Das Portal
für Engagement
Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Lagerzwang, Residenzpflicht und die permanente Angst vor der Abschiebung: Deutschland macht es Asylbewerbern so schwer wie möglich, sich heimisch zu fühlen. Das Magazin NEON hat vier von ihnen gebeten, ihren Alltag im Tagebuch zu schildern. Hier der zweite Teil mit den Berichten von Patrick Banya und Abdul Uddin.
Zuerst erschienen in NEON 9/2010
Patrick Banya, 27
hat im Bürgerkrieg in Sierra Leone seine Familie verloren. Als sein Arbeitgeber, ein Anwalt und Sprecher der Revolutionary United Front, verhaftet wurde, bekam er Angst und floh nach Deutschland. Seit vier Jahren lebt er im Flüchtlingslager im niederbayerischen Aholfing. Um einkaufen zu können, muss er mit dem Bus ins rund neun Kilometer entfernte Straubing. Der Bus fährt nur fünf Mal am Tag, in den Schulferien nur zwei Mal die Woche, am Wochenende gar nicht.
Protokoll: Alexandra Schulz
3. Mai: Es gab Taschengeld: 40,90 Euro für den Monat. Ich habe Zahnpasta und Waschmittel gebraucht. Eigentlich fahre ich immer mit dem Fahrrad zum Einkaufen nach Straubing, aber es wurde geklaut. Der Bus hat 5 Euro gekostet. Habe jetzt nur noch dreißig Euro.
4. Mai: War in München auf einer Demonstration von Asylbewerbern. Vor allem der Lagerzwang ist schlimm: Wir müssen in diesen abgeschiedenen Heimen leben. Und wir haben Residenzpflicht: Wir dürfen den Landkreis, in dem das Lager steht, nicht verlassen. Werden wir erwischt, riskieren wir die Abschiebung.
10. Mai: Mein Mitbewohner und ich teilen uns ein Zimmer, dreizehn Quadratmeter. Weil es so hässlich ist, haben wir es mit einer afrikanischen Maske und einer Trommel vom Flohmarkt dekoriert. Ansonsten haben wir heute mal wieder Zeit totgeschlagen. Fernsehen, essen, fernsehen. Außer uns beiden leben hier nur Frauen. Ich kann mit denen nicht reden. Nicht über Männersachen.
12. Mai: Ich huste und brauche was für meinen Hals. Hoffentlich kostet die Medizin nicht mehr als fünf Euro.
15. Mai: Habe mir eine Jacke gekauft. Neun Euro. Viel Geld. Wir bekommen Kleidungsgutscheine. 25 Euro für eine Hose, für Unterwäsche 15 Euro. Aber es ist mir peinlich, damit einkaufen zu gehen.
17. Mai: Wollte Freunde im benachbarten Asylantenheim besuchen, aber ohne Fahrrad geht das nicht. Deshalb habe ich das Gleiche gemacht wie gestern: ferngesehen. Dokumentationen mag ich. Da sieht man das richtige Leben in Deutschland. Zu den Leuten im Dorf habe ich keinen Kontakt. Ich bin vier Jahre hier, und die Einzige, die ein Wort mit mir wechselt, ist die Frau im Bierkiosk.
19. Mai: War spazieren. Laufe immer den gleichen Weg ums Dorf. Ich könnte auch auf dem Sofa sitzen bleiben und den Weg im Kopf gehen. Heute habe ich geguckt, ob auf dem Restehof ein Fahrrad steht. Fehlanzeige.
20. Mai: Heute kamen Essenspakete. Dosentomaten, Dosenchampignons, Reis, Huhn, Couscous. Damit kann man immer nur das Gleiche kochen. Manchmal leiste ich mir von meinem Taschengeld ein anderes Hühnchen. Das, was wir bekommen, schmeckt einfach nach gar nichts.
24. Mai: Heute weiß ich nicht mal, ob es warm oder kalt draußen ist. An manchen Tagen verlasse ich mein Zimmer kaum. Ich sitze und denke: Was kommt jetzt? Aber es kommt nichts. Nichts Neues. Nie.
25. Mai: Es gab was zu feiern. Mein Mitbewohner hat ein Dreimonatsvisum bekommen. Meistens werden die Visa immer nur um vier Wochen verlängert. Ich hoffe, das kriege ich auch. Wegen Jobsuche.
26. Mai: Ich muss nach Berlin zur Botschaft, um meinen Pass bestätigen zu lassen. Dafür brauche ich eine Reisegenehmigung. War deshalb heute im Ausländeramt. Die Frau spricht nur Deutsch, kein Englisch, sie sagt: Verstehst du? Ich denke: Wie kann ich verstehen, du bezahlst keinen Deutschkurs. Eigentlich verstehe ich aber ganz gut Deutsch, ich habe eine deutsche Freundin, die mir beim Lernen hilft.
27. Mai: War in Berlin. Der Bekannte, der mich zur Botschaft gebracht hat, erzählte mir, wie er lebt. Ich habe mich gefühlt, als würde er von einem anderen Land sprechen. In Berlin ist vieles besser. Er muss sogar in die Schule, um Deutsch zu lernen.
28. Mai: In der Botschaft hat es lange gedauert. Habe den letzten Zug nach Hause verpasst. Die Übernachtung hat fünfzehn Euro gekostet. Von meinem Taschengeld ist nichts mehr übrig.
1. Juni: Habe die Aufenthaltsgenehmigung für einen Monat bekommen. Bin enttäuscht.
Abdul Uddin, 45
wird in seiner Heimat Bangladesch von islamischen Fundamentalisten verfolgt, seit er sich als Student in einer regimekritischen Jugend- und Theatergruppe engagierte. Im April 2009 beantragte er in Deutschland Asyl. Auf die Entscheidung wartet er in einer Gemeinschaftsunterkunft in einem Waldgebiet in Nordrhein-Westfalen. Die nächste Ortschaft, die 13 000-Einwohner-Gemeinde Welver im Landkreis Soest, ist rund sieben Kilometer entfernt.
Protokoll: Christoph Henn
15. Mai: Wieder kein Brief von der Asylbehörde. War in Hamm, um eine Telefonkarte zu kaufen. Die dreißig Kilometer mit dem Rad haben mich total geschafft, weil es so windig war. Dann ging die Telefonkarte nicht, als ich meinen Bruder in Bangladesch anrufen wollte. Bin traurig und müde.
17. Mai: War bei meinem Ein-Euro-Job an der Grundschule. In der Pause ging ich zur Zahnärztin, weil ich seit Tagen Schmerzen habe. Sie schickte mich zum Sozialamt. Dort erfuhr ich, dass ich erst zu einem Amtsarzt in Soest muss, bevor ich in Welver behandelt werden kann. Ich soll auf einen Brief warten. Habe starke Schmerzen.
18. Mai: War nach der Arbeit in Hamm, um die kaputte Telefonkarte umzutauschen. Bin heute fünfzig Kilometer im Regen Fahrrad gefahren. Hoffentlich kriege ich zu den Zahnschmerzen nicht noch eine
Erkältung.
19. Mai: Endlich ein Brief, aber nicht von der Asylbehörde. Er war auf Deutsch, aber ich habe verstanden, dass es um den Zahnarzttermin in Soest geht. Ich bat per Mail in furchtbarem Deutsch (mit Google übersetzt!), den Termin auf Nachmittag zu verschieben, damit ich vorher zum Ein-Euro-Job in die Grundschule kann, weil ich auf jeden Euro angewiesen bin. Das Amt antwortete, dass man den Termin nicht verschieben kann.
21. Mai: Die Amtszahnärztin in Soest schaute kurz in meinen Mund und sagte, ich soll auf Post für einen Termin in Welver warten. Meine Schmerzen interessieren offenbar keinen – und natürlich auch nicht, dass ich mir nur für den Hinweg ein Zugticket leisten konnte und die zwanzig Kilometer zurück mit dem Rad gefahren bin.
25. Mai: Ich bin pleite. Das Geld vom Sozialamt kommt erst in einer Woche. Die 192 Euro im Monat (plus meist etwa 100 Euro für den Job) reichen mir nie. Ich muss davon die Gebühren für Telefon und Internet zahlen – die einzigen Dinge, die meinem Leben noch Inhalt geben. Dazu natürlich Lebensmittel, Tabak und Busfahrten, wenn das Wetter schlecht ist. Für Notfälle sammle ich meine leeren Flaschen immer bis zum Monatsende. Diesmal brachten sie 10,75 Euro. Habe mir noch einen Zwanziger von einem anderen Bewohner geliehen.
27. Mai: Habe für 3,85 Euro Lotto gespielt. Ich weiß, das ist dumm. Aber ich sehe keine andere Chance, an Geld zu kommen.
30. Mai: Ich möchte wieder arbeiten, früher war ich Händler. Aber eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht. Bewerben darf ich mich, aber wenn ich eine Zusage bekomme, muss ich die Stelle dem Arbeitsamt nennen, das sie dann Deutschen anbietet. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis ohne Schloss. Ich muss wie gelähmt zusehen, wie mein Leben verrinnt. In meiner Heimat will man mich umbringen, aber hier erlebe ich ein langsames Sterben.
4. Juni: Kein Brief, wie immer. Habe das Zimmer im Gebäude gegenüber angeschaut, in das ich bald umziehen muss. Nur zehn Quadratmeter, mich stört aber eher, dass keine Rollläden an den Fenstern sind. Ich habe Angst, dass jemand mein Laptop und Handy stiehlt, abgeschnitten von der Welt hätte mein Leben keinen Sinn mehr.
9. Juni: Habe die Anwältin erreicht. Sie hat auch noch keine Antwort auf die Nachfrage zu meinem Asylantrag.
15. Juni: Endlich hatte ich den Zahnarzttermin. Die Ärztin nahm einen Abdruck, nächste Woche will sie etwas am Zahn machen. Gegen die Schmerzen konnte sie leider nichts tun.
Foto von Patrick Banya (oben): Fritz Beck, c
Foto von Abdul Uddin (unten): Frederike Wetzels, c