.MUT: Herr Vogel, was treibt Ihrer Meinung nach Jugendliche dazu, in derart geplanten Aktionen und mit äußerster Brutalität gegen Menschen anderer politischer Einstellung oder ethnischer Herkunft vorzugehen?
VOGEL: Wie die Leute dazu kommen, kann ich allgemein nicht abschließend beantworten. Im Schwalm-Eder-Kreis wurde es wohl als Provokation angesehen, dass die Linksparteijugend dort öffentlich Flagge zeigte und am Tag vor dem Angriff eine Demonstration gegen Rechtsextremismus mit etwa 200 TeilnehmerInnen in Schwalmstadt durchgeführt hatte. Da geht es darum zu zeigen, wer in diesem Landstrich das Sagen hat. politische Gegner und "Ausländer" bieten sich aus dieser Sicht als Angriffsziele an, weil sie zum einen als "natürliche Feinde" gesehen werden und zudem darauf spekuliert werden kann, dass es in der Bevölkerung Sympathien gibt, wenn man diese angreift. In diesem konkreten Fall geht das, denke ich, nach hinten los, weil ein 13 jähriges Mädchen nur schwer als "asoziale Zecke" hingestellt werden kann.
MUT: Wie stark ist denn die rechtsextreme Szene in Hessen oder speziell in Nordhessen, wo der Angriff stattgefunden hat?
VOGEL: Die Szene in Hessen lässt sich sicherlich nicht mit Ostdeutschland vergleichen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass nun einige Kader verkündet haben, nach Mecklenburg-Vorpommern umziehen zu wollen. Aber es gibt auf lokaler Ebene starke rechtsextreme Szenen, die sehr offensiv auftreten. Der Schwalm-Eder Kreis mag bundesweit in der Szene keine Bedeutung haben, aber vor Ort kann es sehr unangenehm sein, sich gegen rechts zu positionieren.
MUT: Es gibt also auch in Nordhessen bereits Gegenden, in denen es den Rechtsextremen gelungen ist, das Stadtbild zu bestimmen und den politischen Gegner einzuschüchtern? Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im hessischen Landtag, Tarek Al-Wazir, spricht ja sogar von sogenannten „Schwarzen Listen“.
VOGEL: Es gibt diese Schwarzen Listen tatsächlich, aber was daraus folgt, ist nicht immer klar. Es werden vor allem Informationen über politische Gegner gesammelt und zwar oft so, dass diese das mitbekommen. Das reicht von Einschüchterungsmails/-SMS bis hin zu körperlichen Attacken. Es gibt einzelne Ortschaften wo ich nicht in einem bestimmten Outfit rumlaufen würde und es gibt Kirmes-Veranstaltungen, wo Nazis sehr massiv auftreten. Die sogenannten „Freien Kräfte“ haben in den letzten Monaten anscheinend Aufwind bekommen und treten sehr offensiv auf. Allerdings muss man abwarten, wie es auf sie zurückfällt, dass einer von ihnen ein 13-jähriges Mädchen fast tot geschlagen hat...
MUT: ...deshalb hat sich wohl die rechtsextreme Internetplattform ‚media-pro-patria" zumindest vordergründig von der Gewalttat distanziert. Der Täter hatte dort in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen NPD-Vorsitzenden von Hessen immer wieder Videos mit rechtsextremer Botschaft platziert, die "Deutschland den Krieg" erklärten. Inwieweit sind eigentlich in Hessen solche Zirkel, Kameradschaften und die NPD miteinander verzahnt - ist das ähnlich wie in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, wo viele Stützpunkte der JN identisch sind mit denen von rechten Kameradschaften?
VOGEL: In Hessen stammt der gerade zurückgetretene Landesvorsitzende aus dem Umfeld der Kameradschaften, der Täter aus Schwalmstadt ebenso. Auf der anderen Seite sitzen noch einige ziemlich alte Leutchen rum, die die Jungen unterstützen. Die NPD ist in Hessen relativ schwach, insofern ist das in keiner Weise mit Sachsen zu vergleichen. Bei der letzten Landtagswahl hat es noch nicht mal für die Wahlkampfkostenrückerstattung gereicht.
Christopher Vogel vom MBT Hessen.
MUT: Was halten Sie von der Aussage der hessischen Landesregierung, dass der Rechtsextremismus in Hessen bereits wirkungsvoll bekämpft wird und unter dem Bundesdurchschnitt liege?
VOGEL: Nicht viel. Allein die Zahlen zu rechtsextremen Straftaten scheinen uns doch sehr niedrig angesetzt. Und mit der sogenannten Extremismustheorie hat noch niemand wirkungsvoll rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung allgemein bekämpft.
MUT: Sie sprechen von der Extremismustheorie, also der im bürgerlichen Lager verbreiteten Gleichsetzung von linken und rechten Extremismus. Die CDU in Hessen ist in den letzten Landtagswahlkämpfen auch immer wieder mit populistischen, fremdenfeindlichen Positionen auf Stimmenfang gegangen. Ich erinnere nur an die Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder im letzten Jahr das Thema Jugenkriminalität. Kann von dieser Partei überhaupt ein glaubwürdiges Vorgehen gegen den Rechtsextremismus erwartet werden?
VOGEL: Natürlich ist es ein Problem, wenn die CDU glaubt, Landtagswahlkämpfe mit dem Thema "Ausländer" zu gewinnen. Es ist auch nicht hilfreich, wenn sie von "Wir sind gegen jede Form von Extremismus - egal ob von rechts oder links" redet, wenn es z.B. im Schwalm-Eder-Kreis ein eindeutiges Rechtsextremismusproblem gibt. Andererseits ist es auch so, dass die ehemalige CDU-Landesregierung dafür gesorgt hat, dass Hessen als einer der ersten Bundesländer in Westdeutschland am bundesweiten Programm "Jugend für Vielfalt und Toleranz" teilnimmt. Im Schwalm-Eder-Kreis regiert zudem die SPD. Aber es ist natürlich so, dass Rechtsextremismus kein Jugendproblem ist, sondern auf Unterstützung (wenn auch manchmal nur klammheimlich) in der Gesellschaft zählen kann. Das ist hier so, das ist überall so.
MUT: Wenn Fremdenfeindlichkeit also ein Problem ist, das tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, wie sinnvoll sind dann die Forderungen der hessischen Grünen, zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, insbesondere die Polizeiarbeit effizienter zu gestalten, z.B. durch gezielte Schulungen oder eine zentralen Koordinationsstelle in der Staatkanzlei?
VOGEL: Das sind sicherlich Möglichkeiten. Es darf nicht vorkommen, dass z.B. eine Demonstration gegen rechts von Nazis angegriffen wird und die Polizei in einer ersten Pressemitteilung verkündet, es hätte Auseinandersetzungen in der Demo gegeben, so wie das am Samstag vor dem Übergriff in Schwalmstadt passiert ist. Es kommt immer wieder dazu, dass rechtsextreme Straftaten nicht als solche wahrgenommen werden. Polizeiliche Maßnahmen sind aber natürlich nur die letzte Maßnahme, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen, also eine Straftat begangen ist.
MUT: Welchen Ansatz verfolgt das MBT Hessen?
VOGEL: Unser Ansatz zielt eher auf die Stärkung des demokratischen Gemeinwesens: Die Zivilgesellschaft soll sich selbst um allgemeine, demokratische Belange kümmern. Ein Schwerpunkt ist da der Schutz von Minderheiten. Dem muss natürlich vorangehen, dass die Unterschiedlichkeit von Menschen respektiert wird. Und das ist eben nicht der Fall, wenn z.B. Wahlkampf gegen Minderheiten geführt wird oder in der Kneipe, im Verein oder auf dem Volksfest gegen "die Ausländer" hergezogen wird oder über Jugendliche die Nase gerümpft wird, die ein bisschen anders rumlaufen, als man sich das vorstellt. Die Bevölkerungsmehrheit muss RechtsextremistInnen glaubhaft klar machen, dass ihre Einstellungen nicht in ihr Gemeinwesen passen, dass es nicht angesagt ist, so rumzulaufen, ein solches Zeug zu reden oder solche Straftaten zu begehen. Dass ist zwar auch Aufgabe von Politik und Polizei, aber Bürgerinnen und Bürger sind da selbst gefragt. Kurz gesagt: In welcher Welt wollen wir leben? Bei der Suche nach Antworten ist das MBT gerne behilflich, darin besteht unser Job.
MUT: Herr Vogel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Christopher Egenberger.
Zum Thema: "Kollateralschaden" - Mehr über den Täter Kevin S. (stern.de 26.7.)
Und: "Über Neonazigewalt in Hessen" (MUT, 22.7.)
Zur Website des MBT Hessen.
Aus Passau: Hakenkreuzfahne exhuminiert (welt.de, 30.7.)
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de